Drucksache 16/2499 26. 06. 2013 K l e i n e A n f r a g e der Abgeordneten Dr. Fred Konrad und Dr. Dr. Rahim Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und A n t w o r t des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderungen Die Kleine Anfrage 1652 vom 4. Juni 2013 hat folgenden Wortlaut: Menschen mit Behinderungen finden im Gesundheitssystem häufig nicht die Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für ihre speziellen Probleme. Einrichtungen der fachärztlichen Versorgung und sogar Kliniken, die auf einzelne der spezifischen medizinischen Probleme der Betroffenen spezialisiert sind, sind mit den vielfältigen Alltagsproblemen der betroffenen Menschen in der Regel nicht vertraut. Die Abläufe in Kliniken und Praxen sind auf das Tempo von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und auf das Verständnis von Menschen mit kognitiven Einschränkungen nicht eingestellt. Ein großer Teil vor allem der ambulanten medizinischen Versorgungseinrichtungen ist nicht barrierefrei zugänglich. Deshalb fallen vielfach Fahrt- und Transportkosten an, die teilweise von den Betroffenen, teilweise von der Versichertengemeinschaft getragen, aber nicht von den Einrichtungen ersetzt werden, die diese durch ihre fehlende Barrierefreiheit verursachen. Aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes wurde unter anderem vom rheinlandpfälzischen Landkreistag auch die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung von Menschen grundsätzlich in Frage gestellt, die krankheitsbedingt nicht zur Einsicht und zum Einverständnis in eine notwendige medizinische Behandlung in der Lage sind. Für Menschen mit Behinderung ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kommunikation der verschiedenen Gesundheitsberufe besonders wichtig. Für gegenseitige Berichte und gemeinsame Besprechungen der Visiten gibt es jedoch im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen keine Vergütung. Gleiches gilt für die Zusammenarbeit mit anderen Kostenträgern z. B im Bereich des SGB XII oder SGB VIII. Vor diesem Hintergrund bitten wir die Landesregierung um die Beantwortung der folgenden Fragen: 1. Teilt die Landesregierung die Auffassung, dass es dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 GG widerspricht, dass behinderte Men- schen unter den gleichen Bedingungen und mit denselben Beiträgen zur Krankenversicherung verpflichtet sind wie Menschen ohne Behinderung, jedoch einen großen Teil des ambulanten Versorgungsangebots aufgrund von Barrieren nicht nutzen können ? 2. Wie hoch ist der Anteil ambulanter und stationärer Versorgungseinrichtungen (Arztpraxen, medizinische Versorgungszentren, Praxen von Heilmittelerbringerinnen und Heilmittelerbringern), die barrierefrei erreichbar sind (bitte Anteile barrierefreier Einrichtungen nach Fachrichtungen aufschlüsseln und den Anteil hausärztlicher Praxen gesondert aufführen)? 3. Ist die Zulassung einer Arztpraxis, eines medizinischen Versorgungszentrums oder eines Krankenhauses an die barrierefreie Zugänglichkeit gebunden? Falls nicht, ab wann wird dies ggf. der Fall sein? 4. In welcher Form wird der Mehraufwand für die Zugänglichkeit einer Praxis für mobilitätseingeschränkte Personen beim Arzt - honorar für die Versorgung gesetzlich Versicherter der einzelnen Praxis, des medizinischen Versorgungszentrums, der Klinik berücksichtigt? Wenn nicht, ab wann ist dies ggf. vorgesehen? 5. Inwieweit ist die Betreuung von Menschen mit Lernschwäche (bzw. mit geistiger Behinderung) Bestandteil der Facharztausbildung und prüfungsrelevant für die Facharztprüfung? 6. Welche besonderen Versorgungsformen für Menschen mit Behinderungen gibt es in Rheinland-Pfalz im Rahmen von Regelungen des § 119 a SGB V (Ambulante Behandlung in Einrichtungen der Behindertenhilfe), § 116 b SGB V (Ambulante Spezialfachärztliche Behandlung) und der §§ 140 a ff. (Integrierte Versorgung)? 