Drucksache 16/3753 16. 07. 2014 K l e i n e A n f r a g e der Abgeordneten Pia Schellhammer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und A n t w o r t des Ministeriums für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen 20 Jahre Abschaffung des § 175 StGB – die Vielfalt ist für die Gesellschaft ein hohes Gut Die Kleine Anfrage 2408 vom 27. Juni 2014 hat folgenden Wortlaut: Vor 20 Jahren wurde der § 175 endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. In der im Dritten Reich eingeführten und bis 1969 geltenden Fassung der §§ 175 und 175 a StGB wurden in der Bundesrepublik über 50 000 Männer von Strafgerichten verurteilt. Gegen eine weit größere Zahl wurde damals ermittelt. Strafbar waren alle erotisch interpretierbaren Annähe rungen zwischen Männern. Durch die Strafverfolgung wurden auch in Rheinland-Pfalz Existenzen vernichtet. Bereits im Dezember 2012 hat der Landtag dies einstimmig bedauert und sich für die strafrechtliche Verfolgung wegen einvernehmlicher homosexueller Hand lungen in Rheinland-Pfalz entschuldigt. Jüngst haben die Reaktionen aller im Landtag vertretenen Fraktionen und der Bevölkerung auf eine Äußerung im politischen Raum zum § 175 StGB gezeigt, dass in Rheinland-Pfalz die Akzeptanz von Vielfalt ein hoher Wert ist. Die Menschen wollen ein gutes Miteinander leben und akzeptieren Diskriminierung einzelner Gruppen nicht. Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung: 1. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung darüber, wie sich in den letzten Jahren die Akzeptanz von Vielfalt in der rhein- land-pfälzischen Bevölkerung entwickelt hat? 2. Welchen Beitrag leistet die Landesregierung, um die Akzeptanz von LSBTTI zu befördern? 3. Wie ist der Sachstand bei der Umsetzung des einstimmigen Beschlusses des Landtags zu den §§ 175 und 175 a StGB? 4. Welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung zur Förderung der gesellschaftlichen Akzeptanz von Vielfalt und Antidiskri- minierung? Das Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen hat die Kleine Anfrage namens der Landes regierung mit Schreiben vom 15. Juli 2014 wie folgt beantwortet: Zu Frage 1 Aus der Veröffentlichung der Bertelsmann-Stiftung „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (2014) geht hervor, dass sich die Akzeptanz von Vielfalt in der rheinland-pfälzischen Bevölkerung positiv entwickelt hat. Sie wird in dieser Längsschnitt-Untersuchung unter anderem gemessen als das Ausmaß der Zustimmung zu der Aussage, dass Schwule und Lesben so leben sollen wie sie wollen. Die Werte können zwischen 0 (niedrigste Zustimmung) und 1 (höchste Zustimmung) variieren. Lag die Zustimmung im ersten Beobachtungszeitraum von 1996 bis 2003 für Rheinland-Pfalz noch unter dem Bundesdurchschnitt (Werte Bundesdurchschnitt 0,71 und RLP 0,68) so stieg sie im zweiten Zeitraum 2004 bis 2008 auf das gleiche Niveau wie im Bundesdurchschnitt (Werte für beide 0,72) und liegt schließlich für den Beobachtungszeitraum 2009 bis 2012 bei einem Wert von 0,81, während der Bundesdurchschnitt bei 0,77 liegt. Dies zeigt, dass sich ein langfristig positiver Prozess der wachsenden Akzeptanz von Vielfalt entwickelt hat. Unser Blick geht aber über die Thematik der sexuellen Identität hinaus. Die von der Landesregierung initiierten Programme zum Gender Mainstreaming, zur Integration und interkulturellen Öffnung und zur Inklusion sowie für die Teilhabe von Menschen aller Altersgruppen erzeugen auf dieser breiten Basis des Verständnisses von Vielfalt verstärkende Wirkung. Druck: Landtag Rheinland-Pfalz, 30. Juli 2014 LANDTAG RHEINLAND-PFALZ 16. Wahlperiode Drucksache 16/3753 Landtag Rheinland-Pfalz – 16.Wahlperiode Für die Landesregierung gilt uneingeschränkt, dass niemand aufgrund seiner persönlichen Eigenschaften ausgegrenzt oder von gleichberechtigter Teilhabe ausgeschlossen werden darf. Die Landesregierung hat sich daher bereits 2012 durch den Beitritt zur Offensive für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft und die Unterzeichnung der diesbezüglichen Absichtserklärung dazu verpflichtet, nicht nur Diskriminierung zu bekämpfen, sondern sich auch aktiv für Akzeptanz von Vielfalt einzusetzen. Bis heute ist Rheinland-Pfalz das einzige Bundesland, das diesen zusätzlichen Auftrag in seine Absichtserklärung aufgenommen hat und ihn seither konsequent umsetzt. Die Landesregierung sieht sich daher durch die Ergebnisse des Bertelsmann-Radars zum gesellschaftlichen Zusammenhalt uneingeschränkt bestätigt. Zu Frage 2: Auf Grundlage des Koalitionsvertrags für die