LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/7407 12.09.2019 Datum des Originals: 12.09.2019/Ausgegeben: 18.09.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2840 vom 6. August 2019 des Abgeordneten Ibrahim Yetim SPD Drucksache 17/7106 Was plant die Landesregierung zur sprachlichen Integration von Kindern und Jugendlichen? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die regierungstragenden Fraktionen haben sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, für alle vierjährigen Kinder eine verbindliche Feststellung der Sprachfähigkeit und verpflichtenden Sprachunterricht bei Defiziten sicherzustellen. Außerdem soll die Förderung der Mehrsprachigkeit weiterentwickelt werden. Der Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration hat die Kleine Anfrage 2840 mit Schreiben vom 12. September 2019 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Schule und Bildung beantwortet. 1. Wie wird die Landesregierung die verbindliche Feststellung der Sprachfähigkeit bei vierjährigen Kindern sicherstellen? 2. Welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung, um die verbindliche Sprachförderung bei Defiziten zu gewährleisten? Die Fragen 1 und 2 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Gem. § 36 Abs. 2 des Schulgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (SchulG) stellt das Schulamt zwei Jahre vor der Einschulung fest, ob die Sprachentwicklung der Kinder altersgemäß ist und ob sie die deutsche Sprache hinreichend beherrschen. Die Feststellung nach Satz 1 gilt bei Kindern als erfüllt, die eine Kindertageseinrichtung besuchen, in der die sprachliche Bildung nach Maßgabe des § 13c in Verbindung mit § 13b Kinderbildungsgesetz (KiBiz) gewährleistet ist. Für die Feststellung des Sprachstandes bei Kindern, die keine LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7407 2 Kindertageseinrichtung besuchen bzw. deren Eltern einer Bildungsdokumentation nicht zugestimmt haben, kommt das landesweit einheitliche Instrument Delfin 4 zum Einsatz. Beherrscht ein Kind nach der Feststellung nach § 36 Abs. 2 Satz 1 SchulG die deutsche Sprache nicht hinreichend und wird es nicht nachweislich in einer Kindertageseinrichtung sprachlich gefördert, soll das Schulamt das Kind verpflichten, an einem vorschulischen Sprachförderkurs teilzunehmen. Hierdurch soll gewährleistet werden, dass jedes Kind vom Beginn des Schulbesuchs dem Unterricht folgen und sich daran beteiligen kann. In diesen Fällen stellt das Jugendamt nach § 21b Abs. 2 KiBiz sicher, dass auch diese Kinder mit den Landeszuschüssen für zusätzlichen Sprachförderbedarf (§ 21b KiBiz) gefördert werden. Kindertageseinrichtungen, die Sprachfördermittel nach § 21b KiBiz erhalten, und Familienzentren kommt hierbei eine besondere Rolle zu. In der Regel werden die Eltern auch aufgefordert, ihre Kinder in einer Kindertageseinrichtung betreuen zu lassen. Die Schulen sind verpflichtet, das Schulamt bei der Durchführung der Sprachstandsfeststellung zu unterstützen; hierbei ist auch eine Zusammenarbeit mit den Kindertageseinrichtungen und der Jugendhilfe anzustreben. Bei Kindern, die eine Kindertageseinrichtung besuchen, erfolgt die Sprachbildung alltagsintegriert. Damit werden alle Kinder von Beginn an in der Entwicklung ihrer sprachlichen Kompetenzen begleitet und unterstützt. Die Sprachentwicklung wird beobachtet und dokumentiert (§ 13c KiBiz). Welche Beobachtungsverfahren angewendet werden können, wurde gemeinsam mit den Trägern von Tageseinrichtungen für Kinder, den Landesjugendämtern und der Wissenschaft in den fachlichen Grundlagen „Alltagsintegrierte Sprachbildung und Beobachtung im Elementarbereich – Grundlagen für Nordrhein-Westfalen“ festgelegt. Eine an Qualitätskriterien orientierte Sprachbildung, der Einsatz von geeigneten Beobachtungsverfahren sowie gute Qualifizierungsangebote für die pädagogischen Fachkräfte und Teams der Einrichtungen unterstützen die Praxis. Mit dem Gesetzentwurf der Landesregierung zur qualitativen Weiterentwicklung der frühen Bildung (Drucksache 17/6726) wird klargestellt, dass die Beobachtungs- und Dokumentationsergebnisse der Förderplanung im pädagogischen Alltag dienen und maßgebliche Grundlage einer individuellen alltagsintegrierten Sprachbildung und -förderung sind. Wird demnach ein spezifischer Förderbedarf festgestellt, so ist abgeleitet aus diesen Ergebnissen eine gezielte individuelle Förderung und Lernanregung zu gewährleisten. Der Gesetzentwurf sieht zudem vor, dass in den pädagogischen Konzeptionen der Einrichtungen der Prozess von der strukturierten Beobachtung zur zielgerichteten Planung individueller Unterstützungsangebote