LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/5194 20.02.2019 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1907 vom 17. Januar 2019 der Abgeordneten Josefine Paul und Stefan Engstfeld BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/4869 Wiedergutmachung schwuler Justizopfer unzureichend Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Wie der Justizminister am 16.01.2019 im Rechtsauschuss des Landtages und auch die Presse (Neuen Westfälischen) berichtete, haben bisher lediglich 20 Männer in Nordrhein Westfalen einen Antrag auf Entschädigung zur Rehabilitierung ihrer Verurteilung nach dem § 175 StGB in der Bundesrepublik Deutschland gestellt. Vor dem Hintergrund, dass die bundesdeutsche Justiz etwa 50.000 Männer wegen gleichgeschlechtlicher „Unzucht“ verurteilte, erscheint diese Zahl sehr gering. Ein Grund für die niedrigen Zahlen kann darin begründet liegen, dass die meisten dieser Verurteilungen in den Zeitraum vor der Sexualstrafrechtsreform von 1969 fielen, durch die die sog. „einfache Homosexualität“, also einvernehmliche Sexualkontakte zwischen Männern über 21 Jahren, entkriminalisiert wurde. Für viele der Betroffenen kommt die Rehabilitierung daher zu spät. Trotzdem blieb der § 175 StGB noch bis 1994 im Strafgesetzbuch verankert. Eine grundsätzliche Entkriminalisierung von Homosexualität erfolgte in Deutschland erst durch die endgültige Streichung des § 175 StGB im Jahre 1994. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass auch viele der noch lebenden Betroffenen bis heute unter den Folgen von staatlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Stigmatisierung leiden. Diese Erfahrung wirkt auch heute noch fort. Auch Jahre nach dem Ende der gesetzlichen Verfolgung männlicher Homosexualität, fällt es vielen damals Verfolgten und Verurteilten schwer, ihren Anspruch auf Entschädigung geltend zu machen. Bislang wurden nur die Fälle verurteilter Männer entschädigt. Allerdings haben Selbsthilfeorganisationen immer wieder darauf hingewiesen, dass der bloße „Verdacht“ ein sog. „175ziger“ zu sein, ausreichte, um eine bürgerliche Existenz zu zerstören. Daher ist es ein richtiger Schritt, dass Bundesjustizministerin Barley angekündigt hat, künftig auch diejenigen zu berücksichtigen, die zwar nicht verurteilt wurden, aber in Untersuchungshaft gesessen haben. Datum des Originals: 20.02.2019/Ausgegeben: 25.02.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/5194 Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 1907 mit Schreiben vom 20. Februar 2019 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration und dem Minister des Innern beantwortet. Vorbemerkung der Landesregierung Die Landesregierung hat in ihrem Bericht vom 14.01.2019 an den Rechtsausschuss des Landtags (Vorlage 17/1573) dargelegt, dass bei den Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen im ersten Jahr nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 08.05.1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen (StrRehaHomG) insgesamt 20 Anträge auf Erteilung einer Rehabilitierungsbescheinigung nach § 3 Absatz 1 Satz 3 StrRehaHomG gestellt worden sind. Zu der Anzahl der Personen aus Nordrhein-Westfalen, die beim hierfür zuständigen Bundesamt für Justiz einen Antrag auf Entschädigung nach § 6 StrRehaHomG gestellt haben, verhält sich der Bericht nicht. Hierzu liegen der Landesregierung keine Erkenntnisse vor. Auf Abschnitt III. des Berichts der Landesregierung vom 