7. Welche Möglichkeiten sieht die Landesregierung, die notwendige interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Gesundheitsberufe sicherzustellen, die mit den Bedarfen behinderter Menschen befasst sind? Druck: Landtag Rheinland-Pfalz, 2. August 2013 LANDTAG RHEINLAND-PFALZ 16. Wahlperiode Drucksache 16/2499 Landtag Rheinland-Pfalz – 16.Wahlperiode Krankenhäuser müssen barrierefrei gestaltet sein. Dies ergibt sich aus § 4 der Landesbauordnung und aus den Bestimmungen des Landesgesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen. Darüber hinaus wurde mit dem Ersten Landesgesetz zur Änderung des Landeskrankenhausgesetzes, das am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist, die Forderung nach Barrierefreiheit für die Krankenhäuser noch einmal hervorgehoben. Nach § 30 Abs. 1 des Landeskrankenhausgesetzes haben die Krankenhäuser sicherzustellen, dass ihre Gebäude und Einrichtungen barrierefrei und behindertengerecht gestaltet und betrieben werden. Dem Ministerium ist kein Krankenhaus in Rheinland-Pfalz bekannt, das nicht barrierefrei erreichbar ist. Bei allen Baumaßnahmen, für die ein Antrag auf Förderung gestellt wird, achtet das Ministerium darauf, dass diese barrierefrei errichtet und die Belange behinderter Menschen berücksichtigt werden. 2 Das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie hat die Kleine Anfrage namens der Landesregierung mit Schreiben vom 26. Juni 2013 wie folgt beantwortet: Zu 1.: Die Landesregierung ist seit vielen Jahren im Gespräch mit den beteiligten Akteurinnen und Akteuren des Gesundheitswesens, damit möglichst zügig die Barrierefreiheit im Gesundheitswesen hergestellt wird. Dort, wo die Landesregierung selbst aktiv werden kann, wie in der Krankenhausförderung, finanziert sie seit Jahren nur noch bauliche Maßnahmen, die barrierefrei sind. In der ambulanten Versorgung und bei der Rehabilitation ist die Landesregierung nicht verantwortlich für die Finanzierung der baulichen Maßnahmen. Hier setzt die Landesregierung auf die Bereitschaft der Akteure, die Barrierefreiheit in der jeweils eigenen Zuständigkeit zu schaffen. Im Übrigen sind die bestehenden Regelungen zu den Beiträgen zur Krankenversicherung nach Abwägung der unterschiedlichen Interessen in breitem Konsens entstanden. Schließlich darf man auch nicht verkennen, dass im Kindes- und Jugendalter und auch im Erwachsenenalter die Betreuung und Versorgung von Menschen mit Behinderungen sowohl in der ambulanten Versorgung als auch im Krankenhaus mit einem deutlich erhöhten Personalbedarf und damit auch höheren Kosten verbunden ist. Hier besteht breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens, dass diese Kosten nicht zu einer höheren finanziellen Belastung der in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Menschen führen dürfen. Zu 2.: Hierzu liegen der Landesregierung keine konkreten Zahlen vor. Über die Webseite der Kassenärztlichen Vereinigung RheinlandPfalz sind die Praxen auffindbar, die sich als barrierefrei bezeichnen (Selbstauskunft). Hierbei ist eine Differenzierung nach Fachgruppen genauso möglich wie eine Auswahl des Ortes der gesuchten Praxis. Bestehen besondere Anforderungen an die Praxisausstattung , so können die Patientinnen und Patienten durch diese Information eine erste Auswahl treffen und die Praxen im Anschluss direkt kontaktieren, um zu klären, ob die ausgesuchte Praxis die bestehenden individuellen Bedarfe berücksichtigt. Die nachfolgenden Daten sind Informationen der Kassenärztlichen Vereinigung. Sie sind das Ergebnis der Selbstauskunft der Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz. Fachgruppe Gesamtzahl Anzahl Anteil der Praxen barrierefreier Praxen barrierefreier Praxen Hausärztliche Praxen 2 407 1 012 42,0 % Anästhesiepraxen 111 75 67,6 % Augenärztliche Praxen 217 101 46,5 % Chirurgische Praxen 