Drucksache 16/1948 28. 12. 2012 Druck: Landtag Rheinland-Pfalz, 31. Januar 2013 LANDTAG RHEINLAND-PFALZ 16. Wahlperiode K l e i n e A n f r a g e der Abgeordneten Elisabeth Bröskamp (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und A n t w o r t des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Legasthenie Die Kleine Anfrage 1252 vom 4. Dezember 2012 hat folgenden Wortlaut: Das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur hat am 28. August 2007 eine Verwaltungsvorschrift erlassen (9321 – Tgb. Nr. 2308/07), die sich mit der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben insbesondere in der Sekundarstufe I befasst. Zu dieser Problematik stelle ich folgende Fragen: 1. Welche Regelungen bestehen für die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II? 2. Wie wirkt sich der Nachteilsausgleich aus und welche Bedeutung hat er für die Versetzung in die nächsthöhere Klasse (bedeutet eine mangelhafte Benotung eine Nichtversetzung)? (Auch wenn in der VV niedergelegt, bitte um Beantwortung.) 3. Weshalb ist der Nachteilsausgleich an eine aktuelle Förderung gekoppelt und gilt nicht grundsätzlich bei der Feststellung der Le- gasthenie? 4. Welche Beratung können Lehrerinnen und Lehrer, betroffene Familien in den Schulen oder auch im Land Rheinland-Pfalz er- halten bzw. wo erhalten sie diese? 5. Werden die Referendarinnen und Referendare in der Ausbildung dahingehend geschult und qualifiziert, mit diesen Kindern um- zugehen und sie individuell unterrichten bzw. fördern zu können? 6. Kann die Leserechtschreibschwäche sich auf Leistungen anderer Fächer auswirken? Das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur hat die Kleine Anfrage namens der Landesregierung mit Schreiben vom 2. Januar 2013 wie folgt beantwortet: Zu Frage 1: Die Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur vom 28. August 2007 zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben (Amtsbl. 2007, S. 473 ff.) gilt in Schulen der Sekundarstufe I, im Berufsvorbereitungsjahr sowie in der Berufsfachschule I und Berufsfachschule II. Für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II existiert in Rheinland-Pfalz keine entsprechende Verwaltungsvorschrift. Dies steht im Einklang mit den Grundsätzen der Kultusministerkonferenz (KMK) zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben (Beschluss vom 4. Dezember 2003 i. d. F. vom 15. November 2007), nach denen Maßnahmen der Differenzierung und individuellen Förderung in allgemeinbildenden Schulen bis zum Ende der Jahrgangsstufe 10 abgeschlossen sein sollen. Gleichwohl können in der gymnasialen Oberstufe Maßnahmen empfohlen werden, die den Spielraum in den geltenden Rechtsvorschriften nutzen, um betroffenen Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, ihre fachlichen Leistungen trotz der bestehenden Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben zu dokumentieren. Drucksache 16/1948 Landtag Rheinland-Pfalz – 16.Wahlperiode Dabei kommt z. B. die stärkere Betonung mündlicher Leistungsnachweise in Frage. Ebenso können in Anwendung des § 50 Abs. 4 der Übergreifenden Schulordnung bei Leistungsfeststellungen zum Ausgleich der durch die Probleme im Lesen und Rechtschreiben verursachten Einschränkungen Erleichterungen der äußeren Bedingungen zugelassen werden. Dies betrifft vor allem eine Verlängerung der Arbeitszeit, z. B. bei Kursarbeiten. Möglich ist auch eine getrennte Überprüfung und Bewertung unterschiedlicher Kompetenzen bzw. Teilkompetenzen vor allem im Fach Deutsch oder in den Fremdsprachen (z. B. im Rahmen der sprachlichen Richtigkeit: die grammatisch richtige Fassung von Sätzen, die logische Richtigkeit der Satzverbindungen). Ein darüber hinausgehendes Abweichen von den für alle geltenden Regelungen zur Leistungsbewertung kommt in der gymnasialen Oberstufe nicht in Betracht, da ab dem Halbjahr 11/2 die Noten in die Gesamtqualifikation eingehen und somit für die Vergabe einer Berechtigung (Allgemeine Hochschulreife) relevant sind. Zu Frage 2: Als Hilfe für Schülerinnen und Schüler mit besonderen und lang anhaltenden Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben kommen vorrangig Maßnahmen im Sinne eines Nachteilsausgleichs zur Anwendung. Grundlage dafür ist die Regelung in § 3 Abs. 5 Schulgesetz: „Bei der Gestaltung des Unterrichts und bei Leistungsfeststellungen sind die besonderen Belange behinderter Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen und die ihnen zum Ausgleich ihrer Behinderung erforderlichen Arbeitserleichterungen zu gewähren.