LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/6391 29.05.2019 Datum des Originals: 29.05.2019/Ausgegeben: 04.06.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2414 vom 2. Mai 2019 der Abgeordneten Alexander Langguth und Frank Neppe FRAKTIONSLOS Drucksache 17/5964 Gerichtliche Fehlurteile – Unschuldig Inhaftierte in NRW und Entschädigungssummen Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Einer Studie der Kriminologischen Zentralstelle zufolge, welche für den Zeitraum von Ende 1990 bis Anfang 2017 „alle ermittelbaren“1 Fehlurteile aus 13 Bundesländern auswertete, haben 31 Personen zu Unrecht im Gefängnis gesessen. Nach einem Wiederaufnahmeverfahren seien sie freigesprochen worden.2 Ein Richter am Bundesgerichtshof (BGH) erachte es allerdings als „Lebenslüge der Justiz“3, dass es angeblich kaum falsche Strafurteile gibt. Jedes vierte Strafurteil, so seine Behauptung, sei ein Fehlurteil.4 Laut dem amerikanischen „Innocence Project“ seien Irrtümer von Zeugen bei der Identifizierung Verdächtiger eine Fehlerquelle; der Studie „Fehlerquellen im Strafprozess“ folgend seien auch Falschgeständnisse Ursache für Fehlurteile.5 Laut Juristen seien nur deshalb so wenige Fälle von Fehlurteilen erfasst, da solche Verfahren in Deutschland selten erfolgreich verlaufen würden. Ein ehemaliger Richter am BGH bezeichnete den Umgang des Staates mit Opfern von Fehlurteilen als „ein trauriges und beschämendes Kapitel deutscher Justizpolitik“6. Der Entschädigungsbetrag von 25 Euro pro 1 https://www.krimz.de/forschung/strafverfolgung/rehabilitation/ (abgerufen am 03.04.2019) https://www.krimz.de/fileadmin/dateiablage/E-Publikationen/BM-Online/bm-online11.pdf (S. 27, abgerufen am 03.04.2019) 2 Ebd. 3 https://www.n-tv.de/panorama/Wie-ein-Beamter-zum-Justizopfer-wird-article20130543.html (abgerufen am 03.04.2019) 4 Ebd. 5 https://www.sueddeutsche.de/politik/fehlurteile-ohne-jeden-zweifel-1.2479505 (abgerufen am 03.04.2019) 6 https://www.welt.de/politik/deutschland/article170317339/Fehlurteil-Opfer-sollen-besserentschaedigt -werden.html (abgerufen am 03.04.2019) LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/6391 2 Tag für unschuldig Inhaftierte sei „beschämend gering“7. Zum Vergleich: In den Niederlanden beträgt die Haftentschädigung zwischen 80 und 105 Euro pro Tag. Der ehemalige Bundesjustizminister äußerte, dass eine Erhöhung der Entschädigungskosten von der Bereitschaft der Länder abhinge.8 Bekannt geworden war 2018 der Fall einer sechs Monate lang unschuldig Inhaftierten Duisburgerin, die zum Zeitpunkt der Berichterstattung bereits über ein Jahr auf eine Entschädigungssumme wartete. Während der Haftzeit habe sie laut eigener Angabe ihre Wohnung sowie ihre Katzen verloren.9 Eine offizielle Statistik darüber, wie viele Menschen in Deutschland zu Unrecht verurteilt wurden, existiere nicht, beklagt der ehemalige Präsident des Deutschen Anwaltvereins.10 Als Notwendigkeit betrachte er zudem eine „Beweislastumkehr für den Ersatz aufgetretener Schäden“11. Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 2414 mit Schreiben vom 29. Mai 2019 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Wie viele Fälle von Personen, die in Nordrhein-Westfalen durch ein Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen wurden, sind der Landesregierung aus den vergangenen zehn Jahren bekannt? Eine lückenlose Darstellung der Verfahren, in denen es in den letzten zehn Jahren zu einem Freispruch des Angeklagten nach einem Wiederaufnahmeverfahren gekommen ist, ist nicht möglich, weil einschlägige Verfahrensakten nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen bereits vernichtet und die diesbezüglichen Daten gelöscht sind. Mit dieser Einschränkung konnten die Generalstaatsanwältin und die Generalstaatsanwälte 55 Verfahren identifizieren, in denen seit dem Jahr 2009 eine rechtskräftig verurteilte Person nach einer Wiederaufnahme freigesprochen wurde. Davon waren 11 Personen zu einer Freiheitsstrafe und 34 Personen zu einer Geldstrafe verurteilt worden. 