162 105 64,8 % Gynäkologische Praxen 411 191 46,5 % Hautärztliche Praxen 151 66 43,7 % HNO-Praxen 145 80 55,2 % Internistische Praxen 367 215 58,6 % Pädiatrische Praxen 254 138 54,3 % Nervenärztliche Praxen 219 74 33,8 % Orthopädische Praxen 204 128 62,7 % Psychologisch-psychotherapeutische Praxen 816 97 11,9 % Radiologische Praxen 135 102 75,6 % Urologische Praxen 121 67 55,4 % Sonstige Fachgruppen 140 73 52,1 % Landtag Rheinland-Pfalz – 16.Wahlperiode Drucksache 16/2499 Zu 3.: Nach Auskunft der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz richtet sich die Zulassung einer Arztpraxis nach den sozialrechtlichen Vorgaben des Fünften Buches Sozialgesetzbuch und der Zulassungsverordnung für Ärzte. Die Barrierefreiheit ist nach diesen Vorschriften nicht als Zulassungsvoraussetzung vorgesehen. Die Arztpraxis als betriebliche Einheit bedarf regelhaft keiner Zulassung durch die Zulassungsgremien. Allerdings sieht die neue Bedarfsplanungs-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses , die Anfang 2013 in Kraft getreten ist, eine stärkere Berücksichtigung der Belange von Menschen mit Behinderung vor. Dort heißt es in § 4 Absatz 1: „Zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung behinderter Menschen ist bei der Bedarfsplanung vor allem im Hinblick auf Neuzulassungen die Barrierefreiheit besonders zu beachten.“ Zudem sind bei einem Praxisneubau oder bei der Nutzungsänderung eines Gebäudes die bauordnungsrechtlichen Bestimmungen zu beachten, die auch gem. § 51 Abs. 2 Nr. 8 der Bauordnung Rheinland-Pfalz spezielle Anforderungen an Arztpraxen stellen. Nach § 30 Abs. 1 des Landeskrankenhausgesetzes haben die Krankenhausträger sicherzustellen, dass ihre Gebäude und Einrichtungen barrierefrei und behindertengerecht gestaltet und betrieben werden. Zu 4.: Nach Auskunft der Kassenärztlichen Versorgung Rheinland-Pfalz soll die Vergütung der ambulanten vertragsärztlichen Leistungen die durch den Betrieb der Praxis entstehenden Kosten berücksichtigen. Insoweit ist es konsequent, dass die Kosten, die zur Errichtung einer den bauordnungsrechtlichen Bestimmungen entsprechenden Praxis anfallen, nicht gesondert vergütet werden. Für den Umbau einer bestehenden Praxis werden deshalb von der Kassenärztlichen Versorgung keine Fördermittel zur Verfügung gestellt . Wie in der Antwort zu Frage 2 dargestellt, ist es Aufgabe der Krankenhausträger, ihre Gebäude und Einrichtungen barrierefrei und behindertengerecht zu gestalten und zu betreiben. Bei Baumaßnahmen in Krankenhäusern, zum Beispiel Neubauten, Erweiterungsbauten , Umbauten oder Generalsanierungen, gehören die Kosten für die Herstellung der Barrierefreiheit (zum Beispiel Installierung von Aufzügen, Bau von Rampen, stufenloser Zugang und anderes) zu den förderfähigen Kosten; sie werden nach den Bestimmungen des Krankenhausfinanzierungsgesetzes und des Landeskrankenhausgesetzes vom Land gefördert. Zu 5.: Nach Auskunft der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz ist die Betreuung und Behandlung von Menschen mit Lernschwäche beziehungsweise mit geistiger Behinderung Bestandteil der Weiterbildung im Bereich der Pädiatrie. In den Ausführungen der Weiterbildungsordnung finden sich Hinweise auf diese Personengruppe auch insbesondere in den Weiterbildungsinhalten zum Facharzt für Innere Medizin. Derzeit wird die (Muster-)Weiterbildungsordnung novelliert. Die Landesärztekammer Rheinland-Pfalz hat in den bisherigen Beratungen bereits auf die Notwendigkeit hingewiesen, dem Thema „Betreuung von Menschen mit Behinderungen“ in der Weiterbildungsordnung ein stärkeres Gewicht zu geben und hofft, dass ihre Bemühungen hier erfolgreich sein werden. Zu 6.: Die Versorgung von Menschen mit Behinderungen wird grundsätzlich durch sämtliche niedergelassenen Vertragsärztinnen und Vertragsärzte geleistet. Für besondere Bedürfnisse einzelner Patientengruppen