LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/7719 31.10.2019 Datum des Originals: 29.10.2019/Ausgegeben: 07.11.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3022 vom 2. Oktober 2019 der Abgeordneten Sigrid Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/7558 Worauf die Welt nicht gewartet hat: Warum greift die Schulministerin in die Mottenkiste der verbindlichen Schulformempfehlung? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die alte schwarz-gelbe Koalition hatte 2006 die Schulformempfehlungen in Klasse 4 verbindlich gemacht. Demnach sollten nicht mehr die Eltern entscheiden, sondern die Lehrkräfte festlegen, auf welche Schulform das Kind wechseln sollte. Dies würde objektiver und „begabungsgerechter“ geschehen und das gegliederte Schulsystem stabilisieren. Zudem mussten Kinder einen „Prognoseunterricht“ durchlaufen, wenn sich Grundschullehrkräfte und Eltern über die Empfehlung uneins waren. Schon bei der Einführung der verbindlichen Grundschulempfehlung haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Elternvertreterinnen und -vertreter, die Landesschülerinnen/Landesschülervertretung und Lehrerverbände den Schritt kritisiert. Die ausgesprochenen Schulformempfehlungen der Jahre 2007-2010 zeigten dann auch, dass von Objektivität keine Rede sein konnte. So waren zum Beispiel die regionalen Unterschiede im Übergang zum Gymnasium so stark, dass sie unmöglich in der „Begabung“ der Kinder begründet sein konnten. Schließlich haben 2009 mehr als 1000 Grundschulleiterinnen und -leiter einen offenen Brief unterschrieben, in dem sie gegen die verbindliche Schulformempfehlung protestierten. Es sei nicht möglich, mit Gewissheit den Bildungserfolg eines Kindes mit neun Jahren zu prognostizieren und Kindern durch Zuweisung zu unterschiedlichen Lernmilieus auch Chancen zu verwehren. Nach dem Regierungswechsel hat die neue rot-grüne Koalition die Verbindlichkeit der Schulformempfehlung umgehend aus dem Schulgesetz gestrichen. Das fand breite Unterstützung. Im Koalitionsvertrag haben CDU und FDP 2017 vereinbart: „Wir wollen bei der Aufnahme der Schülerinnen und Schüler die Entscheidungsmöglichkeiten LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7719 2 der Schulen aufgrund ihres Bildungsauftrags stärken.“ Anscheinend wagte man nicht die verbindliche Schulformempfehlung offen auf die Agenda zu setzen. Schulministerin Gebauer hat jedoch schon Anfang Februar 2018 gegenüber der Presse einen Versuchsballon gestartet. Sie hatte geäußert, dass sich viele Lehrer wünschten, dass die Schulformempfehlungen wieder verbindlich sein sollten. Dem widersprachen umgehend die Lehrerverbände. Ministerin Gebauer kündigte an, dass die Verbindlichkeit geprüft werde und Teil des Masterplans Grundschule sein werde, der im Laufe des Jahres 2018 vorgelegt werde. Am 16. September 2019 haben die FDP-Ministerin und Minister vor der Presse Zwischenbilanz ihrer schwarz-gelben Regierungsbeteiligung gezogen und neue Projekte in ihren Zuständigkeiten vorgestellt. Ministerin Gebauer wird laut dpa mit dem Projekt „Masterplan Grundschule“ zitiert, der „noch in diesem Jahr“ kommen werde. In diesem Zusammenhang gehe es auch um eine mögliche Wiedereinführung der Verbindlichkeit der Schulformempfehlungen. Die Ministerin für Schule und Bildung hat die Kleine Anfrage 3022 mit Schreiben vom 29. Oktober 2019 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen der Landesregierung vor, die eine mögliche Wiedereinführung der Verbindlichkeit der Schulformempfehlungen rechtfertigen? 2. Welche anderen Maßnahmen plant das Ministerium, um die Aufnahmeentscheidung aufgrund des Bildungsauftrags einer Schulform zu stärken? 3. Welche Auswirkungen haben diese Aufnahmeentscheidungsmöglichkeiten auf den Elternwillen? 4. Wie hoch sollten die Anteile der Übergänge von Grundschulkindern zu Gymnasien in NRW nach Auffassung der Landesregierung in einem „begabungsgerechten Schulsystem“ sein, von dem Schulministerin Gebauer immer wieder spricht? 5. Wie sollen sich nach Vorstellung der Landesregierung verbindliche Schulformempfehlungen oder andere Maßnahmen zu Aufnahmeentscheidungsmöglichkeiten auf die Schulformentwicklung insgesamt in NRW auswirken? Die Fragen 1 bis 5 werden aufgrund des Sachzusammenhangs zusammenhängend beantwortet: Der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule ist eine zentrale Schnittstelle in der Bildungsbiographie eines jeden Schulkindes. Dabei ist der Elternwille für die Landesregierung ein hohes Gut. Verantwortungsvolle Eltern verbringen viel Zeit mit ihren Kindern, sind die ersten Ansprechpartner in allen Fragen und verfügen daher über ein besonderes Maß an Einschätzungs- und Einfühlungsvermögen ihren Kindern gegenüber. Sie begleiten langfristig ihre Bildungslaufbahn und tragen im Schwerpunkt die Verantwortung für die weitere Entwicklung ihrer Kinder. Zutreffend ist jedoch auch, dass immer mehr Kinder mit dem gymnasialen Bildungsweg überfordert sind und die Schulform schon nach der Erprobungsstufe wieder verlassen. Dies ist insbesondere für die betroffenen Kinder durch ein LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/7719 3 Erlebnis des Misserfolgs, aber auch für deren Eltern und die Klassenstrukturen der entsprechenden Schulen eine unbefriedigende und mitunter belastende Situation. Daher berät die Grundschule die Eltern intensiv, nicht nur kurz vor dem Übergang, sondern bereits während der gesamten Grundschullaufbahn der Kinder. Bei einer solchen umfassenden Beratung seitens der Schule geht die Landesregierung davon aus, dass Eltern zum Zeitpunkt der Entscheidung die richtigen Wege für ihr Kind wählen. An der Rechtslage soll sich nichts ändern. Der letzte Absatz der Kleinen Anfrage nimmt Bezug auf eine Pressekonferenz vom 16.09.2019, in der ich auch den Aspekt „mögliche Wiedereinführung der Verbindlichkeit der Schulformempfehlungen“ angesprochen haben soll. Ich widerspreche dieser Darstellung. Ich habe eine mögliche Verbindlichkeit der Schulformempfehlung in keiner Weise thematisiert. Eine Schulformempfehlung ist immer auf die individuelle Schülerin oder den Schüler bezogen und ist auch nicht an allgemeinen objektiv messbaren Kriterien orientierbar. Die Erarbeitung von allgemeingültigen messbaren Kriterien zur besseren Vergleichbarkeit ist nicht möglich. Ein solches Vorgehen würde darüber hinaus nicht dem Gedanken der „Individuellen Förderung der Stärken“ folgen und würde dem Charakter der unterschiedlichen Schulprofile der aufnehmenden Schulen in keiner Weise gerecht. Die Aufnahme der Kinder muss deshalb an unterschiedlichen Kriterien orientiert werden, was die Festlegung auf „Anteile der Übergänge von Grundschulkindern“ ausschließt.