LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/7476 24.09.2019 Datum des Originals: 23.09.2019/Ausgegeben: 30.09.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2879 vom 21. August 2019 des Abgeordneten Rüdiger Weiß SPD Drucksache 17/7192 Warum kümmert sich die Landesregierung nicht darum, soziale Ungleichheit in der Europäischen Union zu bekämpfen? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Weder im Koalitionsvertrag der Landesregierung, noch in ihren europapolitischen Prioritäten für 2018 und 2019, noch in den Schwerpunkten der Landesregierung zum EMK-Vorsitz Nordrhein-Westfalens taucht die soziale Dimension der europäischen Integration als Schwerpunktbereich auf. Die Landesregierung vernachlässigt so eines der zentralen Politikfelder, das über die Zukunft des europäischen Integrationsprojekts entscheiden wird. Dabei gibt es auf europäischer Ebene eine Reihe von Initiativen und Beschlüssen, zu deren Umsetzung entschiedenes Engagement auf regionaler Ebene dringend notwendig wäre. Die Europäische Kommission hat in den letzten Jahren verstärkt die soziale Dimension europäischer Integration auf die Agenda gesetzt. In ihrem „Weißbuch zur Zukunft Europas“ und ihrem „Reflexionspapier zur Sozialen Dimension Europas“ stellt sie die Bedeutung der sozialen Dimension für die Zukunft des Integrationsprojektes heraus. Die so angestoßene Debatte wurde von den EU-Mitgliedstaaten aufgegriffen und mündete 2017 in der Proklamation der „europäischen Säule sozialer Rechte“ (ESSR). Im Rahmen dieser Proklamation bekennt sich die Europäische Union zu einem Paket von 20 Grundsätzen und Rechten, die den Schutz der Bürgerinnen und Bürger garantieren sollen. Während die ESSR zunächst als Fortschritt auf europäischer Ebene zu bewerten ist, bleibt ihre endgültige Wirkungskraft aber davon abhängig, wie ihre Umsetzung auf den anderen Ebenen gelingt. Die Europäische Kommission hat im Nachgang zur Proklamation der ESSR als Teil ihres "Social Fairness Package" im März 2018 eine Mitteilung zur Umsetzung der ESSR präsentiert. Darin betont sie, dass ihre Implementierung eine "gemeinsame politische LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7476 2 Verpflichtung und Verantwortung" einer Vielzahl von Akteuren auf unterschiedlichsten Ebenen ist.1 Explizit eingeschlossen sind hier auch regionale Akteure (ebd.). Eine Vielzahl nichtstaatlicher Akteure, darunter der DGB, spricht sich für eine rasche Umsetzung der Vorschläge der Kommission aus, etwa in Form von konkreten Aktionsplänen.2 Von der Landesregierung ist in dieser Hinsicht bedauerlicherweise nichts zu bemerken. Auch parlamentarische Initiativen wie den Antrag der SPD-Fraktion für eine Stärkung der grenzüberschreitenden sozialen Zusammenarbeit3 lehnten CDU und FDP zuletzt ab, trotz des breiten Zuspruchs von Sachverständigen in einer vorangegangenen Anhörung am 22.03.20194. Als Begründung verweisen die Koalitionsfraktionen – einmal mehr – auf Kompetenzen der Bundesebene, und erklären gleichzeitig, bei zu starker grenzüberschreitender sozialpolitischer Absicherung bestünde die Gefahr, dass vor allem südeuropäische Staaten ihre Reformbemühungen einstellten5. Der Wille, eigene proaktive Vorschläge für eine bessere grenzüberschreitende sozialpolitische Zusammenarbeit zu entwickeln ist bei der nordrhein-westfälischen Landesregierung nicht erkennbar. Auf Nachfrage, warum die Landesregierung der sozialen Dimension der Europäischen Union keinen Stellenwert im Rahmen ihrer europapolitischen Agenda einräumt, ignoriert sie die bereits vorhandenen vielfältigen Initiativen zur Harmonisierung der europäischen Sozialpolitik und entzieht sich der Diskussion mit der Argumentation, es bedürfe lediglich einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit (Vorlage 17/2153). Dass sich soziale Ungleichheit durch Ignorieren erledigt, hält die SPD-Fraktion für eine dürftige Herangehensweise6. Sie entspricht auch nicht der Ansage der neu gewählten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die der gleichen Partei angehört wie der Ministerpräsident und der Europaminister des Landes. In ihrer Bewerbungsrede als Kommissionspräsidentin hat von der Leyen die Förderung des sozialen Zusammenhalts als wichtiges Kernanliegen der EU vorgestellt. Der Kampf gegen die teilweise hohe Jugendarbeitslosigkeit müsse auf der Agenda der Kommission bleiben; deshalb mache sie sich für die Fortsetzung der Jugendgarantie stark. Ebenso zeigte sie sich offen dafür, dass je nach Region und Branche die Tarifpartner Mindestlöhne aushandeln sollten: „Ich möchte, dass Arbeit sich wieder lohnt. In einer Sozialen Marktwirtschaft sollte jeder Mensch, der Vollzeit arbeitet, einen Mindestlohn erhalten, der ihm einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht.“ Der Minister für Verkehr hat die Kleine Anfrage 2879 mit Schreiben vom 23. September 2019 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister der Finanzen beantwortet. 1 https://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-1624_en.htm 2 https://www.dgb.de/presse/++co++203b331a-ca0d-11e7-8705-52540088cada 3 Siehe Landtag Nordrhein-Westfalen, Drucksache 17/4122 4 Siehe z.B. Landtag Nordrhein-Westfalen, Stellungnahme 17/1285 A06 A01 oder Landtag Nordrhein- Westfalen, Stellungnahme 17/1289 A06 A01 5 Siehe Landtag Nordrhein-Westfalen, Plenarprotokoll 17/40 6 https://www.cdu.de/artikel/ursula-von-der-leyen-wir-muessen-kaempfen-fuer-europa LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7476 3 1. Warum kümmert sich die Landesregierung nicht darum, soziale Ungleichheit in der Europäischen Union zu bekämpfen? Die Landesregierung spricht sich dafür aus, dass bei der Weiterentwicklung der Wirtschaftsund Währungsunion auch die soziale Dimension der Europäischen Union gestärkt wird. Die soziale Dimension spielt neben den anderen Reformzielen zur Zukunft der Europäischen Union eine zentrale Rolle. Bei einer Weiterentwicklung der sozialen Dimension ist es aus Sicht der Landesregierung wichtig, die bestehende Kompetenzordnung, die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten sowie die nationalen Bedürfnisse, Leistungsfähigkeiten und Traditionen angemessen zu berücksichtigen. 2. Warum teilt die Landesregierung nicht die Auffassung, dass Deutschland sowie Nordrhein-Westfalen von besseren soziale Bedingungen in den Mitgliedstaaten ebenfalls profitieren werden? Die Europäische Union bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz. Diesem Auftrag aus Artikel 3 Absatz 3 EUV fühlt sich die Landesregierung verpflichtet. 3. Gedenkt die Landesregierung angekündigte Vorhaben der neuen Kommissionspräsidentin zu einer europäischen Rahmenrichtlinie für einen Mindestlohn, eine europäische Arbeitslosenversicherung und bereits vorgelegte Pläne für Maßnahmen zur Schaffung einer europäischen Arbeitsbehörde und einer europäischen Sozialversicherungsnummer aktiv zu unterstützen und deren Umsetzung in NRW voranzutreiben? Die Gestaltung der Sozialpolitik und der sozialen Sicherungssysteme liegt in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Landesregierung wird entsprechende Initiativen der Kommission begleiten. 