14.01.2019 wird verwiesen. Von der Anzahl der Rehabilitierungsbescheinigungen kann nicht auf die Anzahl der Entschädigungsanträge geschlossen werden, denn Betroffene benötigen zur Geltendmachung ihrer Entschädigungsansprüche nicht in jedem Fall eine Rehabilitierungsbescheinigung. Ein entsprechender Antrag kann auch auf der Grundlage einer Ausfertigung des Urteils gestellt werden. Die von den Staatsanwaltschaften ausgestellten Rehabilitierungsbescheinigungen ermöglichen es Betroffenen, die nicht mehr im Besitz einer Urteilsausfertigung sind, einen Entschädigungsantrag zu stellen. Zudem bestätigt die Bescheinigung ihnen oder nach ihrem Tode ihren nahen Angehörigen oder ihrem Lebenspartner - deklaratorisch -, dass das Urteil aufgehoben ist. Insoweit hat sie eine Genugtuungsfunktion auch für Betroffene, die zwar keinen Entschädigungsantrag stellen können oder möchten, aber gleichwohl auf eine schriftliche Dokumentation der Rehabilitierung Wert legen. 1. Welche Erkenntnisse liegen der Landesregierung hinsichtlich der Anzahl der Männer, die in Nordrhein-Westfalen nach 1946 nach dem § 175 StGB verfolgt wurden, vor? Als Datenbasis für die Beantwortung der Frage dient die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Die Erfassung von Fällen in der PKS erfolgt nach bundeseinheitlichen, jährlich mit den beteiligten Gremien abgestimmten Richtlinien. Die PKS wird seit dem Jahr 1953 für die Bundesrepublik Deutschland erstellt. Für Nordrhein-Westfalen (NRW) liegen dem Landeskriminalamt aus dem PKS-Archiv die Jahrbücher für NRW ab dem Jahr 1958 vor. Bis einschließlich 2003 liegen alle Daten ausschließlich in Papierform vor. Für das Jahr 1969 liegt kein vollständiges PKS-Jahrbuch, sondern lediglich eine Kurzfassung vor. Im Jahr 1983 wurde in NRW die Tatverdächtigenzählung auf die Echttatverdächtigenzählung umgestellt. In der bis heute gültigen Echttatverdächtigenzählung wird ein Tatverdächtiger, der in einem Delikt mehrfach auffällig geworden ist, nur einmal gezählt. Werden ihm Straftaten mehrerer Deliktsgruppen vorgeworfen, wird er in jeder Gruppe und für Straftaten insgesamt auch nur einmal gezählt. Diese Form der Zählung wird nur innerhalb eines Berichtsjahres angewandt. Die Anzahl der wegen eines Vergehens nach § 175 StGB a. F. tatverdächtigen und verfolgten Männer ergibt sich aus der Anlage 1. 2 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/5194 Für den Berichtszeitraum von 1946 bis 1957 liegen dem LKA NRW keine Jahrbücher vor. In der Kurzfassung zum PKS-Jahrbuch 1969 und im PKS-Jahrbuch 1970 werden die Zahlen zu Verstößen gegen § 175 StGB a. F. nicht detailliert dargestellt; Zahlen zu Tatverdächtigen aus beiden Jahren liegen nicht vor. Eine Ermittlung der im LKA NRW nicht vorliegenden Daten ist unter Umständen über das Landesarchiv NRW möglich. Diese zeitaufwändige Recherche ist in der zur Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Daten zu der Anzahl der Männer, gegen die wegen eines Delikts nach den §§ 175, 175a StGB a. F. von einem Strafgericht abgeurteilt und ggf. verurteilt wurden, ergeben sich aus der Strafverfolgungsstatistik. Diese liegt der Landesregierung für den Zeitraum von 1953 bis 1994 vor. Die Strafverfolgungsstatistik weist für diesen Zeitraum insgesamt 16.757 Personen aus, die wegen eines Delikts nach den §§ 175, 175a StGB a. F. in Nordrhein-Westfalen abgeurteilt wurden. In 13.276 dieser Fälle erfolgte eine Verurteilung (9.097 nach § 175 StGB a.F. und 4.179 wegen § 175a StGB a.F.). Bezüglich der näheren Einzelheiten wird auf die Anlage 2 verwiesen. In dieser Gesamtzahl sind allerdings auch Entscheidungen erfasst, für die eine Rehabilitierung und Entschädigung nicht vorgesehen ist (z. B. homosexuelle Handlungen unter Anwendung von Gewalt oder Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen). 