LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/7641 11.10.2019 Datum des Originals: 11.10.2019/Ausgegeben: 17.10.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2915 vom 29. August 2019 der Abgeordneten Gabriele Walger-Demolsky und Markus Wagner AfD Drucksache 17/7268 Aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei (schwerst-)kriminellen Angehörigen türkischarabischstämmiger Clanstrukturen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Gesamtschau auf den Abschlussbericht des Forschungsprojektes „Kriminalitäts- und Einsatzbrennpunkte geprägt durch ethnisch abgeschottete Subkulturen“ (KEEAS), Vorlage 17/2270, das Lagebild zur Clankriminalität NRW 2018 des Landeskriminalamtes, die Äußerungen des Innenministers Herbert Reul in Beratungen des Innenausschusses am 16. Mai 2019 und das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) lässt einige Fragen zum Umgang der Landesregierung mit dem Instrument der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen im Kampf gegen Clankriminalität offen, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen: Aus dem Lagebild zur Clankriminalität des Landeskriminalamtes geht zunächst hervor, dass die ermittelten und in der Datenauswertung berücksichtigten Tatverdächtigen der Jahre 2016 bis 2018 nachstehend genannte Staatsangehörigkeiten hatten1: Libanesisch: 31 % Türkisch: 15 % Syrisch: 13 % Staatenlos bzw. ohne Angabe: 5 % Deutsch: 36 % Dem abschließenden Kapitel „Perspektiven“ desselben Lagebildes ist sodann folgende Einschätzung zu entnehmen: „Erfahrungen im Projekt KEEAS lassen die Prognose zu, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen – auch mit Blick auf erheblich straffällig gewordene Personen – weiterhin die absolute Ausnahme bei Clanangehörigen bleiben werden, zumal ein großer Teil der 1 Vgl. Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2019): Clankriminalität – Lagebild NRW 2018, Düsseldorf, S. 13, Abb. 7. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7641 2 TV im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit ist. Einzelne Behörden betonen allerdings, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen auch im Einzelfall im Millieu (sic!) der Clanfamilien eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung ausüben. Angesichts der im Vergleich hohen Geburtenrate wird sich die Zahl der Familienmitglieder türkischarabischstämmiger Großfamilien deutlich erhöhen.“ 2 Als der nordrhein-westfälische Innenausschuss in seiner 36. Sitzung am 16. Mai 2019 unter Tagesordnungspunkt 27 die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Kriminalitäts- und Einsatzbrennpunkte geprägt durch ethnisch abgeschottete Subkulturen“ (KEEAS) und das soeben zitierte Lagebild zur Clankriminalität beriet, machte Innenminister Herbert Reul im Rahmen seiner Wortmeldung sogleich proaktiv deutlich, dass mehr als ein Drittel der Tatverdächtigen die deutsche Staatsangehörigkeit besitze und folglich eine Debatte über das Ausländerrecht fehlgehe3. Dem entgegen steht jedoch, dass es sich damit natürlich zu in etwa zwei Dritteln nicht um deutsche Staatsbürger handelt, wie der Fraktionsvorsitzende der AfD, Markus Wagner, anschließend hervorhob. Markus Wagner schloss an dieser Feststellung zudem die Frage an, ob vor diesem Hintergrund auch Rückführungen im Rahmen des von der Landesregierung angesprochenen breiten Maßnahmenpaketes4 eine Rolle spielen würden5. Hier konnte der Innenminister jedoch lediglich entgegnen, dass er diese Frage nicht beantworten könne, da dies nicht in seine Zuständigkeit falle.6 Die Wirkung solcher aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, wie sie mit Bezugnahme auf die Erfahrungen im Projekt KEEAS auch im LKA-Lagebild Erwähnung finden, wird im Originaltext des Abschlussberichtes des Projektes KEEAS selber besonders deutlich: „Es ist als Ergebnis von Experteninterviews im Projekt KEEAS erkennbar geworden, dass repressive Maßnahmen gegenüber notorisch kriminellen Clanmitgliedern nur geringen präventiven Einfluss entfalten. Deutliche generalpräventive und kriminalitätsbegrenzende Wirkungen gegenüber dieser Personengruppe dürften in erster Linie aufenthaltsbeendende Maßnahmen haben.