LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/4866 18.01.2019 Datum des Originals: 17.01.2019/Ausgegeben: 23.01.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1857 vom 19. Dezember 2018 des Abgeordneten Stefan Engstfeld BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/4648 Täter-Opfer-Ausgleich in Nordrhein-Westfalen Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Der Täter-Opfer-Ausgleich ist die in Deutschland meist eingesetzte Restorative-Justice- Maßnahme. Er ermöglicht eine außergerichtliche Konfliktschlichtung, bei der Täterin oder Täter und Opfer die Möglichkeit haben, ihren Konflikt selbstverantwortlich mit Unterstützung einer Mediatorin oder eines Mediators zu klären. Dabei bietet die Maßnahme für Opfer sowie für Täterin oder Täter insbesondere die Möglichkeit einer schnelleren Wiedergutmachung und einer besseren Tatverarbeitung durch professionell begleitete Gespräche. Für die Täterin oder den Täter bietet der Täter-Opfer-Ausgleich darüber hinaus auch die Möglichkeit einer Strafmilderung. Der Täter-Opfer-Ausgleich soll Täterinnen und Täter in die Verantwortung nehmen, den Opfern Hilfe bieten und dazu beitragen, den sozialen Frieden, der durch die Straftat aus dem Gleichgewicht geraten ist, wiederherzustellen. Trotz dieser wichtigen Aufgaben des Täter-Opfer-Ausgleichs sollen die Fallzahlen in den letzten Jahren aber deutschlandweit rückläufig sein. Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 1857 mit Schreiben vom 17. Januar 2019 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern beantwortet. 1. Welche Restorative-Justice-Maßnahmen werden in Nordrhein-Westfalen angeboten? Bezogen auf das Strafverfahren handelt es sich bei „Restorative-Justice“ nach einer Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats vom 3. Oktober 2018 (CM/Rec(2018)8) grundsätzlich um einen Prozess, der es dem Opfer einer Straftat und dem Beschuldigten ermöglicht, freiwillig und aktiv unter Zuhilfenahme eines „geschulten und unparteiischen Dritten“ zu einer Lösung des Konflikts sowie damit zu einer Wiedergutmachung zu gelangen (Abschnitt II, Ziffer 3 der Empfehlung), wobei es des unmittelbaren Dialogs zwischen den Beteiligten nicht zwingend bedarf (Abschnitt II, Ziffer 4 der Empfehlung). LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/4866 2 Von diesem - engen, da grundsätzlich eine aktive Mitwirkung sowohl von Tatopfer als auch des Beschuldigten voraussetzenden - Begriffsverständnis ausgehend werden in Nordrhein- Westfalen sowohl der Täter-Opfer-Ausgleich gemäß § 46a Nr. 1 StGB, §§ 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, 155a, 155b StPO als auch das gemäß § 380 StPO in bestimmten Fällen einer Privatklage vorgeschaltete Schlichtungsverfahren (Sühneversuch) gemäß §§ 34 ff. Schiedsamtsgesetz Nordrhein-Westfalen angeboten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht für einen Täter-Opfer- Ausgleich nach § 46a Nr. 1 StGB ein kommunikativer Prozess zwischen Täter und Opfer, der die Einschaltung eines unparteiischen Dritten nicht notwendigerweise erfordert. Vielmehr erkennt der Bundesgerichtshof sämtliche Formen des Tatfol-genausgleichs zwischen geschädigter und verantwortlicher Person als Täter-Opfer-Ausgleich an, die auf einem kommunikativen Prozess beruhen und zu einer Vereinbarung über Wiedergutmachungsleistung führen (BGHSt 48, 134 (139)). Aufgrund ihrer grundsätzlich auf eine Schadenswiedergutmachung gerichteten Wirkung dürften daher darüber hinaus auch folgende - strafprozessuale und somit auch in Nordrhein- Westfalen praktizierte - Instrumente zumindest Ansätze von „Restorative Justice“ im weiteren Sinne aufweisen: • Einstellung des Ermittlungs- bzw. Strafverfahrens gegen die Auflage, zur Wiedergutmachung des durch die Tat verursachten Schadens eine bestimmte Leistung zu erbringen (§ 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StPO), • Erteilung der Auflage an den Täter im Zuge der Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung, den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen (§ 56b Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB), • das Adhäsionsverfahren gemäß §§ 403 ff. StPO, das es dem Verletzten einer Straftat ermöglicht, seinen aus der Straftat gegen den Täter erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruch im Strafverfahren geltend zu machen, • Maßnahmen der Vermögensabschöpfung mit dem Ziel der Opferentschädigung gemäß §§ 73 