LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/5246 22.02.2019 Datum des Originals: 22.02.2019/Ausgegeben: 27.02.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2040 vom 13. Februar 2019 der Abgeordneten Marcus Pretzell und Alexander Langguth FRAKTIONSLOS Drucksache 17/5107 Bildungspflicht statt Schulpflicht für Kinder und Jugendliche Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Schulpflicht hat in Deutschland eine lange Tradition. Als erstes Territorium der Welt führte das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken bereits 1592 die allgemeine Schulpflicht für Mädchen und Jungen ein. Seit 1919 schrieb die Weimarer Reichsverfassung in Artikel 145 die allgemeine Schulpflicht für ganz Deutschland fest.1 Von 1938 bis 1945 galt das Reichsschulpflichtgesetz2, welches jedoch spätestens mit Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 durch Landesgesetzgebung aufgehoben wurde: Es blieb die bundesweite Schulpflicht, aufgrund der Kulturhoheit der Länder in den einzelnen Landesverfassungen geregelt. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass sich auf Grundlage von Artikel 7 Absatz 1 GG3 das Recht der Länder ergebe, durch Landesgesetze die Schulpflicht zu bestimmen. Es gibt jedoch keine Pflicht der Länder, auf der bisherigen Regelung zur Schulpflicht weiter zu beharren. Es gibt vielmehr bedenkenswerte Gründe, stattdessen eine Bildungspflicht zu installieren, wie es sie in zahlreichen anderen Demokratien gibt.4 So wies auch schon der UN- Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz Villalobos, 2006 nach seiner Inspizierung des deutschen Bildungssystems in einem eigens verfassten, offiziellen Bericht unter anderem darauf hin, dass die restriktive deutsche Schulpflicht die Inanspruchnahme des Rechts auf Bildung mittels alternativer Lernformen wie Hausunterricht kriminalisiere: „Fernlernmethoden und Hausunterricht („home schooling“) stellen zuverlässige Optionen dar, die unter bestimmten Umständen entwickelt werden könnten, die Tatsache berücksichtigend, dass die Eltern das Recht haben, die geeignete Art der Bildung für ihre Kinder zu wählen, wie es in Artikel 13 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte festgelegt ist. Die Förderung und Entwicklung eines Systems der öffentlichen, staatlich finanzierten Bildung sollte nicht dazu führen, dass Bildungsformen unterdrückt werden, die keinen Besuch an einer Schule erfordern. In diesem Zusammenhang erhielt der Sonderberichterstatter Beschwerden über Drohungen, die Elternrechte von Eltern zurückzuziehen, die sich für die Hausschulmethode für ihre Kinder entschieden haben.“5 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/5246 2 Früher wurde die Schulpflicht in Deutschland eingeführt, um für Kinder bildungsferner Schichten, die sonst zum Beispiel eher zuhause in der Landwirtschaft helfen sollten, zuverlässige Bildungsmöglichkeiten zu schaffen. Heute hingegen haben viele Eltern, die sich die Möglichkeit des Hausunterrichts für ihre Kinder wünschen, gute, zur Hälfte selbst gymnasiale Bildung.6 Diese bildungsambitionierten Eltern stören sich daran, dass ihre Kinder in unserem wenig individuellen Schulsystem unzureichend oder das Falsche lernen. Sie wollen für ihre Kinder die bestmögliche Bildung und sich selbst darum kümmern. Internationale Studien zum Beispiel aus den USA und Kanada zeigen, dass Hausunterrichtsschüler eine durchschnittlich eindeutig bessere Bildung besitzen als Schüler des öffentlichen Schulsystems, wenn der Hausunterricht strukturiert erfolgt und vergleichende externe Leistungskontrollen neutral vorgenommen werden.7 Eine andere Elterngruppe, in der besonderes Interesse am Hausunterricht für ihre Kinder besteht, ist die der Eltern von Kindern, die aufgrund psychischer