2. Was ist der durchschnittliche und was der höchste erfasste Zeitabstand zwischen der Verurteilung und dem Beginn des Wiederaufnahmeverfahrens? Die verlässliche Berechnung einer Durchschnittsverfahrensdauer aller Wiederaufnahmeverfahren ist angesichts der Vielgestaltigkeit der Verfahren und des unvollständigen Datenmaterials nicht möglich. Bei den in der Antwort zu Frage 1 erwähnten 55 Verfahren betrifft der längste Zeitraum zwischen der Verurteilung und dem Beginn des Wiederaufnahmeverfahrens ein Urteil des 7 Ebd. 8 https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article170454661/Justizminister- Maas-fuer-hoehere-Haftentschaedigung.html (abgerufen am 03.04.2019) 9 https://rp-online.de/nrw/staedte/duisburg/duisburg-langes-warten-auf-die-haftentschaedigung_aid- 32783977 (abgerufen am 03.04.2019) 10 https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/haftentschaedigung-nur-25-euro-pro-taggefaengnis -15281872.html (abgerufen am 03.04.2019) 11 Ebd. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/6391 3 Landgerichts Dortmund vom 18.07.2002. Das Wiederaufnahmeverfahren vor dem Landgericht Essen begann am 10.12.2013. 3. In wie vielen Fällen der letzten 10 Jahre erfolgte das Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten der Angeklagten? Dazu liegen der Landesregierung keine validen statistischen Angaben vor. 4. Wie begründet die Landesregierung die Angemessenheit des Betrags von 25 Euro Haftentschädigung pro Tag vor dem Hintergrund, dass etwa in den Niederlanden unschuldig Inhaftierte zwischen 80 und 105 Euro erhalten? 5. Falls die Landesregierung den Beitrag von 25 Euro Haftentschädigung pro Tag als zu niedrig erachtet, hat sie bereits Initiativen zur Erhöhung in die Wege geleitet bzw. plant, dies zu tun? Die Fragen 4 und 5 werden zusammen beantwortet: Die Höhe der Haftentschädigung für einen Schaden, der nicht Vermögensschaden ist, regelt § 7 Absatz 3 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG). Zuständig für eine etwaige Anpassung dieses Gesetzes ist der Bundesgesetzgeber, den die Länder bereits wiederholt aufgefordert haben, tätig zu werden. Bereits auf ihrer Herbstkonferenz am 9. November 2017 haben die Justizministerinnen und Justizminister der Länder einstimmig festgestellt, dass sie die derzeitige Entschädigung von 25 Euro für jeden angefangenen Tag der Freiheitsentziehung für zu gering erachten, und den damaligen Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz gebeten, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine deutliche Erhöhung dieser Entschädigung vorsieht. Anlässlich ihrer Frühjahrskonferenz am 6./7. Juni 2018 haben die Justizministerinnen und Justizminister der Länder nochmals einstimmig bekräftigt, dass das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen für die aufgrund gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehung erlittenen Nachteile einer eingehenden Überarbeitung und der aktuelle Entschädigungsbetrag einer deutlichen Erhöhung bedarf. Am 8. Juni 2018 hat schließlich der Bundesrat in seiner 968. Sitzung mit der Stimme Nordrhein-Westfalens eine Entschließung gefasst, mit der die Bundesregierung aufgefordert wird, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine deutliche Erhöhung der derzeitigen Entschädigung nach § 7 Absatz 3 StrEG vorsieht.