LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/6228 13.05.2019 Datum des Originals: 13.05.2019/Ausgegeben: 16.05.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2266 vom 9. April 2019 der Abgeordneten Norwich Rüße und Stefan Engstfeld BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/5714 Welche weiteren umweltgefährlichen Abfälle wurden in der Tongrube in Hünxe/ Schermbeck verkippt? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die illegale Einbringung von Abfall in eine wiederverfüllte Tongrube in Hünxe/ Schermbeck war bisher bezüglich der Einbringung von hochgiftigen und erbgut-verändernden Ölpellets aus der BP-Raffiniere in Gelsenkirchen-Scholven bereits Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Der Abfallschlüssel der Ölpellets wurde bei der Raffiniere in Gelsenkirchen-Scholven mehrmals angepasst (061303 = ungefährlicher Industrieruß; 130703* = gefährlicher Abfall/andere Brennstoffe; jetzt wohl 070108* = gefährlicher Abfall/andere Reaktions- und Destillationsrückstände). Erst durch diese Änderungen wurde eine Deponierung der hochgiftigen Pellets möglich, da diese durch den ursprünglichen Abfallschlüssel ausgeschlossen wurde. Aufgrund der Beigabe eines Gemisches aus Mineralien und Sand wurden die Pellets illegaler weise unter dem Abfallschlüssel 19 12 09 „Mineralien (Sand, Steine)“ für eine Deponierung freigegeben. Die Betreiberfirma Nottenkämper nahm dieses Gemisch an und nutzte es als Verfüllungsmaterial für die Tongrube. Im Zuge dessen wurden in einem Verfahren am Landgericht Bochum bereits ein „Müllmakler“ aus Gahlen und ein „Abfalljongleur“ aus Bottrop verurteilt. Bei Letzterem handelt es sich um einen ehemaligen Prokuristen der Betreiberfirma. In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bochum wird dem Angeklagten vorgeworfen im Jahr 2014 gemeinschaftlich mit anderen Personen ein Gemisch aus Kronocarb und Flugasche unter dem Abfallschlüssel 100117 (Filterstäube aus der Abfallverbrennung) an die Betreiberfirma Nottenkämper OHG geliefert zu haben. Dabei handelt es sich um 9200 Tonnen, die laut Anklageschrift auf Wunsch des Betreibers ebenfalls unter der Abfallnummer 19 12 09 „Mineralien (Sand und Steine)“ zur Verfüllung in der Tongrube Nottenkämper abgelagert worden sind. Die Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz hat die Kleine Anfrage 2266 mit Schreiben vom 13. Mai 2019 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern und dem Minister der Justiz beantwortet. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/6228 2 1. Welche Erkenntnisse liegen der Landesregierung über die in der Anklageschrift benannte Umdeklarierung des Abfalls auf Wunsch des Tongrubenbetreibers vor? Der Leitende Oberstaatsanwalt in Bochum hat hierzu am 24.04.2019 Folgendes berichtet: ‚Ausweislich des hiesigen Ermittlungsergebnisses sorgte der inzwischen (wegen anderer Vorwürfe) - nicht rechtskräftig - Verurteilte L. mit den anderweitig Verfolgten A. K. und C. N. dafür, dass vom 15.05.2014 bis zum 25.08.2014 insgesamt 6.609,61 Kronocarb und 2.9001 Flugasche in der Betriebshalle 2 des Unternehmens P.-K. GmbH in der V.