LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/7217 22.08.2019 Datum des Originals: 22.08.2019/Ausgegeben: 27.08.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2816 vom 30. Juli 2019 des Abgeordneten Stefan Kämmerling SPD Drucksache 17/7031 Abschaltung von Atomkraftwerken in Belgien endlich beschleunigen. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage In Belgien gibt es insgesamt sieben Atomreaktoren, die aufgeteilt in den Kernkraftwerken Doel und Tihange liegen. Beide Kernkraftwerke stehen regelmäßig in der Kritik, weil alle Reaktoren zwischen 30 und 40 Jahren alt sind und immer wieder Mängel, bis hin zu Rissbildungen im Reaktor-Druckbehälter, aufweisen. Eine hoffentlich nie eintretende Freisetzung radioaktiver Stoffe der belgischen Atomkraftwerke Tihange und Doel könnte sich wegen der Nähe zur niederländischen und deutschen Grenze und unter Berücksichtigung der überwiegend vorherrschenden Windrichtung auch unmittelbar auf Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein- Westfalen auswirken und in einer Katastrophe enden. Das Aus für die Kernreaktoren in Doel war ursprünglich für das Jahr 2015 geplant. Trotz Auslaufens der planmäßigen Laufzeit eines Kernreaktors wurde im Juni 2015 von der belgischen Regierung per Gesetz die Laufzeit für Doel 1 und Doel 2 um 10 Jahre verlängert. Auch der Betrieb von Tihange 1 wurde per Gesetz um 10 Jahre bis 2025 verlängert. Zwei belgische Umweltverbände erhoben Klage gegen diese Laufzeitverlängerung, weil diese ohne Umweltverträglichkeitsprüfung und Beteiligung der Öffentlichkeit erfolgt ist. Mit dieser Klage musste sich schließlich der Europäische Gerichtshof (EuGH) befassen. Am 29.11.2018 wurden die Schlussanträge im Vorabentscheidungsverfahren vorgetragen. Die Generalanwältin beim EuGH bezweifelte in ihrem Schlussantrag die Rechtmäßigkeit der Laufzeitverlängerung. Sie vertrat die Auffassung, Belgien hätte vor der Laufzeitverlängerung eine Umweltverträglichkeitsprüfung und ein Verfahren unter Beteiligung der Öffentlichkeit durchführen müssen.1 Mit Datum vom 29.07.2019 ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-411/17 ergangen. Demnach folgen die Richter der Stellungnahme der Generalanwältin aus November 2018 und kommen zu dem Ergebnis, dass für das belgische 1 https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2018-11/cp180186de.pdf LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7217 2 Gesetz über die Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke Doel 1 und Doel 2 eine vorherige Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich gewesen wäre. Folglich ist das Gesetz über die Verlängerung der Laufzeit von Doel 1 und Doel 2 rechtswidrig erlassen worden.2 Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs muss ein solches Projekt zwingend einer Prüfung in Bezug auf seine Auswirkungen auf die Umwelt gemäß der UVP-Richtlinie unterzogen werden. Diese Prüfung muss vor dem Erlass eines Gesetzes, mit dem die Laufzeit der betreffenden Kraftwerke verlängert wird, stattfinden. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs sagt klar, die Wirkungen des Gesetzes über die Laufzeitverlängerungen können ausnahmsweise aufrechterhalten bleiben, wenn ein Fall einer schwerwiegenden und tatsächlichen Gefahr der Unterbrechung der Stromversorgung vorliegen würde. Im Umkehrschluss bedeutet das, die Belgier dürften mindestens die in ihrer Laufzeit rechtwidrig verlängerten Atomreaktoren Doel 1 und Doel 2 nicht weiter betreiben, wenn keine konkrete Gefahr der Unterbrechung einer Stromversorgung besteht. Der Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie hat die Kleine Anfrage 2816 mit Schreiben vom 22. August 2019 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz und dem Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales beantwortet. 1. Im Januar 2019 äußerte sich die Landesregierung zu den damals neusten Entwicklungen am EuGH bezüglich einer Laufzeitverlängerung der Kernreaktoren Doel 1und Doel 2 mit dem Verweis, es handele sich um ein noch nicht abgeschlossenes Verfahren, das zunächst abzuwarten sei (DS 17/4824). Wie bewertet die Landesregierung das am 29.07.2019 ergangene Urteil des EuGH zu den Kernreaktoren Doel 1 und Doel 2, auch im Hinblick auf andere Kernreaktoren in Belgien, deren Laufzeit verlängert wurde (beispielsweise Tihange 1, 2)? Die Landesregierung begrüßt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und sieht sich in ihrer Rechtsauffassung bestätigt. Nun liegt erstmals eine höchstrichterliche Entscheidung vor, dass auch für atomrechtliche Laufzeitverlängerungen eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen ist unabhängig davon, ob die Verlängerung aufgrund eines Gesetzes