LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/7335 05.09.2019 Datum des Originals: 05.09.2019/Ausgegeben: 10.09.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2851 vom 8. August 2019 des Abgeordneten Rüdiger Weiß SPD Drucksache 17/7117 Wie geht die Landesregierung mit dem bevorstehenden Brexit um? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage In ihrem Koalitionsvertrag unterstreicht die Landesregierung „die engen und vertrauensvollen Beziehungen zu Großbritannien“, die sie weiter „pflegen und intensivieren“ möchte. Gleichzeitig verspricht sie „die Alltagsprobleme der vom Brexit betroffenen Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen nach dem Brexit im Blick [zu] behalten“ und Hilfe anzubieten. Die Einsetzung eines Brexit-Beauftragten hält sie für nötig um „Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen auf die Folgen des Brexit vorzubereiten und neue Perspektiven für die Beziehungen zu entwickeln“ (S. 115). Die Dramatik des Austrittswunsches Großbritanniens aus der EU wird durch die aktuellen politischen Entwicklungen vor Ort weiter verschärft. Zwei Austrittstermine aus der Europäischen Union hat Großbritannien bereits verstreichen lassen, der kommende steht mit dem 31.10.2019 kurz bevor. Mit der Wahl von Boris Johnson zum Vorsitzenden der Conservative and Unionist Party und der damit einhergehenden Übernahme des Premierministerpostens steigt auch, vor allem in Anbetracht der Neubesetzung des Kabinetts Johnsons, die Wahrscheinlichkeit eines sogenannten harten Brexit. Die Landesregierung behauptete zwar Anfang des Jahres, sie sei auf alle möglichen Brexit- Szenarien vorbereitet,1 doch was steckt tatsächlich hinter dieser Aussage? Konstatiert werden kann ihr bestenfalls, dass sie sich um das Allernotwendigste kümmert, um sich nicht dem Vorwurf der Arbeitsverweigerung auszusetzen: - Sie hat ein Normenkontrollverfahren durchgeführt und ein Brexitübergangsgesetz als Formalität für den Fall eines geordneten Brexit eingebracht. 1 https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/nordrhein-westfalen-ist-auf-alle-brexit-szenarien-vorbereitet LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7335 2 - Sie führt Gespräche auf den unterschiedlichen Hierarchieebenen (Interministerielle Arbeitsgruppe „Brexitfolgen“, Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Brexit“) - Sie hat ohnehin fachlich zuständige Regierungsangestellte als Kontaktpersonen für eine „Hotline“ benannt. Doch ist das wirklich angemessen für eine historisch einmalige, politische Ausnahmesituation, die Ministerpräsident Armin Laschet selbst im ungeordneten Brexit-Fall als „große Gefahr“ sieht und mit dem Verlust von 100.000 Arbeitsplätzen in NRW rechnet?2 Ihr weiteres „Engagement“ beschränkt sich darauf, eine „NRW-Repräsentanz in London“ errichtet zu haben, die eigentlich 70km außerhalb von London liegt, lange Zeit nicht einmal ein Türschild hatte und von einem Berater neben anderen Projekten betrieben wird.3 Auf den politischen und medialen Druck hin scheint es nun zumindest Räumlichkeiten in London zu geben. Auch die von der Regierung in Auftrag gegebene „Brexit-Studie“ des Instituts der Deutschen Wirtschaft ist ein „Flop“: Unternehmen werden befragt, wie gut sie auf den Brexit vorbereitet sind, Vergleichsregionen analysiert und ein eintägiger Workshop zusammengefasst.4 Wie das Land sich konkret vorbereiten sollte, welche Unterstützungsmöglichkeiten es gerade den unvorbereiteten Unternehmen bietet, welche Rahmenbedingungen angepasst werden müssten, wie der Standort NRW konkret attraktiver gemacht werden kann (z.B. durch intensive Forschungskooperationen oder einen erleichterten Neustart von Fachkräften nach einem Zuzug) – all diese entscheidenden Fragen bleiben im Dunklen. Abgesehen davon kommt das Ergebnis der Studie ein Jahr zu spät – wie hätte die Landesregierung innerhalb von zehn Tagen vor dem ursprünglichen Austrittsdatum die Ergebnisse des „Brexit.