ff. StGB und • Gewährung von Zahlungserleichterungen bei Geldstrafen nach § 42 StGB i. V. m. § 459a StPO. Darüber hinaus beinhaltet die in den Vollzugsgesetzen des Landes Nordrhein-Westfalen kodifizierte opferbezogene Gestaltung des Vollzuges Elemente des Täter-Opfer-Ausgleichs. Gemäß § 7 Abs. 2 Satz 3 StVollzG NRW sind Gefangene dabei zu unterstützen, den verursachten materiellen und immateriellen Schaden auszugleichen. Sie werden dabei von den in den Anstalten berufenen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern für Opferbelange unterstützt. Zudem wird in der Justizvollzugsanstalt Schwerte seit 2015 unter Beteiligung des Vereins „Die Brücke Dortmund e.V.“ ein Pilotprojekt durchgeführt, um Möglichkeiten und Ansätze eines Täter-Opfer-Ausgleichs im Strafvollzug zu erproben. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/4866 3 2. Wie gestalten sich Voraussetzungen und Ablauf eines Täter-Opfer-Ausgleichs in Nordrhein-Westfalen? Die Voraussetzungen für einen Täter-Opfer-Ausgleich und dessen Ablauf richten sich bei Erwachsenen nach dem Gem. RdErl. d. Justizministeriums (4450 - III A. 10) und d. Innenministeriums (IV D 2 - 2902) vom 1. Juni 2000 und bei Jugendlichen nach dem Gem. RdErl. d. Justizministeriums (4210 III A. 86 A), d. Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales (IV B 2 - 6150) und d. Innenministeriums (IV - D 2 - 6591/2.8) vom 14. März 1995. Soweit darüber hinaus seit 2015 die Ausgestaltung eines Täter-Opfer-Ausgleichs im Strafvollzug unter Beteiligung des Vereins „Die Brücke Dortmund e.V.“ in der JVA Schwerte erprobt wird, wendet sich das Projekt an inhaftierte Täter sowie an Opfer (oder deren Hinterbliebene) von in der Justizvollzugsanstalt inhaftierten Gefangenen. Entscheidend sind der Wunsch der Beteiligten nach einer Vermittlung und das Vorliegen von Grundvoraussetzungen für einen Täter-Opfer Ausgleich: Freiwillige Bereitschaft des Opfers zur Ausgleichsfindung Kommunikativer Prozess zwischen Täter und Opfer, gerichtet auf einen friedensstiftenden Ausgleich der durch die Straftat verursachten Folgen Wille der Beteiligten zur Versöhnung Umfassendes Geständnis des Täters Erfüllung von Ersatzansprüchen oder ernsthaftes Bemühen um einen umfassenden Ausgleich Der Ablauf eines Täter-Opfer-Ausgleichs im Strafvollzug gestaltet sich im Rahmen des Pilotprojektes wie folgt: Auf Initiative eines Tatopfers / Angehörigen Terminierung eines ersten Gespräches Bei Erfüllung der Voraussetzungen für Vermittlung: Anmeldung bei der JVA Kontaktperson: Ansprechpartnerin / Ansprechpartner für Opferbelange Durchführung der Maßnahme Ergebnisbezogener Bericht an die JVA Auf Initiative eines Inhaftierten Kontaktaufnahme zum Gefangenen nach Rücksprache mit der JVA / Terminierung Erstgespräch Erstes Gespräch: Klärung der Motivationslage / Informationsweitergabe Kontaktperson: Ansprechpartnerin / Ansprechpartner für Opferbelange Durchführung der Maßnahme Ergebnisbezogener Bericht an die JVA 3. Wie viele Täter-Opfer-Ausgleiche haben jährlich seit 2013 in Nordrhein-Westfalen stattgefunden? Bitte aufschlüsseln nach jugendlichen und erwachsenen Täterinnen und Tätern, Delikt und Zuweisung durch Gericht, Staatsanwaltschaft oder Selbstmelderinnen und Selbstmeldern Das Ministerium der Justiz erfasst zum Täter-Opfer-Ausgleich die Zahl der Aufträge, die entweder dem ambulanten Sozialen Dienst der Justiz oder einem freien Träger erteilt worden LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/4866 4 sind, und beim ambulanten Sozialen Dienst der Justiz zusätzlich die Auftraggeber und die Anzahl der Erledigungen. Die Anzahl der Aufträge und Erledigungen ergeben sich aus der nachfolgenden Tabelle; die Daten für 2018 liegen noch nicht vor: Soweit seit dem Jahre 2015 ein Täter-Opfer-Ausgleich im Strafvollzug unter Beteiligung des Vereins „Die Brücke Dortmund e.V.