gibt es im Land darüber hinaus mehrere bedarfsabhängig erteilte Ermächtigungen gemäß § 116 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch. Im Rahmen dieser Ermächtigungen werden Behandlungen durch spezialisierte Krankenhausärztinnen und -ärzte in den Ambulanzen der jeweiligen Einrichtung durchgeführt. So wurden verschiedene rheinland-pfälzische Krankenhäuser auf Antrag zur ambulanten Behandlung nach § 116 b des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zugelassen: 3 1. Hochspezialisierte Leistungen Zulassungen 0 2. Seltene Erkrankungen Zulassungen 7 3. Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen Zulassungen 25 Total 32 Drucksache 16/2499 Landtag Rheinland-Pfalz – 16.Wahlperiode Zulassung zur Diagnostik und Behandlung von seltenen Erkrankungen: Hämophilie: 1 Mukoviszidose: 3 Kurzdarmsyndrom: 1 Pulmonale Hypertonie: 2. Zulassung zur Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen: Frühgeborene mit Folgeschäden: 1 Multiple Sklerose: 3 Krebserkrankungen: 16 Schwerwiegende rheumatologische Erkrankungen: 5. Aufgrund der Schwere der Krankheitsbilder der Patientinnen und Patienten, für die diese Angebote geschaffen wurden, ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl dieser Menschen behindert ist. Zur Patientenversorgung für die genannte Gruppe tragen in Rheinland-Pfalz ebenso die Universitätsmedizin in Mainz gemäß § 117 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch und auch die Sozialpädiatrischen Zentren gemäß § 119 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch bei. Ein innovativer Ansatz zur sektorübergreifenden Behandlung psychosekranker Menschen ist das sogenannte „StattKrankenhaus“, das DAK-versicherten Patientinnen und Patienten der Rheinmosel-Fachklinik Andernach, der Rheinhessen-Fachklinik Alzey und des Pfalzklinikums angeboten wird. StattKrankenhaus im Sinne von vermehrter ambulanter oder Zuhause-Behandlung anstatt des Krankenhausaufenthaltes zielt darauf ab, durch den Einsatz eines multiprofessionellen „Behandlung-zu-Hause-Teams“ akut psychisch erkrankte Menschen auch zu Hause unter Einbindung aller gemeindepsychiatrischen Dienste durch psychiatrische und psychotherapeutische Maßnahmen zu behandeln, Klinikeinweisungen zu vermeiden und die Behandlungskontinuität zu verbessern, insbesondere die soziale Kompetenz und die Lebensqualität nachhaltig zu steigern. Die Finanzierung dieser sektorenübergreifenden Versorgung erfolgt über patientenbezogene Pauschalen. Das Krankenhaus erhält pro Patient und Jahr eine Pauschale und ist in der Verwendung der Mittel nicht an bestimmte strukturelle Vorgaben gebunden. Die Mittel können vielmehr patientenzentriert und bedürfnisangepasst eingesetzt werden. Für das Krankenhaus besteht auch ein wirtschaftlicher Anreiz, den Patienten möglichst effektiv zu behandeln, um eine Wiederaufnahme (und damit zusätzliche Kosten) zu vermeiden. Patienteninteressen und wirtschaftliche Interessen gehen bei diesem Modell Hand in Hand. Die Ergebnisse dieser Versorgungs- und Finanzierungsform sind überzeugend: Die Lebensqualität der Patienten ist gestiegen, die Dauer der Krankenhausbehandlung sank um rund zehn Tage und die Patienten haben die Behandlung deutlich seltener abgebrochen. Zu 7.: Die Landesregierung hat eine Moderatorenfunktion, um alle Akteurinnen und Akteure im Gesundheitswesen von der Notwendigkeit einer barrierefreien und behindertengerechten Behandlung zu überzeugen. Dort, wo sie Verantwortung trägt, wie bei der Förderung der Krankenhäuser, setzt sie auf Barrierefreiheit. Dort, wo die Selbstverwaltung Verantwortung für eine barrierefreie und behindertengerechte Behandlung trägt, kann die Landesregierung moderierend eingreifen. Zu prüfen ist, ob sie auch in Einzelfällen die Möglichkeit der Rechtsaufsicht nutzen kann, um Barrierefreiheit einzuführen. Alexander Schweitzer Staatsminister 4