Probleme nicht in die Schulen passen. So gibt es sensible Kinder, die aufgrund von Mobbing traumatisierende Schuljahre erleben. Dieses kann bei ihnen leicht zu großer Schulangst und hieraus folgendem Bildungsversagen führen. Drastische Mobbingerfahrungen führen in den tragischsten Fällen bis zum Suizid des Kindes.8 So berichtet ein Berliner Anti-Mobbing-Trainer von einer Veranstaltung mit 150 Schülern, in der 25 Schüler durch Handheben anzeigten, dass sie aufgrund von Mobbing an ihnen selbst schon Selbsttötungsgedanken hatten.8 Gleichzeitig zeigt die Schulpraxis, dass zuständige Behörden oft weit davon entfernt sind, dieses Problem umfassend in den Griff zu bekommen. Dass selbst Eltern, die in jeder Weise in der Lage wären, ihren Kindern einen vollwertigen Hausunterricht anzubieten und die Kinder dadurch aus dem von ihnen erlittenen Schulmobbing zu befreien, ihrem Nachwuchs in Deutschland nicht diese Hilfe geben dürfen, ist für die betroffenen Kinder und Eltern besonders bitter. Die Ministerin für Schule und Bildung hat die Kleine Anfrage 2040 mit Schreiben vom 22. Februar 2019 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Für wie viele Kinder und Jugendliche haben ihre Eltern von 2009 bis 2019 in Nordrhein-Westfalen eine Entbindung von der Schulpflicht mit welchen Gründen nachgesucht? (Bitte nach Jahreszahlen getrennt benennen.) 2. Wie groß ist nach den Erkenntnissen der nordrhein-westfälischen Landesregierung aktuell die Zahl der Schüler, deren Eltern ihnen bei Bestehen einer Bildungs- statt Schulpflicht lieber Hausunterricht erteilen oder erteilen lassen würden? (Falls keine genaueren Zahlen hierzu vorliegen, bitte eine begründete Schätzung.) 3. Bundesländer gehen unterschiedlich mit dem Thema Hausunterricht um. In welchem Umfang wird dieser ggf. teilweise geduldet? Die Fragen 1 bis 3 werden zusammen beantwortet. Die erbetenen Daten liegen nicht vor und können auch nicht erhoben werden. Das Schulgesetz NRW sieht Ausnahmen von der Schulbesuchspflicht zum Zwecke ausschließlichen häuslichen Privatunterrichts („Homeschooling“) nicht vor. Ein Absehen vom Schulbesuch zur Durchführung eines derartigen Unterrichts kann daher weder genehmigt noch geduldet werden. Die Landesregierung stellt keine Vermutungen darüber an, wie viele Eltern Interesse an einem ausschließlich häuslichen Privatunterricht für ihr Kind hätten. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/5246 3 Klarstellend wird darauf hingewiesen, dass der Begriff „Hausunterricht“ gemäß § 21 Schulgesetz NRW einen Unterricht bezeichnet, den staatliche Lehrer nach staatlichen Lehrplänen einem nicht schulbesuchsfähigen Schüler zu Hause erteilen. 4. Welche Zwangsmaßnahmen werden in Nordrhein-Westfalen gegen Eltern durchgeführt, deren Kinder trotz Schulpflicht nicht zur Schule gehen und die für ihre Kinder Hausunterricht durchführen? Die zulässigen Maßnahmen bei Nichterfüllung der Schulpflicht benennt § 41 Schulgesetz NRW i.V.m. dem Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 04.02.2007 „Überwachung der Schulpflicht“ (BASS 12-51 Nr. 5). Welche Maßnahme in einem konkreten Fall in Betracht kommt, ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. 5. Gibt es in der Landesregierung Überlegungen, die Schulpflicht in eine Bildungspflicht umzuwandeln? Nein. Die allgemeine Schulpflicht ist in Artikel 8 Absatz 2 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen verankert. Die Schulpflicht dient nicht allein der Gewährleistung der Wissensvermittlung, sondern zugleich der Vermittlung sozialer und staatsbürgerlicher Kompetenz. Auch nach Auffassung des BVerfG können soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichsten Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 29. April 2003 – 1 BvR 436/03 – , juris).