LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/4824 15.01.2019 Datum des Originals: 15.01.2019/Ausgegeben: 18.01.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1794 vom 4. Dezember 2018 der Abgeordneten Stefan Kämmerling, Eva-Maria Voigt-Küppers und Karl Schultheis SPD Drucksache 17/4430 Tihange und Doel. Landesregierung weiter tatenlos? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Bei der Produktion von Atomstrom kommen Kräfte zum Einsatz, die – einmal in Gang gesetzt – im Falle eines Unfalls katastrophale Folgen für Mensch und Natur haben können. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist in Deutschland deshalb beschlossene Sache. Gleichwohl leben wir als das am dichtesten besiedelte Bundesland, insbesondere in den Grenzregionen, mit einer ständigen abstrakten Gefahr, hervorgerufen durch die im benachbarten Ausland weiterhin produzierenden Atomkraftwerke. Das Aus für Doel war eigentlich bereits im Jahr 2015 geplant und eigentlich wollte die belgische Regierung bis 2025 gänzlich aus der Kernenergie aussteigen. Die Laufzeit eines Atomkraftwerks in Belgien beträgt eigentlich 40 Jahre. Die Kernkraftwerke mit ihren Reaktoren Doel 1 und Doel 2 und Tihange 1 sind 1975 ans Netz gegangen, sodass sie im Jahre 2015 hätten vom Netz gehen müssen. Im Juni 2015 wurde von der belgischen Regierung dann jedoch per Gesetz die Laufzeit für Doel 1 und Doel 2 um 10 Jahre verlängert (Laufzeitenverlängerungsgesetz). Auch der Betrieb von Tihange 1 wurde per Gesetz um 10 Jahre bis 2025 verlängert. Zwei belgische Umweltverbände erhoben, bezogen auf die Verlängerung der Laufzeit von Doel 1 und Doel 2, Nichtigkeitsklage vor dem belgischen Verfassungsgerichtshof und beriefen sich in ihrer Argumentation darauf, dass die Verlängerung ohne Umweltprüfung oder ein Verfahren unter Beteiligung der Öffentlichkeit erfolgt sei.1 Der belgische Verfassungsgerichtshof musste sich folgerichtig mit der Rechtmäßigkeit des Laufzeitenverlängerungsgesetzes beschäftigen, gab die Entscheidung jedoch schließlich weiter und rief den EuGH an, der sich seit einiger Zeit im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens mit dem Thema beschäftigt. Im Wesentlichen möchte der 1 https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/belgische-akw-doel-1-und-2-eugh-generalanwaeltin-bezweifeltrechtmaessigkeit -der-laufzeitverlaengerung LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/4824 2 belgische Verfassungsgerichtshof wissen, ob die Annahme eines Gesetzes zur Verlängerung des Zeitraums der industriellen Stromerzeugung von Kernkraftwerken eine Prüfung der Umweltauswirkungen und Beteiligung der Öffentlichkeit voraussetzt.2 Ein Urteil des EuGH ist noch nicht ergangen, allerdings wurden am 29.11.2018 die Schlussanträge im Vorabentscheidungsverfahren vorgetragen. Die Generalanwältin beim EuGH bezweifelt darin die Rechtsmäßigkeit der Laufzeitverlängerung. Insbesondere sei sie der Auffassung, Belgien hätte vor der Laufzeitverlängerung per Gesetz eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) oder ein Verfahren unter Beteiligung der Öffentlichkeit durchführen müssen, wie es das Unionsrecht für Projekte bestimmter Größenordnungen verlange. Eine solche Prüfung müsse laut Generalanwältin grundsätzlich vor der Entscheidung über die Verlängerung und nicht erst bei der Genehmigung erfolgen.3 „Insoweit gelangt die Generalanwältin zu dem Ergebnis, dass die UVP-Richtlinie es erlaube, die Verlängerung des Zeitraums der industriellen Stromerzeugung eines Kernkraftwerks von der Verpflichtung zur Prüfung der Umweltauswirkungen auszunehmen, um eine schwere und unmittelbar drohende Gefahr für ein wesentliches Interesse des betroffenen Mitgliedstaats, etwa die Stromversorgungssicherheit oder die Rechtssicherheit, abzuwenden, und die betroffene Öffentlichkeit sowie die Kommission informiert würden. Auf eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung könne hingegen nicht verzichtet werden. Ferner könne das öffentliche Interesse an der Gewährleistung einer Mindestversorgung mit Strom als Grund der öffentlichen Sicherheit und das darüber hinausgehende öffentliche Interesse an Stromversorgungssicherheit als Grund wirtschaftlicher Art im Sinne der Habitatrichtlinie angesehen werden, die die Durchführung eines Projekts trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung rechtfertigen könnten. Es sei allerdings zweifelhaft, ob der Verzicht auf eine Umweltverträglichkeitsprüfung im Ausgangsfall notwendig war.