-straße […] in […] D. angeliefert und dort in einem Verhältnis von 1:1 und später von 2:1 -ohne die erforderliche umweltrechtliche Genehmigung - vermischt wurden. Von dieser Mischung sind 9.002,21 t namens und im Auftrag der Firma F. D. GmbH unter den Abfallschlüsselnummern 10 01 17 („Filterstäube aus der Abfallmitverbrennung mit Ausnahme derjenigen, die unter 10 01 16 fallen") - dabei handelt es sich um einen für die Tongrube genehmigten Schlüssel - und später, auf Wunsch der Verantwortlichen der N. OHG, 19 12 09 („Mineralien [z.B. Sand, Steine]"; ebenfalls ein genehmigter Schlüssel) in der Tongrube der N. OHG abgelagert worden. Dabei war L. bewusst, dass die P.-K. GmbH nicht über die erforderliche Genehmigung für die durchgeführten Mischvorgänge verfügte. Das Verfahren bzgl. L. ist insoweit im Rahmen der Hauptverhandlung durch die 2. Strafkammer abgetrennt worden. Die Kronocarb-Flugaschemischung enthielt mehr Chloride (Salze), als die Grenzwerte bei N. vorgaben. Um N. Analysen präsentieren zu können, welche die Werte in den Genehmigungen der N. OHG einhielten, wies der anderweitig Verfolgte A. K. einen Zeugen an, entsprechende Proben zu waschen, d.h. mit Wasser zu versetzen, wodurch die löslichen Salze - Chloride - aus dem Material gelöst wurden. Folge dessen war, dass der Chloridwert sank. Nachdem das Gemisch zunächst in einem Umfang von ca. 4.0001 unter der Abfallschlüsselnummer 10 01 17 zur N. OHG geliefert worden war, würde später der Abfallschlüssel 19 12 09 verwendet. […].‘ Im Bericht des Leitenden Oberstaatsanwaltes wurde ein Satz gestrichen (vermerkt mit […]). Die Gründe für die Streichung werden wie folgt erläutert: Zum berichteten Hintergrund der Verwendung eines anderen Abfallschlüssels hat der Leitende Oberstaatsanwalt in Bochum darauf hingewiesen, dass es sich um ein Geschäftsgeheimnis im Verhältnis der Firmen N. und S. handele. Insoweit ist von der Wiedergabe der entsprechenden Passage des Berichts aus folgenden Gründen abgesehen worden: Das in Rede stehende Geschäftsgeheimnis dürfte unter das Grundrecht der Berufsfreiheit und der informationellen Selbstbestimmung einer der beteiligten Firmen als inländische juristische Person fallen (Art. 19 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG). Nach der Rechtsprechung des BVerfG können das Fragerecht der Abgeordneten und die Antwortpflicht der Regierung dadurch begrenzt sein, dass diese gemäß Art. 1 Abs. 3 GG die Grundrechte zu beachten haben (BVerfG, Urteil vom 21. Oktober 2014 – 2 BvE 5/11 –, juris Rn. 154; BVerfG, Urteil vom 07. November 2017 – 2 BvE 2/11 –, juris Rn. 233 m.w.N.). Der Hinweis des BVerfG darauf, dass Grundrechte das Fragerecht und die Antwortpflicht begrenzen „können“, dürfte allerdings darauf verweisen, dass entgegenstehende Grundrechte keine starre Grenze bei der Erfüllung der Antwortpflicht der Regierung darstellen, sondern jeweils eine Abwägung zwischen dem Informationsinteresse des Parlaments einerseits und dem Grundrechtseingriff andererseits im konkreten Einzelfall vorzunehmen ist. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/6228 3 Hiervon ausgehend dürfte ein überwiegendes Interesse der parlamentarischen Fragesteller, das Geschäftsgeheimnis zu erfahren, nicht bestehen. Denn das Geschäftsgeheimnis gehört nicht zum „Kern“ des durch die parlamentarische Anfrage betroffenen Sachverhalts, sondern bildet lediglich den Hintergrund und die Motivation für das ggf. strafrechtlich relevante Verhalten verschiedener Akteure. Dass der dem Geschäftsgeheimnis zugrunde liegende Sachverhalt etwa selbst gegen Strafgesetze verstößt und damit das Informationsinteresse der Öffentlichkeit und des Parlaments berühren