“ Davon abzugrenzen sind Maßnahmen, die eine Abweichung von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung und Leistungsbeurteilung darstellen. Nachteilsausgleichsmaßnahmen sind z. B. wie in der Verwaltungsvorschrift aufgeführt das Ausweiten der Arbeitszeit, beispielsweise bei schriftlichen Arbeiten, oder das Bereitstellen von technischen und didaktischen Hilfsmitteln. Konkret bedeutet dies, dass Schülerinnen und Schülern aufgrund ihrer Beeinträchtigung kein Nachteil entstehen darf. Nachteilsausgleich stellt keine Abweichung von den Grundsätzen der Leistungsfeststellung und -beurteilung dar und befreit nicht vom Erbringen der Leistung. Die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs dienen zur Kompensation der Nachteile, die ansonsten bedingt durch die Behinderung entstehen würden. Durch diese Maßnahmen werden die Auswirkungen einer Beeinträchtigung ausgeglichen, die Schülerinnen und Schüler können eine ihren Fähigkeiten entsprechende Leistung erbringen. Diese wird nach den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung und Leistungsbeurteilung bewertet. Maßnahmen des Nachteilsausgleichs sind daher so zu wählen, dass sich die Auswirkungen einer Behinderung nicht in der Benotung niederschlagen; auf diese Weise unterstützen sie dann auch die Versetzung in die nächsthöhere Klasse. Im Übrigen regelt die o. g. Verwaltungsvorschrift in Nr. 4.5, dass bei einer Versetzung die Gesamtleistung der Schülerin oder des Schülers zu berücksichtigen ist. Zu Frage 3: Für Maßnahmen des Nachteilsausgleichs ist Voraussetzung, dass eine Behinderung oder Beeinträchtigung vorliegt, die sich auf schulisches Lernen und auf das Erbringen einer Leistung auswirken würde. Diese sind nicht an aktuelle individuelle Fördermaßnahmen gekoppelt. Maßnahmen, die Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung und Leistungsbeurteilung darstellen, sind vom Nachteilsausgleich abzugrenzen. Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung und Leistungsbeurteilung sind im Zusammenhang mit den Maßnahmen der individuellen Förderung zu sehen. Diese dienen dazu, den Schülerinnen und Schülern ihre Stärken bewusst zu machen und ihnen Erfolgserlebnisse zu vermitteln. Weiterhin dienen sie dazu, Arbeitstechniken zu erlernen, um vorhandene Schwächen auszugleichen und um die betroffenen Schülerinnen und Schüler an die Leistungsanforderungen des jeweiligen Bildungsgangs heranzuführen (vgl. Nr. 3.5 der o. g. Verwaltungsvorschrift). Aus diesem Grund sind sie an einen individuellen Förderplan gekoppelt, dort festgelegt und von der Gesamtkonferenz im Einzelfall beschlossen . Die rheinland-pfälzischen Regelungen beschränken sich bewusst nicht auf Schülerinnen und Schüler mit festgestellter Legasthenie, sondern gelten für alle Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben. Eine „grundsätzliche“ Feststellung von Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben ist so nicht möglich, da diese sich bei jedem Kind und jedem Jugendlichen auf unterschiedliche Art und Weise darstellen können. Auch die Ursachen lassen sich häufig nicht eindeutig bestimmen, sodass Wahrnehmungsdefizite, sozio-emotionale Defizite, sprachliche Auffälligkeiten, Konzentrationsschwächen, motorische Ausfälle oder Schwächen, Motivationsstörungen, Gedächtnisausfälle, Defizite im Selbstwertgefühl etc. als Probleme, die mit einer Lese-Rechtschreibschwäche einhergehen können, Anlässe für unterschiedlich ausgerichtetes therapeutisches Handeln und schulische Fördermaßnahmen sein können. Insofern ist es notwendig, auf der Basis einer sorgfältigen Diagnostik einen individuellen Förderplan für die betroffene Schülerin oder den betroffenen Schüler zu erstellen, in dem der vereinbarte Nachteilsausgleich nur einen Teilaspekt darstellt. 