2. Wie erklärt sich die Landesregierung die bislang sehr geringen Anträge auf Entschädigung nach dem „Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen“ (StrReha-HomG)? Der Landesregierung sind die jeweiligen Motive der Anspruchsberechtigten nicht bekannt. Sie sieht von Spekulationen darüber ab. Sie weist jedoch darauf hin, dass über 90 % der Verurteilungen in Nordrhein-Westfalen in den 50er und 60er Jahren erfolgten. Soweit diese Betroffenen bereits verstorben sind, kann eine Individualentschädigung für sie nicht mehr erreicht werden. Zutreffend ist, dass die bloße Existenz der Strafvorschriften auch ohne eine Verurteilung für viele Betroffenen mit einer Stigmatisierung verbunden war, die zu erheblichen Belastungen und zu Einschränkungen ihrer Lebensführung geführt hat. Aus diesem Grunde ist ergänzend zu der im Gesetz vorgesehenen Individualentschädigung die Arbeit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld über eine institutionelle Förderung in Höhe von bis zu 500.000 Euro jährlich aus dem Haushalt des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz langfristig gestärkt worden. Diese Förderung hat die Funktion einer Kollektiventschädigung und dient der ideellen Wiedergutmachung gegenüber Betroffenen, die ihren individuellen Entschädigungsanspruch nicht (mehr) geltend machen können oder möchten. 3. Welche Maßnahmen hat die Landesregierung ergriffen, um Betroffene über ihren Anspruch auf Entschädigung zu informieren? 4. Inwieweit unterstützt die Landesregierung Betroffene bzw. Selbsthilfeorganisationen bei der Geltendmachung der Entschädigungsansprüche? Die Fragen 3 und 4 werden zusammen beantwortet. Das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen informiert auf seiner Internetseite über die Telefonhotline und das Beratungsangebot der 3 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/5194 Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS). BISS ist ein bundesweit tätiger Fachverband und bietet eine umfassende Beratung und Begleitung zur Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen an. https://www.mkffi.nrw/rehabilitierung-ss-175-stgb. Im Übrigen wird auf den Bericht der Landesregierung vom 14.01.2019 an den Rechtsauschuss des Landtags (Vorlage 17/1573) sowie die Vorbemerkung verwiesen. 5. Plant die Landesregierung eine wissenschaftliche Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung und gesellschaftlichen Stigmatisierung von Lesben, Schwulen und Trans*personen in NRW nach 1946, wie dies beispielsweise durch das Land Hessen initiiert wurde? Vor dem Hintergrund des Koalitionsvertrages „(…) Wir werden Projekte fördern, die aktiv gegen Diskriminierung jeder Art vorgehen. Dies gilt ausdrücklich auch für Projekte, welche die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Menschen nach dem alten § 175 StGB wissenschaftlich und didaktisch aufarbeiten“ fördert das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen auch den Dachverband Schwules Netzwerk NRW e. V. Konkret wird im Rahmen einer Projektförderung in Kooperation mit dem Centrum für schwule Geschichte (CSG) mit Sitz in Köln eine Wanderausstellung