“ in der JVA Schwerte erprobt wird, hat die letzte Auswertung zum Stichtag 16. Februar 2018 ergeben, dass dort insgesamt 45 Vermittlungsanfragen eingeleitet wurden, die sich wie folgt auf die Jahre verteilen: 4. Welche Ausbildung und Qualifikation müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für die Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs zuständig sind, mitbringen? Grundsätzlich müssen Fachkräfte des ambulanten Sozialen Dienstes der Justiz ein mit Bachelorgrad, Mastergrad oder Diplom abgeschlossenes Studium der Fachrichtung Sozialarbeit oder Sozialpädagogik an einer Fach- oder Gesamthochschule oder Universität, die staatliche Anerkennung sowie ein Praktikum als Bewährungshelferin / Bewährungshelfer als Teil des ambulanten Sozialen Dienstes vorweisen und befähigt sein, jederzeit in den Fachbereichen Bewährungshilfe, Führungsaufsicht und Gerichtshilfe arbeiten zu können. Damit die Fachkraft flexibel und fachübergreifend eingesetzt werden kann, werden Hospitationen in allen Fachbereichen des ambulanten Sozialen Dienstes der Justiz bereits im ersten Berufsjahr verbindlich durchgeführt. Da sich das Arbeitsfeld Täter-Opfer-Ausgleich durch die Mediatorenfunktion und den damit verbundenen erhöhten Arbeitsaufwand von anderen Aufgaben der Gerichtshilfe unterscheidet, werden regelmäßig nur Fachkräfte, die über eine entsprechende Zusatzqualifikation verfügen, mit der Aufgabe betraut. Jahr Anzahl der eingeleiteten Vermittlungsanfragen 2015 11 2016 17 2017 11 2018 (bis 16.02.2018) 6 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/4866 5 Grundlage für die Tätigkeit der Ausgleichsstellen in freier Trägerschaft sind die Standards der Bundesarbeitsgemeinschaft Täter-Opfer-Ausgleich e.V. Diese stehen zum kostenlosen Download unter https://www.toa-servicebuero.de/service/bibliothek/toa-standards-7-aufl zur Verfügung. Diesselben Grundsätze gelten auch im Rahmen des in der JVA Schwerte angesiedelten Pilotprojekts „Täter-Opfer-Ausgleich im Strafvollzug“. 5. Sind Restorative-Justice-Maßnahmen und insbesondere der Täter-Opfer Ausgleich Bestandteil der Ausbildung bei der Polizei und im Rechtsreferendariat? Der Bachelorstudiengang Polizeivollzugsdienst vermittelt den Studierenden grundlegendes Fachwissen, Methodenkompetenzen und Schlüsselqualifikationen mit dem Ziel, die Aufgaben des Wachdienstes erfüllen zu können, Grundkenntnisse der allgemeinen Kriminalitätssachbearbeitung, der Verkehrssicherheitsarbeit sowie des Einsatzes aus besonderem Anlass anzuwenden. Der Bereich der Viktimologie wird an der FHöV NRW zum Beispiel im verpflichtenden Teilmodul HS 2.1.2 (Täter, Opfer und Prognosen) gelehrt. Konkrete Inhalte der Viktimologie sind: • Erkenntnisse der viktimologischen Forschung: Opferbegriff, Opferrisiko, Opferdispositionen, Opfertypologien; Rolle des Opfers im Entstehungsprozess von Straftaten, Ermittlungs‐ und Strafverfahren; Anzeigeverhalten • Primär-, Sekundär-, Tertiärviktimisierung • Sicherheitsgefühl: kognitive (Viktimisierungserwartung), affektive (Viktimisierungsfurcht), konative (Abwehr-/Vermeidungsverhalten) Komponenten • Überblick über gesetzliche Regelungen zur Verbesserung der Opferstellung: OpferschutzG/ ZeugenschutzG/ OpferrechtsreformG mit Regelungen der StPO, GewaltschutzG, OEG, OASG, Europäische Opferschutz-Initiative (Richtlinie 2004/80/EG ), Täter-Opfer-Ausgleich • Aufgabe der Opferschutzbeauftragten • Opferschutzorganisationen • Netzwerke Opferschutz und -hilfe Entsprechende Lehrinhalte zum Opferschutz/Opferhilfe werden aber auch in anderen Modulen aufgegriffen und im fachpraktischen Training sowie in den Praktika in den Kreispolizeibehörden vertieft. Nach der Ausbildung werden die erworbenen Kenntnisse im Rahmen der funktionsorientierten Fortbildung für die jeweiligen polizeilichen Zielgruppen vertieft und ergänzt. Der Themenkomplex des Täter-Opfer-Ausgleichs findet dabei insbesondere Berücksichtigung in den Fortbildungsmaßnahmen für Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte der kriminalpolizeilichen Sachbearbeitung, beispielsweise im Bereich Jugendkriminalität und Bearbeitung von Jugendsachen („Jugendkriminalität - Anpassung“). Im juristischen Vorbereitungsdienst ist der Täter-Opfer-Ausgleich nach § 46a StGB unter dem Aspekt der Strafzumessung Gegenstand der Ausbildung. Der Ausbildungsplan für die Ausbildung bei einer Staatsanwaltschaft sieht ausdrücklich vor, dass Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare mit den Ausgleichsstellen für den Täter-Opfer-Ausgleich zusammenarbeiten. Bei der Behandlung der Schlussvorträge und des Urteils innerhalb der LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/4866 6 strafrechtlichen Arbeitsgemeinschaft ist nach dem Ausbildungsplan für die strafrechtlichen Arbeitsgemeinschaften besonderes Gewicht auf die Ausführungen zur Strafzumessung und damit auch auf § 46a StGB zu legen. Der Täter-Opfer-Ausgleich gehört schließlich zum Prüfungsstoff der Zweiten juristischen Staatsprüfung (§§ 52 Abs. 1 Nr. 1, 11 Abs. 2 Nr. 7a JAG).