2 Landtag Rheinland-Pfalz – 16.Wahlperiode Drucksache 16/1948 Deshalb ist in der entsprechenden Verwaltungsvorschrift festgelegt, dass die Klassenleitung im Benehmen mit den Eltern, in Absprache mit den betroffenen Schülerinnen und Schülern, mit den jeweiligen Lehrkräften im Fach Deutsch und den anderen an der Förderung beteiligten Lehrkräften, bei Bedarf auch unter Einbeziehung außerschulischer Personen und Institutionen über Notwendigkeit , Art und Dauer der besonderen Förderung entscheidet. Zu Frage 4: In den vierzehn regionalen schulpsychologischen Beratungszentren des Landes besteht für Lehrkräfte und Eltern die Möglichkeit, Beratung und Unterstützung bzgl. des Themas Legasthenie zu erhalten. Dies ist im Rahmen von Beratungsprozessen im Einzelfall möglich, wobei seitens der Schulpsychologie in der Regel eine differenzierte Testdiagnostik nicht angeboten wird. Zu verweisen ist auf Fachinstitutionen in freier oder kommunaler Trägerschaft. Ziel ist es, gemeinsam mit allen Beteiligten Unterstützungsmöglichkeiten und Förderansätze in der Schule abzustimmen und zu vereinbaren. Auf Schulebene besteht die Möglichkeit, nachfrageorientiert Fortbildungen anzufragen, die direkt durch die regionalen Schulpsychologischen Beratungszentren angeboten werden können. Darüber hinaus sind auf dem Landesbildungsserver unter http://foerderung.bildung-rp.de/schriftspracherwerb.html umfassende Informationen zusammengestellt. Zu Frage 5: In der Ausbildung von zukünftigen Lehrkräften ist der Aspekt Diagnose und Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Legasthenie sowohl während des Studiums als auch im Rahmen des Vorbereitungsdienstes Inhalt des jeweiligen Curriculums. Die inhaltlichen Anforderungen für Studierende der lehramtsbezogenen Bachelor- und Masterstudiengänge in Rheinland-Pfalz sind in den curricularen Standards der jeweiligen Studienfächer definiert. Beispielsweise nennt das während eines lehramtsbezogenen Studiums verpflichtend zu studierende Fach „Bildungswissenschaften“ in Modul 3 „Diagnostik, Differenzierung, Integration“ u. a. folgende inhaltliche Anforderung: „Diagnose und Förderung individueller Lernprozesse: Lernprozessdiagnostik, individuelle Förderung und Differenzierung, förderpädagogische Aufgaben“. Darüber hinaus ist das Thema Legasthenie in den curricularen Standards für das Fach Deutsch verortet. Für zukünftige Lehrkräfte für die Primarstufe ist die Befassung mit Legasthenie im Kontext von „Diagnostik und Förderung“ in besonderer Weise im Modul „Grundschulpädagogik“ verankert: „Lernausgangslagen und -entwicklungen, Leistungsschwächen, förderpädagogische Grundlagen ...“. Im Rahmen der Ausbildung in den Studienseminaren für die Lehrämter ist der Schwerpunkt „Lern- und Leistungsschwäche“, d. h. auch die Diagnose und Förderung von Legasthenie, integrativer Bestandteil der Ausbildung in Veranstaltungen im Berufspraktischen Seminar sowie in den Fachseminaren Grundschulpädagogik, Deutsch und in den Veranstaltungen mit förderpädagogischem Schwerpunkt. Zu Frage 6: Da Lesen und Schreiben in allen Fächern in der Schule von zentraler Bedeutung ist, können Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben selbstverständlich Auswirkungen auf die Leistungen in allen Fächern haben. Deshalb ist es notwendig und wichtig, bei der Erstellung eines Förderplans alle Lehrkräfte einer betroffenen Schülerin oder eines betroffenen Schülers einzubeziehen, wie dies auch in der entsprechenden Verwaltungsvorschrift ausdrücklich dargelegt ist. In Vertretung: Vera Reiß Staatssekretärin 3