4. Was hat die Landesregierung bisher unternommen, um die ESSR flankierend zu bundes- und europapolitischen Initiativen in NRW mit Leben zu füllen? Die in 2017 verabschiedete Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) und die darin verankerten 20 Grundsätze sind zwar nicht rechtsverbindlich, dienen jedoch als Kompass für die arbeits- und sozialpolitischen Aktivitäten der Mitgliedstaaten. Auch die Landesregierung orientiert sich hieran im Rahmen ihrer Zuständigkeiten und rechtlichen Möglichkeiten. Beispielhaft zu nennen sind: - das Ausbildungsprogramm NRW, der Bildungsscheck NRW und die Initiative Wirtschaft & Arbeit 4.0 (siehe 1. und 4. Grundsatz der ESSR: „Allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen“ und „Aktive Unterstützung für Beschäftigung“) - die Initiativen zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen (siehe 6. Grundsatz der ESSR „Löhne und Gehälter“ bzw. „Faire Arbeitsbedingungen“) - die breit angelegten Arbeitsschutzaktionen unter anderem bei prekären Arbeitsbedingungen in den Bereichen Paketdienste, Pflege und Fleischindustrien (siehe 10. Grundsatz der ESSR: „Gesundes, sicheres und geeignetes Arbeitsumfeld“) LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7476 4 - das Aktionsprogramm der Landesregierung gegen Kinderarmut „Zusammen im Quartier – Kinder stärken – Zukunft sichern“ sowie der Härtefallfonds „Alle Kinder essen mit“ (siehe 11. Grundsatz der ESSR: „Betreuung und Unterstützung von Kindern“) - die Landesinitiative „NRW inklusiv“ und die über 200 damit verbundenen Projekte (siehe 17. Grundsatz der ESSR „Inklusion von Menschen mit Behinderungen“) - die Landesinitiative gegen Wohnungslosigkeit in Nordrhein-Westfalen „Endlich ein ZUHAUSE!“ sowie das Aktionsprogramm „Hilfen in Wohnungsnotfällen“ (siehe 19. Grundsatz der ESSR „Wohnraum und Hilfe für Wohnungslose“). 5. Welche Impulse zur Verbesserung der sozialen Konvergenz (in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit) hat die Landesregierung vorzuweisen? Im Rahmen der Zielsetzungen der Europäischen Territorialen Zusammenarbeit wird auch in die Verstärkung der sozial-kulturellen und der territorialen Kohäsion des deutschniederländischen und des deutsch-niederländisch-belgischen Grenzgebiets investiert, analog zu der EU 2020-Priorität „integratives Wachstum“. Es werden in EU-INTERREG V A- Programmen in diesem Bereich Projekte mit Themen wie grenzüberschreitende Arbeit, Ausbildung und Kultur initiiert, um unter anderem die Chancengleichheit für Einwohner von Grenzgebieten zu gewährleisten. Auch befassen sich verschiedene Projekte mit Strukturwandel und Demographie, zum Beispiel mit dem Ziel der Verbesserung der Lebensqualität und sozialen Zukunftsfähigkeit. Hier sind auch die aus INTERREG V A geförderten Grenzinformationspunkte (GIP) für Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen zu erwähnen, die in Kürze in eine strukturelle Finanzierung überführt werden. Im Zeitraum 2017 bis 2019 läuft ein unter anderem aus INTERREG und Landesmitteln finanziertes Statistik-Projekt zum grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt von IT NRW und dem niederländischen Centraal Bureau voor de Statistiek (CBS). Hier wird die Datenlage dies- und jenseits der Grenze unter anderem zu folgenden Aspekten ermittelt: Arbeitsangebot, Formen der Erwerbstätigkeit, Grenzpendler, Wirtschaftsstruktur, Bevölkerung, Bildung. Weiter aufgeschlüsselt werden zahlreiche Daten in den entsprechenden Kategorien nach Alter, Geschlecht, Qualifikation, Staatsangehörigkeit, Wirtschaftssektor. IT NRW und CBS Niederlande stehen in diesem Kontext mit den für Statistik zuständigen Behörden in Belgien in Kontakt. Im Verlauf des Projekts wurden bereits erste Publikationen mit thematischem Bezug zur sozialen Dimension erstellt Die hier gewonnenen Erkenntnisse bilden eine unerlässliche Grundlage zur Beurteilung der sozialen Konvergenz im Grenzgebiet. Das Gesamtergebnis des Projekts wird am 30. Oktober 2019 vorgestellt.