könnte, ist nicht ersichtlich. Selbst wenn - wie hier - die beteiligten Firmen anonymisiert werden, besteht die Gefahr, dass ihre Identität im Nachgang durch Recherche - etwa mittels Sichtung der journalistischen Berichterstattung zum Strafverfahren - offenbar wird. Dass Antworten auf Kleine Anfragen in die Parlamentsdatenbank eingestellt werden und somit einem unbeschränkten Personenkreis zugänglich sind, potenziert dieses Risiko noch zusätzlich. Weiter berichtet der Leitende Oberstaatsanwalt in Bochum wie folgt: ‚Das Unternehmen N. sprach aufgrund dort festgestellter Überschreitung des Chloridwertes am 08.07.2014 einen Annahmestopp für das Gemisch aus Kronocarb und Flugasche aus. Nach den Gutachten des Dr. M. (LANUV) vom 01.12.2015 und vom 22.03.2016 handelt es sich weder bei der Flugasche noch bei dem Kronocarb noch bei dem Gemisch aus beiden Stoffen um gefährliche Abfälle. Eine Strafbarkeit der Ablagerung nach 326 StGB ist damit aus rechtlichen Gründen nicht gegeben. Der Vorwurf der Anklage bezog sich insoweit auf das unerlaubte Betreiben der Mischanlage nach 327 Abs. 2 Satz 1. Nr. 1 Alt. 1 StGB.‘ 2. Wurde dieser Abfall auf direktem Weg zwecks Verfüllung zur Tongrube transportiert? (Bitte einzelne Etappen der Entsorgung benennen.) Der Leitende Oberstaatsanwalt in Bochum hat hierzu unter dem 24.04.2019 Folgendes ausgeführt: „Nach hiesigen Ermittlungen wurde das fertig gemischte Material sodann per LKW zur Tongrube verbracht. Der Transportweg war aufgrund der fehlenden Einschlägigkeit des 326 StGB nicht von strafrechtlicher Relevanz und dementsprechend auch nicht Gegenstand der Anklageerhebung.‘ 3. Welche Umweltauswirkungen gehen speziell mit der Deponierung des Gemischs aus Kronocarb und Flugasche am Standort der Tongrube einher? Nach dem derzeitigen Stand des Wissens sind die durch den Gutachter ahu AG im Rahmen der Gefährdungsabschätzung empfohlenen Maßnahmen geeignet, Stoffausträge in die Umgebung zu vermeiden und damit eine Beeinträchtigung von Schutzgütern zu verhindern. Da das gesamte anfallende Sickerwasser gefasst wird, schließen diese Maßnahmen nach dem derzeitigen Stand des Wissens eine Schutzgutgefährdung auch für ggf. auftretende Stoffausträge aus dem Gemisch aus Kronocarb und Flugasche aus. Die von der ahu AG empfohlenen und zwischen dem Kreis Wesel und der Fa. Nottenkämper vereinbarten Maßnahmen zur Verhinderung eines Stoffaustrags aus der Tongrube werden durch ein zusätzliches Gutachten im Auftrag des MULNV überprüft. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/6228 4 In diesem geplanten Gutachten ist unter anderem eine Auswertung der Schadstoffsituation am Standort der Tongrube vorgesehen. Unter Einbeziehung dieser Erkenntnisse ist das Ergebnis der vorliegenden Gefährdungsabschätzung zu evaluieren. Die Vorbereitungen auf diese zusätzliche Begutachtung laufen derzeit unter Einbeziehung der betroffenen Behörden, des Gahlener Bürgerforums und der Kommunalpolitik. 