konzipiert und erarbeitet. Die Ausstellung wird die historische Entwicklung antihomosexueller Gesetzgebung auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland thematisieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1968/69. Ein Modul wird die Entwicklung im Land Nordrhein-Westfalen darstellen. Weitere Akzente sollen auch auf andere sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten gesetzt werden. Die Ausstellung wird voraussichtlich am 05.06.2019 in den Räumen des Landschaftsverbands Rheinland in Köln erstmalig präsentiert. Im Anschluss daran ist geplant, dass die Ausstellung an verschiedenen Orten in NordrheinWestfalen gezeigt wird. Im Übrigen hat auch die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld satzungsgemäß u. a. die Aufgabe, in fachlicher Zusammenarbeit mit Universitäten, Bildungs- und Forschungseinrichtungen durch wissenschaftliche Forschung der gesellschaftlichen Diskriminierung homosexueller Männer und lesbischer Frauen in Deutschland entgegenzuwirken sowie die wissenschaftliche Auswertung von Zeitzeugenberichten zu ermöglichen. 4 Anlage 1 zur Kleinen Anfrage 1907 § 175 StGB - Anzahl der TV Jahre 1946 bis 1970 Anzahl TV 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 Vor dem Jahr 1958 liegen keine Daten zu Tatverdächtigen der Unzucht zwischen Männern vor. 1946 1957 Jahre 1971 bis 1994 Anzahl TV 1971 406 1972 202 1973 396 1974 225 1975 190 1976 216 1977 207 1978 203 1979 178 1980 198 1981 183 1982 151 1958 2 325 1983 168 1959 2 177 1984 141 1960 1 921 1985 129 1961 1 944 1986 143 1962 2 176 1987 124 1963 1 811 1988 140 1964 1 996 1989 93 1965 1 906 1990 94 1966 1 896 1991 96 1967 1 680 1992 116 1968 1 585 1993 90 1994 69 1969 1970 In diesen Jahren liegen keine Daten vor. Quelle: PKS NRW Anlage 2 zur Kleinen Anfrage 1907 Abgeurteilte1 Jahr 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a 577 236 813 592 283 875 604 297 901 626 344 970 675 434 1109 654 399 1053 811 446 1257 652 323 975 657 343 1000 643 292 935 667 304 Verurteilte 439 205 644 449 222 671 495 248 743 521 289 810 560 356 916 541 333 874 651 376 1027 538 284 822 550 292 842 535 252 787 534 253 1 Abgeurteilte sind Angeklagte, gegen die ein Strafverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens durch Urteil, Strafbefehl oder Einstellungsbeschluss rechtskräftig abgeschlossen worden ist. Ihre Zahl setzt sich zusammen aus den Verurteilten und aus Personen, gegen die andere Entscheidungen (u. a. Freispruch) getroffen wurden. Seite 1 von 3 Gesamt 971 594 328 922 574 282 856 528 290 818 440 144 584 446 224 670 285 143 428 156 8 164 132 5 137 104 15 119 102 18 120 104 4 108 787 497 272 769 471 217 688 441 230 671 326 113 439 330 152 482 161 85 246 99 13 112 82 12 94 68 16 84 61 14 75 62 1 63 1975 § 175 52 30 1976 § 175 62 41 1977 § 175 69 46 1978 § 175 73 42 1979 § 175 76 43 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 § 175a Gesamt § 175 Abs. 1 Nr. 1 § 175 Abs. 1 Nr. 2 und 3 1971 Gesamt § 175 Abs. 1 Nr. 1 § 175 Abs. 1 Nr. 2 und 3 1972 Gesamt § 175 Abs. 1 Nr. 1 § 175 Abs. 1 Nr. 2 und 3 1973 Gesamt § 175 Abs. 1 Nr. 1 § 175 Abs. 1 Nr. 2 und 3 1974 Gesamt § 175 Abs. 1 Nr. 1 § 175 Abs. 1 Nr. 2 und 3 Seite 2 von 3 1980 § 175 62 39 1981 § 175 57 32 1982 § 175 71 46 1983 § 175 46 35 1984 § 175 42 25 1985 § 175 49 36 1986 § 175 38 22 1987 § 175 47 35 1988 § 175 29 22 1989 § 175 44 28 1990 § 175 40 28 1991 § 175 27 14 1992 § 175 30 23 1993 § 175 36 28 1994 § 175 22 15 Seite 3 von 3