“4 Die Einschätzung der Generalbundesanwältin nun entspricht dem Stellenwert eines Rechtsgutachten, das Grundlage für die Entscheidung der Richter des EuGH in den nächsten Wochen und Monaten sein wird und ist folglich als Entscheidungsvorschlag zu verstehen. Im Ergebnis könnte die Entscheidung des EuGH, je nach Rechtsauffassung des Gerichtshofs, bedeuten, dass die Laufzeitverlängerung von Doel 1 und Doel 2 unrechtmäßig beschlossen wurde, oder wie man auch sagen könnte: Die Laufzeitverlängerung wäre illegal erfolgt. Der Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie hat die Kleine Anfrage 1794 mit Schreiben vom 15. Januar 2019 im Einvernehmen mit der Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz und dem Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales namens der Landesregierung beantwortet. 1. Wie bewertet die Landesregierung die neueste Entwicklung am EuGH zu den Kernreaktoren Doel 1 und Doel 2, auch mit Hinblick auf andere Kernreaktoren in Belgien, deren Laufzeit verlängert wurde (Tihange1) oder deren Verlängerung aktuell zur Diskussion steht (Tihange 2 und Doel 3)? 2 https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2018-11/cp180186de.pdf 3 https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/belgische-akw-doel-1-und-2-eugh-generalanwaeltin-bezweifeltrechtmaessigkeit -der-laufzeitverlaengerung 4 https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2018-11/cp180186de.pdf LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/4824 3 Da es sich hier um ein noch nicht abgeschlossenes Verfahren handelt, wird die Landesregierung dazu keine Bewertung abgeben. Das Urteil des EuGH bleibt abzuwarten. Die Landesregierung hat sich wiederholt gegen Laufzeitverlängerungen der belgischen Kernkraftwerke und für ein sofortiges und endgültiges Abschalten von vergleichsweise alten und störanfälligen Reaktoren ausgesprochen. 2. Wie steht die Landesregierung zur Nichtdurchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung oder Beteiligung der Öffentlichkeit, insbesondere der grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung, vor der Verlängerung von AKW-Laufzeiten in Belgien? Es wird auf die Antwort zur Frage 1 verwiesen. Darüber hinaus hat die Landesregierung zusammen mit Rheinland-Pfalz am 8. März 2016 Beschwerde gegen die ohne eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung genehmigte Laufzeitverlängerung der belgischen Kernkraftwerke Doel 1, Doel 2 und Tihange 1 beim Sekretariat der Espoo- Konvention eingelegt. Hierzu steht ein Ergebnis noch aus. 3. Wie gedenkt die Landesregierung, auch auf Grundlage der neuesten Erkenntnisse am EuGH, tätig zu werden und auf Abschaltung von Doel und Tihange zu drängen? Es wird auf die Antwort zur Frage 1 verwiesen. 4. Will die Landesregierung diese neue Entwicklung dazu nutzen, in einen Dialog mit den Belgiern zu treten, um Belgien durch die schnelle Belieferung mit Strom aus NRW von der aktuell bestehenden Rechtsunsicherheit zu befreien, damit – unabhängig von Urteilen des EuGH – bestehende AKW´s schneller vom Netz genommen werden können? Die Landesregierung befindet sich bereits in einem solchen Austausch mit Belgien und unterstützt die Verstärkung und den Ausbau grenzüberschreitender Stromnetze, um die Versorgungssicherheit in den betroffenen Regionen auch nach einem Abschalten der belgischen Reaktoren aufrechtzuerhalten. Für den ungefähr 100 km langen Neubau einer 320 kV-Gleichstromverbindung vom Kreis Düren nach Belgien – das Projekt ALEGrO - wurde am 17. Oktober 2018 der Planfeststellungsbeschluss von der Bezirksregierung Köln erlassen. Die Arbeiten haben bereits im Oktober 2018 begonnen. Darüber hinaus hat die Bundesnetzagentur den Bedarf für eine zweite Leitung bestätigt. 5. Wie beteiligt sich die Landesregierung aktuell konkret an der Abschaltung von Atomkraftwerken im benachbarten Ausland? Bezüglich der Aktivitäten der Landesregierung wird auf die Antwort der Landesregierung zur Kleinen Anfrage 1777 verwiesen.