-Projekts“ in konkretes Handeln umsetzen sollen? Für sämtliche andere Szenarien – etwa ein neu verhandeltes Austritts-Abkommen oder einen harten Brexit – gibt es nur wenige konkrete, öffentlich zugänglichen Informationen zum Stand der Vorbereitung der Landesregierung. Sie zieht sich immer wieder auf die Aussagen zurück, man wisse ja nicht genau, wie der Brexit aussähe, wenn er denn käme. Deshalb müsse man abwarten. Doch gutes Regierungshandeln zeichnet sich doch gerade dadurch aus, proaktiv auf alle Szenarien bestmöglich vorbereitet zu sein und vorab die nötigen Weichen zu stellen. Angesichts der relativ hohen Wahrscheinlichkeit eines ungeordneten Brexit in zwei Monaten und der nur kraftlos und reaktiv kaum genutzten Vorbereitungszeit von mehreren Jahren, grenzt es an Fahrlässigkeit, mit konkreten Maßnahmen bis nach dem tatsächlichen Brexit zu warten, wenn das Hauptaugenmerk auf der Bewältigung der akuten Auswirkungen liegen wird – was sogar von den Sachverständigen in der letzten Sitzung der Enquetekommission „Brexit: Auswirkungen auf NRW“ am 25. Juni im Landtag angemahnt wurde. Darüber hinaus würde eine aktivere Informationspolitik seitens der Landesregierung in Bezug auf den Vorbereitungsstand und die möglichen Auswirkungen des Brexit - nicht zuletzt auf die beinahe 30.000 in NRW lebenden Britischen Bürgerinnen und Bürger – für deutlich mehr Transparenz sorgen und ihre Sorgen effektiv auffangen. Forderungen nach einer landesweiten Informationskampagne wurden beispielsweise im Rahmen der Stellungnahme von British in 2 https://www.aachener-zeitung.de/nrw-region/armin-laschet-ungeordneter-brexit-gefaehrdet-viele-jobs-innrw _aid-35696053 sowie https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/brexit-folgen-nrw-102.html 3 https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/nordrhein-westfalen-eroeffnet-buero-london-zur-foerderung-der sowie https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/brexit-folgen-nrw-102.html 4 https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/institut-der-deutschen-wirtschaft-legt-abschlussbericht-zur-brexitstudie -vor LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7335 3 Germany e.V. zur Sachverständigenanhörung der Brexit Enquete im nordrhein-westfälischen Landtag am 10.05.2019 eingebracht5. Die Landesregierung stellt in einigen Bereichen in Aussicht, dass NRW vom Brexit profitieren könne6. So sei NRW vor allem als Standort für Unternehmen interessant, stellte beispielsweise der Brexit-Beauftragte im März 2018 fest7. Ob die Landesregierung in diesem Zusammenhang etwas vorzuweisen hat, bleibt allerdings unklar. Dem Wirtschaftsministerium zufolge haben Ende 2018 nicht mehr als sieben Unternehmen Interesse bekundet, nach NRW zu kommen – unterschrieben sei aber noch nichts.8 In einer Pressemitteilung vom 21.03.2019 wiederum erklärt Minister Pinkwart, seit dem Brexit-Referendum hätten sich fast 100 britische Unternehmen in Nordrhein-Westfalen angesiedelt.9 Einen detaillierten Überblick über aus dem Brexit resultierende Unternehmensansiedelung scheint die Landesregierung ebenso wenig zu haben, wie einen Einfluss auf die Standortverlegung von Unternehmen nach NRW. Über tatsächlich aktive Standortpolitik hinaus sollte die Landesregierung auf sich aus dem Brexit möglicherweise ergebende Änderungen der Wettbewerbsbedingungen durch veränderte Umfeld- (z.B. Umwelt-/Klima-, Verbraucherschutz-, Sozial- und Beschäftigungsstandards als auch Steuerkoordinierung) sowie Rechtsregeln (z.B. staatliche Beihilfe, gleiche Wettbewerbsbedingungen) vorbereitet sein. Ein