“ (Hervorhebungen durch die AfD-Fraktion).7 Auch die vermeintlichen und offenkundig seitens des Staates bislang akzeptierten Hindernisse solcher aufenthaltsbeendenden Maßnahmen werden danach kurz skizziert: „Angesichts des aufenthaltsrechtlichen Status vieler Clanmitglieder, ihrer fehlenden Mitwirkung und der außenpolitischen Implikationen, die mit Bemühungen um Abschiebungen einhergehen, werden aufenthaltsbeendende Maßnahmen, insbesondere in den Libanon, derzeit de facto nicht durchgeführt.“8 Gemäß § 53 (1) Aufenthaltsgesetz (AufenthG) kann ein Ausländer allerdings ausgewiesen werden, wenn „dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.“ Unter § 54 wird konkretisiert, wann das Ausweisungsinteresse besonders schwer wiegt. Selbst das grundsätzliche Verbot der Abschiebung von „Flüchtlingen“ findet unter § 60 (8) AufenthG Ausnahmen, „wenn der Ausländer aus schwerwiegenden 2 Ebd., S. 24. 3 Vgl. APr 17/640, S. 65. 4 Vgl. dazu exemplarisch Vorlage 17/2076, S. 4. 5 Vgl. APr 17/640., S. 67. 6 Vgl. ebd., S. 69. 7 Vorlage 17/2270, S. 22. 8 Ebd. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7641 3 Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet.“ Der Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration hat die Kleine Anfrage 2915 mit Schreiben vom 11. Oktober 2019 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern beantwortet. 1. Warum hatte der Innenminister zum Zeitpunkt des 16. Mai 2019 keine Kenntnis darüber, ob auch Rückführungen Teil des Maßnahmenpaketes der Landesregierung gegen Clankriminalität sind? Mit der Antwort auf die von der AfD in der 36. Sitzung des Innenausschusses gestellten Frage wurde lediglich klargestellt, dass die Zuständigkeit für ausländerrechtliche Themen und Belange nicht mehr im Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen verortet ist und insoweit Fragen zu Rückführungen auch nicht durch den Minister des Innern beantwortet werden. 2. Sind aufenthaltsbeendende Maßnahmen auf konzeptioneller und auch auf administrativer-praktischer Ebene Teil des Maßnahmenpaketes der Landesregierung gegen Clankriminalität? Im Rahmen des administrativen Ansatzes zur Bekämpfung der Clankriminalität wird durch die Landesregierung eine enge Zusammenarbeit und ein abgestimmtes Vorgehen aller dafür relevanten Behörden, Institutionen und Akteure gefördert. Dazu gehören selbstverständlich auch die für die ausländerrechtlichen Maßnahmen zuständigen Behörden. Aus Anlass ihrer 210. Sitzung vom 12. bis 14.06.2019 in Kiel hat sich die Ständige Konferenz der Innenminister und -Senatoren der Länder mit der Clankriminalität befasst. Sie hat festgestellt, dass die wesentlichen Bekämpfungsansätze in der niederschwelligen und konsequenten Verfolgung und Ahndung von Regelverstößen, der Aufdeckung und Verfolgung überregionaler und transnationaler Strukturen, der Einziehung von Vermögen, einer verstärkten Gewerbe- und Finanzkontrolle, der Prüfung der Möglichkeit präventiver Maßnahmen mit entsprechenden Ausstiegsszenarien, in der ressortübergreifenden Zusammenarbeit und insbesondere eben auch in der Prüfung und Durchsetzung aufenthaltsrechtlicher Maßnahmen zu sehen sind. Die Innenminister und -Senatoren aller Länder haben insoweit einstimmig beschlossen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei ausländischen Mehrfach- und Intensivtätern zu verstärken und enger zu koordinieren. Sie haben ferner das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat unter den Maßgaben des Verfassungs- und des Staatsangehörigkeitsrechts um Prüfung gebeten, ob Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit, die an organisierter Kriminalität nachweisbar mitwirken, die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren können. Für die Landesregierung hat neben der Rückführung von Gefährdern auch die Rückführung von Straftätern besondere Priorität. Diese müssen vorrangig und beschleunigt abgeschoben werden. Daher begleiten in NRW die Regionalen Rückkehrkoordinierungsstellen (RRK) bei den fünf Bezirksregierungen im Rahmen eines Fallmanagements seit dem 2. Halbjahr 2018 gezielt auch die Bearbeitung von Fällen strafrechtlich auffälliger Ausländer durch die zuständigen LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7641 4 Ausländerbehörden und unterstützen bei ausreisepflichtigen Personen eine konsequente Rückführung. Das Land setzt sich außerdem gegenüber dem Bund dafür ein, dass diese Personen z.B. bei der Passersatzpapierbeschaffung vorrangig bearbeitet werden. Das Konzept soll sukzessive weiterentwickelt und ausgebaut werden. Dazu zählt auch die Prüfung von über die bestehende Vor-Ort-Zusammenarbeit – zwischen Ausländer-, Polizeibehörden und sonstigen Behörden – hinausgehender Handlungsansätze zum aufenthaltsrechtlichen Umgang mit ausländischen Clankriminellen. 