und die Umsetzung sprachlicher Bildungs- und Interaktionsangebote im pädagogischen Alltag beschrieben werden. Eine wichtige Rolle kommt dabei auch den Trägern zu. Sie müssen im Rahmen einer kontinuierlichen Qualitätsentwicklung auch in Bezug auf die Qualifizierung des Personals dafür Sorge tragen, dass die alltagsintegrierte Sprachbildung aller Kinder und die Förderung der Kinder mit sprachlichem Unterstützungsbedarf verbindlich sichergestellt werden. Das Land unterstützt die Träger bei ihren Aufgaben. Neben Landesmitteln fließen künftig auch Mittel nach dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung in diese wichtigen Handlungsfelder. Für die kontinuierliche Qualifizierung ist mit dem „Gesetzentwurf der Landesregierung zur qualitativen Weiterentwicklung der frühen Bildung“ (Drucksache 17/6726) eine Erhöhung der Fortbildungsmittel von fünf Millionen Euro auf zehn Millionen Euro geplant. Darüber hinaus ist mit dem Gesetzentwurf erstmalig eine gesetzlich verankerte Förderung der Fachberatung, die für die Qualitätsentwicklung in der Kindertageseinrichtung - auch im Bereich der Sprachbildung - unerlässlich ist, vorgesehen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7407 3 Mit der KiBiz-Reform werden auch die Rahmenbedingungen für die alltagsintegrierte Sprachbildung verbessert. Die Grundlage für eine qualitative Weiterentwicklung der Sprachförderung wird vor allem dort erweitert, wo besonders viele Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf betreut werden. Dafür werden die Mittel für den zusätzlichen Sprachförderbedarf sowie der zusätzliche Zuschuss für die plusKITAs zusammengeführt und auf insgesamt 100 Millionen Euro jährlich erhöht. Mit diesem Betrag werden die Kindertageseinrichtungen mit einem hohen Anteil von Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf, insbesondere mit einem sprachlichen Förderbedarf, mit einem zusätzlichen, erhöhten Zuschuss finanziell unterstützt. Mit diesem Betrag wird gewährleistet, dass in der entsprechenden Kita mindestens eine halbe Fachkraftstelle für die besonderen Aufgaben der plusKITA, zu der auch die Sprachbildung zählt, eingerichtet werden kann. Durch diese erhöhten finanziellen Mittel für Personalkraftstunden wird gewährleistet, dass eine gezielte Sprachförderung nach dem individuellen Bedarf der Kinder, die eine besondere Unterstützung in der deutschen Sprache benötigen, geleistet werden kann. Neben dieser zusätzlichen sozialpädagogischen Fachkraft, die in der Regel über nachgewiesene besondere Erfahrungen und Kenntnisse im Bereich der Umsetzung alltagsintegrierter Sprachbildung und -förderung verfügt, sollen auch alle anderen pädagogischen Kräfte in einer Kindertageseinrichtung grundsätzlich in diesem Bereich fortgebildet sein und sich kontinuierlich weiter qualifizieren. Künftig werden die Mittel für plusKITAs dynamisiert und entsprechend der tatsächlichen Kostenentwicklung angepasst. 3. Wie möchte die Landesregierung die Mehrsprachigkeit fördern und weiterentwickeln? 4. Welche entsprechenden Maßnahmen des Landes sind geplant? Die Fragen 3 und 4 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Mehrsprachigkeit ist Alltag in vielen Familien. Die Broschüre „Mehrsprachigkeit und Bildung von Anfang an - Mit Kindern Familiensprache(n) sprechen und Bildungswege kennenlernen“ soll „junge Eltern“ erreichen und im Rahmen der Willkommensbesuche, die nahezu in jeder Kommune stattfinden, verteilt werden. So wird das Personal der Willkommensbesuche für das Thema Mehrsprachigkeit sensibilisiert und kann mit der Broschüre passgenaue und interessante Informationen an die Familien weitergeben. Dies ist umso wichtiger, da Familien oftmals durch unsystematische, unterschiedliche und schlimmstenfalls widersprüchliche Informationen zum Umgang mit der eigenen Mehrsprachigkeit und dem sinnvollen Einbezug der Umgebungssprache Deutsch verunsichert werden. Insbesondere Familien mit Fluchterfahrung oder neu eingewanderte Familien benötigen verlässliche, klare und nutzbare Informationen, die mehrsprachig zur Verfügung stehen. Das Material soll in mehreren Sprachen zur Verfügung stehen und in digitaler und analoger Form veröffentlicht werden. Auch das Kinderbildungsgesetz hebt hervor, dass Mehrsprachigkeit von Kindern in der Kindertagesbetreuung anzuerkennen und zu fördern ist. Im Rahmen bestehender Möglichkeiten soll die Sprachentwicklung auch in anderen Familiensprachen beobachtet und gefördert werden. Bestandteil der nordrhein-westfälischen Integrationspolitik ist zudem der Herkunftssprachliche Unterricht (HSU). HSU findet in der Primarstufe und in Schulen der Sekundarstufe l statt. In der