Bewusstsein für daraus potentiell resultierende Wettbewerbsnachteile und die Erarbeitung eines möglichen Handlungskorridors wäre etwa ein proaktiver, verantwortungsvoller Umgang mit den drohenden Brexit-Szenarien gewesen. Nicht zuletzt innenpolitisch könnte ein ungeordneter Brexit ein Erdbeben in der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit auslösen: Etwa der wechselseitige Datenaustausch mit dem Vereinigten Königreich würde abrupt enden, d.h. Straftäter, die aus dem Vereinigten Königreich kommen, könnten leichter in NRW abtauchen. Auch die Verpflichtung Haftbefehle wechselseitig zu vollstrecken würde erlöschen.10 Es ist mehr als dringend für diesen Fall Sonderverträge abzuschließen, doch auch hierfür ist die Zeit längst zu knapp geworden. Die Versprechungen der schwarz-gelben Landesregierung bleiben auch knapp zweieinhalb Jahre nach Übernahme der Regierungsgeschäfte unkonkret und sie bleibt einen Nachweis über deren Verwirklichung oder zumindest die hierzu unternommenen Anstrengungen schuldig. Wenn sie handelt, dann reaktiv und heillos zu spät. Der Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales hat die Kleine Anfrage 2851 mit Schreiben vom 5. September 2019 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration, dem Minister des Innern und dem Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie beantwortet. 5 Landtag Nordrhein-Westfalen, Stellungnahme 17/1438 A41 6 https://www.welt.de/regionales/nrw/article174623559/NRW-koennte-vom-Brexit-profitieren.html 7 https://www.wz.de/wirtschaft/merz-will-den-brexit-fuer-nrw-versilbern_aid-25778355 8 https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/brexit-folgen-nrw-102.html 9 Siehe Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Presseinformation 233/03/2019 10 siehe Berichte vom 26. Juli 2019 in den Aachener Nachrichten und der Rheinischen Post vom 11. Juli 2019 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7335 4 1. Wie sieht das „umfangreiche Beratungsangebot“ der Landesregierung für Unternehmen aus, unabhängig vom Engagement der Industrie- und Handelskammern? Die Industrie- und Handelskammern fungieren im wirtschaftsbezogenen Beratungsgefüge als erste Interessenvertreter und Servicedienstleister für Unternehmen und haben in dieser Funktion eine Vielzahl von brexitbezogenen Beratungsangeboten entwickelt. Die Landesregierung ist daher insbesondere in Ergänzung zu den vorhandenen Beratungsangeboten tätig geworden. So hat die Landesregierung unter anderem eine gemeinsame Beratungsveranstaltung mit IHK NRW ausgerichtet und die Zenit GmbH beauftragt, eine brexitspezifische Beratung für Unternehmen anzubieten. Die Landesregierung steht zur Vorbereitung auf den Brexit zudem in engem und kontinuierlichem Kontakt mit den Industrie- und Handelskammern und tauscht sich ebenso mit Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften, Zollbehörden und Wissenschaft aus. Ziel ist es, die nordrhein-westfälischen Unternehmen im Rahmen von gemeinsamen Abstimmungen bestmöglich auf den Brexit vorzubereiten. Dabei erfolgt auch ein Austausch über bereits zur Verfügung stehende Beratungsangebote für Unternehmen sowie möglicherweise nötigen Ergänzungsbedarf. Über die landeseigene Wirtschaftsförderungsgesellschaft NRW.INVEST hat die Landesregierung darüber hinaus bereits den Kontakt mit Unternehmen in Großbritannien intensiviert und stellt in diesem Rahmen Service- und Beratungsangebote für im Vereinigten Königreich tätige Unternehmen zur Verfügung. Außerdem unterstützt und berät Herr Friedrich Merz die Landesregierung in seiner Funktion als Beauftragter für die Folgen des Brexit ehrenamtlich und führt Gespräche mit Unternehmen. Des Weiteren stellt die Landesregierung auf ihren Internetseiten Hinweise und Informationen für Unternehmen zum Brexit zur Verfügung. Für die telefonische Erreichbarkeit s. Antwort auf Frage 3. 