3. Gegen wie viele im Lagebild erfasste kriminelle Angehörige türkischarabischstämmiger Clanstrukturen wurden seit 2016 aufenthaltsbeendende Maßnahmen durchgeführt? (Bitte aufschlüsseln nach Jahr, Anzahl, Art der aufenthaltsbeendenden Maßnahme und Erfolg bzw. Misserfolg der Maßnahme) Ausweislich des Lagebildes Clankriminalität NRW 2018 sind 6 449 Tatverdächtige in NRW identifiziert worden. Statistische Erfassungen im Sinne der Fragestellung liegen der Landesregierung nicht vor. 4. Was sind umfassend dargestellt und jeweils detailliert erläutert die Gründe (laut Vorlage 17/2270, S.22 sind das z.B. der aufenthaltsrechtliche Status vieler Clanmitglieder, die fehlende Mitwirkung und außenpolitische Implikationen) dafür, dass „aufenthaltsbeendende Maßnahmen – auch mit Blick auf erheblich straffällig gewordene Personen – weiterhin die absolute Ausnahme bei Clanmitgliedern bleiben werden (…)“9? 5. Ist die Landesregierung willens, unterschiedliche und sich auf die unter Ziffer 4 erfragten Hindernisse beziehende Maßnahmen zu ergreifen, damit der status quo, in dem „(…) aufenthaltsbeendende Maßnahmen – auch mit Blick auf erheblich straffällig gewordene Personen – weiterhin die absolute Ausnahme bei Clanangehörigen bleiben werden (…)“10, zum Schutze vor ausländischen Schwerstkriminellen beendet wird? Die Fragen zu 4 und 5 werden wegen ihres inneren Bezugs zusammen beantwortet. Wie die Auflistung im Lagebild des Landeskriminalamtes zur Clankriminalität für das Jahr 2018 ausweist, liegt bei 36 % der Tatverdächtigten eine deutsche Staatsangehörigkeit vor, weshalb für diese Personengruppe aufenthaltsrechtliche bzw. –beendende Maßnahmen ausscheiden. Bei 15 % der Tatverdächtigen besteht eine türkische und bei 31 % der Tatverdächtigten eine libanesische Staatsangehörigkeit. Sofern die betreffende Person identifiziert wurde und ein Pass oder Passersatzpapier vorliegt, sind aufenthaltsbeendende Maßnahmen wie z.B. Abschiebungen von straffälligen Clan-Mitgliedern sowohl in die Türkei als auch in den Libanon grundsätzlich möglich. Im Jahr 2018 gab es 53 Rückführungen in den Libanon bundesweit, davon allein 21 aus NRW. Im Hinblick auf Clanmitglieder werden Rückführungen aber in der Praxis insbesondere durch das Fehlen der oben aufgeführten Voraussetzungen wesentlich erschwert oder verhindert. Hinsichtlich Rückführungen nach Syrien hat die Innenministerkonferenz im Einvernehmen mit dem Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat in ihrer Sitzung am 07./08.12.17 zu TOP 3 beschlossen, den Abschiebungsstopp nach Syrien wegen der fortbestehenden Gefahrenlage auf der Grundlage des § 60a AufenthG zunächst bis 30.6.2019 und bei LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7641 5 fortbestehender Gefahrenlage, die zwischenzeitlich bejaht wurde, bis zum 30. Dezember 2019 zu verlängern. Die Innenministerkonferenz hat die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Verlängerung des Abschiebestopps um eine Fortschreibung der Bewertung der Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2018 gebeten. Dabei hat sie insbesondere darum gebeten, dass mit Blick auf Rückführungsmöglichkeiten für Gefährder und Straftäter, die sich schwerer Straftaten schuldig gemacht haben, eine differenzierte Betrachtung von Rückkehrern erfolgt. Unabhängig davon hat die Innenministerkonferenz den Bundesminister des Inneren, für Bau und Heimat darum gebeten, ein Konzept für den Umgang mit ausreisepflichtigen Intensivstraftätern (insbesondere Kapitalverbrechern) aus der Arabischen Republik Syrien vorzulegen, das u.a. Rückführungsoptionen in Drittstaaten aufzeigt. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Prüfung einer zukünftigen Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit bei doppelter Staatangehörigkeit wird im Übrigen auf die Antwort zu Frage 2 verwiesen.