oder einer behördlichen Entscheidung vorgenommen wird. Positiv zu bewerten ist ebenfalls die Feststellung des EuGH, dass Laufzeitverlängerungen von zehn Jahren - wie in den vorliegenden Fällen - einen erheblichen Zeitraum darstellen und damit eine Situation der Neubewertung entsteht, die mit der ursprünglichen Zulassungsentscheidung bei Errichtung der Anlage vergleichbar ist. Und diese Neubewertung sollte mit einer grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung einhergehen. Bezüglich des Atomkraftwerks Tihange 1 ist derzeit die Klage, gerichtet auf Aufhebung der Genehmigung zum Weiterbetrieb, anhängig. Da in diesem Fall ebenfalls eine Laufzeitverlängerung ohne Umweltverträglichkeitsprüfung vorgenommen wurde, liegt wohlmöglich nun auch hier ein Verstoß gegen EU-Recht vor. Dies wird vom zuständigen belgischen Gericht zu berücksichtigen sein. 2 https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2019-07/cp190100de.pdf LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7217 3 2. Wie wird die Landesregierung das jüngst ergangene Urteil des EuGH hinsichtlich der rechtswidrigen Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke Doel 1 und Doel 2 konkret nutzen, um den Ausstieg Belgiens aus der Atomenergie voranzutreiben? Die Landesregierung vertritt die Auffassung, dass das Urteil des EuGH ihre Position bei ihrer eigenen Beschwerde beim Sekretariat der Espoo-Konvention stärkt. 3. Welche Schritte hat die Landesregierung seit der Beantwortung der Kleinen Anfrage 1794 (DS 17/4430) konkret unternommen, um auf eine Abschaltung der Atomkraftwerke in Belgien (auch zum Schutze nordrhein-westfälischer Bürger) hinzuwirken? Es wird auf die Antwort der Landesregierung zu Kleinen Anfrage 1777 (LT-Drs. 17/4822) verwiesen. Die Beantwortung der Kleinen Anfrage 1794 durch die Landesregierung (LT-Drs. 17/4824) erfolgte am 15. Januar 2019. Herr Ministerpräsident Armin Laschet und ich haben das Thema in verschiedenen Gesprächen mit belgischen Regierungsvertretern erörtert. Im Dezember 2018 kam es zum Ende der bisherigen belgischen Regierungskoalition. Im Mai 2019 wurde ein neues Parlament in Belgien gewählt. Eine neue föderale belgische Regierung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gebildet. 4. Welchen Sachstand gibt es hinsichtlich der am 08. März 2016 eingelegten Beschwerde der Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz gegen die ohne grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung genehmigte Laufzeitverlängerung der belgischen Kernkraftwerke Tihange 1, Doel 1 und Doel 2 beim Sekretariat der Espoo-Konvention zu vermelden? Das Verfahren ist weiterhin anhängig. Die Prüfung der Beschwerde durch das Espoo- Implementation-Committee dauert an. 5. Laut Urteil des EuGH vom 29.07.2019 darf die Wirkung des Gesetzes zur Laufzeitverlängerung von Doel 1 und Doel 2 nur im Falle einer tatsächlichen Gefahr der Unterbrechung der Stromversorgung aufrechterhalten bleiben. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung hinsichtlich der Kapazitäten der Stromversorgung Belgiens ohne den Betrieb der beiden Reaktoren Doel 1 und Doel 2? Die Möglichkeiten einer Stromversorgung Belgiens im Falle eines Atomausstieges sind bereits zuvor einschlägig untersucht und dem Landtag dargelegt worden. Insofern wird auf das Gutachten „Diskussionsbeitrag zur Stromversorgung Belgiens im Falle eines Atomausstieges des Büros für Energiewirtschaft und technische Planung GmbH (BET) sowie deren Unterauftragnehmer Institut für Elektrische Anlagen und Energiewirtschaft, Lehrstuhl Univ.- Prof. Dr.-Ing. Albert Moser (IAEW, RWTH Aachen) vom 9. Dezember 2016 (LT-Drs. 16/4692) verwiesen. Die damals noch in Planung befindlichen beiden Interkonnektoren nach England und Deutschland mit jeweils einem Gigawatt Leistung wurden mittlerweile genehmigt. Der Interkonnektor „Nemo-Link“ (BE-UK) wurde im März 2019 in Betrieb genommen. Der Interkonnektor „ALEGrO“ (D-BE) befindet sich seit dem Spatenstich durch Herrn Ministerpräsidenten Laschet im Oktober 2018 im Bau. Eine Fertigstellung und Inbetriebnahme ist für nächstes Jahr vorgesehen. Weitergehend haben sich Belgien und das Vereinigte Königreich auf einen zweiten Interkonnektor selber Größenordnung zwischen Flandern und Südengland verständigt. Dieser ist in der europäischen Bedarfsplanung europarechtlich LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7217 4 verankert (sog. Unionsliste der TEN-E-Verordnung 347/2013, Fortschreibung November 2017). Zudem hat die RWE Generation SE im Oktober 2018 angekündigt, bei ihrem Gaskraftwerk Claus C mit 1,3 GW Leistung in Maasbracht in den Niederlanden nahe der Grenze zu Belgien bis Ende 2020 wieder die Betriebsbereitschaft herzustellen.