Primarstufe wird der HSU eingerichtet, wenn mindestens 15 Schülerinnen und Schüler mit LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7407 4 derselben Herkunftssprache angemeldet werden. Zurzeit gibt es in Nordrhein-Westfalen HSU in 23 Sprachen. Nachdem der Haushalt 2019 50 zusätzliche Lehrerstellen vorsieht, stehen nun insgesamt 936 Lehrerstellen zur Erteilung des HSU zur Verfügung. Neben dem grundständigen Unterrichtsangebot für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche bietet die Landesregierung zusätzlich die Maßnahme FerienlntensivTraining = FIT in Deutsch an. Die Maßnahme soll die Deutschförderung während der üblichen Schulzeiten durch eine zusätzliche Förderung in der Ferienzeit ergänzen und so die Sprachkompetenzen der Schülerinnen und Schüler entscheidend verbessern. Zentrales Ziel ist ein individueller Lernzuwachs in der deutschen Sprache zur Steigerung der Kommunikations- und Handlungsfähigkeit und eine Steigerung der Alltagskompetenz. Das FerienIntensivTraining - FIT in Deutsch wird in NRW flächendeckend in den Oster-, Sommer- und Herbstferien angeboten. 2018 wurden insgesamt 341 Maßnahmen durchgeführt, an denen rund 5000 neuzugewanderte Kinder und Jugendliche teilnahmen. Darüber hinaus fördert das Land Programme, die von den Kommunalen Integrationszentren in Nordrhein-Westfalen umgesetzt werden rund um die Themen „Durchgängige sprachliche Bildung“, „Mehrsprachigkeit“ und „Erziehungs- und Bildungspartnerschaften mit Familien“. Damit unterstützen sie Familien, Bildungsinstitutionen, Einrichtungen der Kinderbetreuung und Tagespflege sowie deren Fachpersonal bei der (frühen) Bildung der Kinder und bei der eigenen Qualifikation rund um diese Themenfelder. Angeboten werden beispielsweise bewährte Programme wie „Griffbereit“ und „Rucksack KiTa“ sowie „Rucksack Schule“ für eine alltagsintegrierte Sprachförderung. „Griffbereit“ ist ein Familienbildungsprogramm für Familien mit und ohne Einwanderungsgeschichte und ihre Kinder zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr. Das Programm wird in Kindertageseinrichtungen oder Familienzentren, Familienbildungsstätten und Migrantenorganisationen angeboten. Hier werden die Familien früh an das Bildungssystem herangeführt. „Griffbereit“ fördert die frühkindliche Entwicklung durch konkrete kleinkindgerechte Aktivitäten und schafft eine wichtige Grundlage zum Erwerb von Sprachkompetenz. Das Programm ermöglicht Familien bzw. Eltern, selbst die Akteure zu sein, denn sie sind erste Sprachvorbilder und haben den engsten Bezug zu ihren Kindern im Alltag. In sogenannten Griffbereit-Gruppen erfahren sie, wie sie ihre Kinder in der allgemeinen und sprachlichen Entwicklung stärken können. Dabei werden sie von geschulten, meist mehrsprachigen Elternbegleiterinnen und Elternbegleitern unterstützt. Kleinkinder mit und ohne Einwanderungsgeschichte kommen so schon sehr früh mit der deutschen Sprache und mit weiteren Sprachen in Kontakt. Somit bietet Griffbereit die Möglichkeit, die Mehrsprachigkeit als Potenzial der Kinder aufzugreifen. Die Mittel für diesen Bereich der Integrationschancen für Kinder und Familien sind ab 2018 um 1,8 Mio Euro erhöht worden. Die Landesregierung misst den fremdsprachlichen Fächern eine hohe Bedeutung zu. Mehrsprachigkeit ist eine der Stärken unseres Landes. Das breite Angebot, die intensive und anwendungsorientierte Förderung des Fremdsprachenlernens sorgen dafür, dass unsere Schülerinnen und Schüler die gelebte Mehrsprachigkeit in unserem Land erfahren und auf die Herausforderungen unserer mehrsprachigen Welt vorbereitet werden. Elf moderne Fremdsprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch, Türkisch, Russisch, Chinesisch, Japanisch, Neugriechisch, Portugiesisch) werden an unseren Schulen angeboten. Kernlehrpläne sorgen in allen elf Fremdsprachen dafür, dass der Unterricht auf hohe und verbindliche Standards ausgerichtet ist. Je nach Schulform haben Schülerinnen und Schüler daher im Laufe ihrer Bildungslaufbahn die Möglichkeit, bis zu vier Fremdsprachen zu lernen. Einen besonderen Beitrag zur Mehrsprachigkeit liefert der bilinguale Unterricht, dessen Bedeutung in Nordrhein-Westfalen kontinuierlich zunimmt. Im Schuljahr 2018/2019 gab es insgesamt 390 Schulen verschiedener Schulformen mit bilingualem Sachfachunterricht in LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7407 5 mehreren Partnersprachen. Auch das Exzellenzlabel CertiLingua, bei dessen Entwicklung und Weiterentwicklung Nordrhein-Westfalen federführend war und weiterhin ist, fördert die Mehrsprachigkeit durch die geforderte Beherrschung zweier moderner Fremdsprachen auf hohem Niveau.