2. Wie viele Unternehmen haben nachweislich auf Betreiben der Landesregierung im Zuge des Brexit bisher einen Standort in NRW angesiedelt? (Bitte auflisten nach Unternehmen, Standort, Zahl der in NRW Beschäftigten und Branche) Die Landesregierung wirbt, unter anderem über die landeseigene Wirtschaftsförderungsgesellschaft NRW.INVEST, im Vereinigten Königreich für den Standort Nordrhein-Westfalen. Allerdings werden Entscheidungen über Ansiedlungen von den Unternehmen selbst getroffen. Nordrhein-Westfalen ist aufgrund seiner Standortfaktoren attraktiv für britische Unternehmen. Vor diesem Hintergrund haben sich 86 Unternehmen seit dem Referendum im Juni 2016 aus dem Vereinigten Königreich in Nordrhein-Westfalen angesiedelt. Darüber hinaus hat NRW.INVEST im selben Zeitraum weitere 20 Unternehmen aus dem Vereinigten Königreich für eine Ansiedlung in Nordrhein-Westfalen geworben. Mit den Ansiedlungen in Nordrhein- Westfalen sollen insgesamt 2497 Arbeitsplätze geschaffen werden. Ob und inwieweit Unternehmen im Hinblick auf ihre Ansiedlungsentscheidung mit dem Brexit in Verbindung gebracht werden wollen, entscheiden sie selbst. Die über NRW.INVEST oder aufgrund sonstiger Gespräche der Landesregierung oder des Brexit-Beauftragten erfolgenden Ansiedlungen werden grundsätzlich vertraulich behandelt. Unternehmensnamen können insofern aus Gründen der Vertraulichkeit nicht genannt werden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7335 5 3. Wie ist die Brexit-Hotline der Landesregierung aktuell ausgestattet? (Bitte auflisten nach Personal, Ressortbeteiligung und Erreichbarkeit) Die Landesregierung hat die telefonischen Kontaktdaten von vier Ansprechpersonen zum Thema Brexit in der Staatskanzlei sowie dem Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie auf der Website, auf der sie über den Brexit und seine Auswirkungen informiert, veröffentlicht. Über die im federführenden Referat der Staatskanzlei tätigen Ansprechpersonen ist auch die Weitervermittlung von Anliegen und Erreichbarkeit aller weiteren Ressorts gewährleistet. 4. Ist eine Informationskampagne wie von „British in Germany e.V.“ gefordert, geplant? Die Landesregierung stellt auf www.land.nrw/de/brexit bereits Informationen zum Brexit, besonders auch für Privatpersonen, zur Verfügung. Außerdem leitet die Landesregierung aktuelle Informationen z.B. im Bereich des Aufenthaltsrechts von der Bundesebene an die kommunalen Ausländerbehörden weiter und steht auch telefonisch und per E-Mail selbst für Anfragen britischer Staatsangehöriger zur Verfügung. Darüber hinaus war die Landesregierung auch bei einer Informationsveranstaltung des britischen Generalkonsulats auf Fachebene vertreten. Der Landesregierung liegen vor dem Hintergrund dieses Informationsangebots keine Hinweise vor, die auf ein Informationsdefizit seitens britischer Staatsangehöriger in Nordrhein-Westfalen schließen lassen. 5. Wie gedenkt die Landesregierung sich auf die innenpolitischen Schwierigkeiten eines ungeordneten Brexit, insbesondere auf das möglicherweise abrupte Ende des polizeilichen Datenaustauschs mit dem Vereinigten Königreich, vorzubereiten? Die Landesregierung ist nicht befugt, Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich über den polizeilichen Datenaustausch zu führen oder entsprechende Verträge abzuschließen. Der zukünftige Informations- und Datenaustausch über EU-Informationssysteme muss über Drittstaatenabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union geregelt werden. Die Zuständigkeit für die Verhandlung bilateraler Abkommen liegt bei der Bundesregierung. Der Austausch mit der Bundesregierung über diese Fragen ist eng und vertrauensvoll.