4. Wie oft konnte in abfallrechtlichen Ermittlungsverfahren in NRW in den letzten 10 Jahren nachgewiesen werden, dass unsachgemäße Änderungen des Abfallschlüssels stattgefunden haben? Die Überprüfung der Plausibilität der vom Abfallerzeuger oder -besitzer vorgenommenen Einstufung eines Abfall gemäß Abfallverzeichnisverordnung und der damit verbundenen Zuordnung zu einem bestimmten Abfallschlüssel gehört zu den Routineaufgaben der behördlichen Abfallüberwachung sowie der Anlagengenehmigung. Die Prüfung ist u.a. Bestandteil der Genehmigung von Notifizierungsanträgen im Rahmen des Imports und Exports von Abfällen, des Abfall-Nachweisverfahrens für gefährliche Abfälle (Genehmigung von Entsorgungsnachweisen, Prüfung der Begleitscheine) sowie der Genehmigung und Änderungsgenehmigung von Anlagen gemäß BImSchG oder Baurecht. Des Weiteren werden die Abfallschlüssel bei behördlichen Umweltinspektionen geprüft. Beanstandungen der Behörden können häufig bereits im Gespräch mit den Abfallerzeugern, - besitzern oder Anlagenbetreibern geklärt werden. Sie sind aber auch Gegenstand behördlicher Anordnungen. Die Generalstaatsanwältin in Hamm und die Generalstaatsanwälte in Düsseldorf und Köln haben hierzu mit Berichten vom 23. bzw. 24.04.2019 Fehlanzeige erstattet oder darauf hingewiesen, dass eine zuverlässige Recherche nach einschlägigen Verfahren mangels gesonderter statistischer Erfassung nicht möglich und eine händische Auswertung sämtlicher Verfahren wegen unerlaubten Umgangs mit Abfällen mit vertretbarem Aufwand nicht zu leisten sei. Soweit eine Befragung der für die Bearbeitung entsprechender Verfahren zuständigen Dezernentinnen und Dezernenten zu der Existenz entsprechender Vorgänge durch die Behördenleitungen erfolgt seien, seien diesen solche nicht erinnerlich. Der Leitende Oberstaatsanwalt in Bochum habe hinsichtlich des Komplexes ‚Ölpellets‘ berichtet, dass jedenfalls derzeit mangels rechtskräftiger Verurteilung der Nachweis unsachgemäßer Änderungen des Abfallschlüssels nicht vorliege. 5. Sieht die Landesregierung einen politischen Handlungsbedarf, der darauf hinwirkt, dass Abfallschlüssel zukünftig nicht mehr allein durch den Abfallerzeuger und somit ohne jegliche behördliche Beteiligung bestimmt werden dürfen? Eine eindeutige Bezeichnung von Abfällen ist wesentliche Voraussetzung für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft. Im EU-Recht gibt es seit dem Jahr 2000 ein einheitliches europäisches Abfallverzeichnis, das in Deutschland mit der Abfallverzeichnisverordnung umgesetzt wird. Weder die europäische noch die deutsche Abfallverzeichnisverordnung enthalten eine behördliche Verpflichtung zur Einstufung von Abfällen. Die korrekte Einstufung eines Abfalls, d.h. die Auswahl eines zutreffenden Abfallschlüssels gemäß der Nomenklatur der Abfallverzeichnisverordnung liegt in der Verantwortung des LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/6228 5 Abfallerzeugers und -besitzers, für die er im Falle einer möglichen Falschdeklaration auch haftbar gemacht werden kann. So führt die vorsätzliche oder fahrlässige Einstufung eines gefährlichen Abfalls als nicht gefährlichen Abfall u.a. zu Ordnungswidrigkeiten gemäß Nachweisverordnung. Für den Abfallerzeuger und -besitzer besteht bei einer Falschdeklaration darüber hinaus das Risiko der Strafbarkeit nach § 326 Strafgesetzbuch „Unerlaubter Umgang mit Abfällen“. Im Rahmen der Nachweisführung für gefährliche Abfälle bearbeitet die zuständige Zentrale Stelle bei der Bezirksregierung Düsseldorf im Durchschnitt pro Jahr ca. 630.000 Begleitscheine. Eine zusätzliche behördliche Kontrolle der von den Abfallerzeugern vorgenommenen Einstufung der Abfälle ist angesichts eines Abfallartenkatalogs mit mehr als 800 verschiedenen Abfallschlüsseln und mehreren Hunderttausend Abfallerzeugern in Nordrhein-Westfalen weder sinnvoll noch leistbar.