Legislaturperiode 2011 bis 2016 hat die Landesregierung den Landesaktionsplan „Rheinland -Pfalz unterm Regenbogen – Akzeptanz für queere Lebensweisen“ am 29. Januar 2013 beschlossen. Der Landesaktionsplan besteht aus acht Handlungsfeldern und umfasst rund 160 Einzelmaßnahmen, die von den Ressorts in Zusammenarbeit mit QueerNet Rheinland-Pfalz e.V. und allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen umgesetzt wird. Ziele des Landesaktionsplans sind die Bekämpfung von Ausgrenzung und Diskriminierung im Bereich der sexuellen Identität, die vollständige rechtliche Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen sowie die aktive Förderung von Akzeptanz sexueller Vielfalt. Beispiele von Maßnahmen zur Sensibilisierung der Bevölkerung sind Informationsmaterialien über queere Lebensweisen, die bei Veranstaltungen verteilt werden und mit weiteren Hintergrundinformationen auf der Homepage www.regenbogen.rlp.de eingestellt sind. Mit dem Projekt „Familienvielfalt“ fördert das Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen vier regionale Koordinatoren und einen landesweiten Koordinator von QueerNet Rheinland-Pfalz e.V., deren Aufgabe es ist, bei Fachkräften im Bereich Familie, Kinder und Jugend für die Akzeptanz von Regenbogenfamilien und sexueller Vielfalt zu werben. Weitere Beispiele für Sensibilisierungsmaßnahmen sind der Kita-Koffer „Familien- und Lebensvielfalt“, der seit Juni 2014 den Kindertagesstätten zur Verfügung steht, um den vorurteilsfreien Umgang mit den vielfältigen Lebenslagen und Lebensformen von Familien zu fördern, „Streetkick unterm Regenbogen“, ein Straßenfussballturnier, das am 12. Juli 2014 vom Fanprojekt Mainz 05 in Zusammenarbeit mit der Stadt Mainz, der Landesregierung, Sportverbänden und QueerNet Rheinland-Pfalz e.V. durchgeführt wird, oder SchLAu Rheinland-Pfalz, ein peergroup-gestütztes Aufklärungsangebot, in dem ehrenamtliche junge Menschen gezielt geschult werden, um in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen in der persönlichen Begegnung für Akzeptanz von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen und Vielfalt zu werben. Zu Frage 3: Das Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung und Diskriminierung homosexueller Menschen in Rheinland -Pfalz wurde im Februar 2014 dem Institut für Zeitgeschichte München – Berlin in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld übertragen. Die praktische Forschungsarbeit leisten Herr Dr. Günter Grau, Berlin, und Frau Dr. Kirsten Plötz, Hannover, die in diesem Gebiet als Spezialisten ausgewiesen sind. Die Forschungen konzentrieren sich gegenwärtig auf zwei Aspekte: 1. Recherchen in Archiven zum Auffinden von relevanten Quellen und 2. Erarbeitung einer Strategie zur Gewinnung von Zeitzeugen. Das Auffinden von Quellen hat im derzeitigen Stadium der Forschungsarbeiten Priorität. Anträge zur Akteneinsicht in die jeweils spezifizierten Bestände wurden im April an das Landeshauptarchiv Koblenz, das Landesarchiv Speyer und an das Bundesarchiv Koblenz gestellt. Im Mai wurde mit der Aktendurchsicht im Landeshauptarchiv Koblenz begonnen. Geprüft werden vorhandene Bestände des einstigen Ministeriums der Justiz und des einstigen Ministeriums des Innern nach einschlägigen polizeilichen Ermittlungsakten , justiziellen Urteilsakten, Kommentaren zur Polizeilichen Kriminalstatistik, zur Strafverfolgungsstatistik sowie Protokolle des Ministerrats von Rheinland-Pfalz auf Stellungnahmen der Reform des Strafrechts. Die Quellensuche ist zeitaufwendig, da in den Archivbeständen, die vor Jahrzehnten erarbeitet wurden, „Homosexualität“ nicht als Schlagwort verzeichnet ist. Zudem ist die Datenlage aufgrund der Aufbewahrungsfristen für Aktenbestände äußerst dürftig. Aufgrund dieser Tatsache kommt den Aussagen von Zeitzeugen eine besondere Bedeutung zu. Bisherige Erfahrungen aus anderen Forschungsprojekten weisen darauf hin, dass es schwierig ist, Männer und Frauen als Zeitzeugen zu gewinnen, da sie sich aufgrund von Ängsten und Scham scheuen, öffentlich über Alltagserfahrungen als einst gesellschaftlich verachtete und gemiedene Personen zu berichten. Es wurden daher Werbemittel erstellt, die über das Netzwerk von QueerNet Rheinland-Pfalz e. V. sowie über andere, bundesweit agierende Betroffenenorganisationen verteilt werden, um möglichst zahlreich potenzielle Ansprechpersonen zu informieren. Geworben wird mit einer E-Card, die per E-Mail verteilt wird, sowie mit Plakaten und Einladungen zu Vorträgen zum Thema „Zeitzeugenbefragung “. Darüber hinaus sind die Redaktionen der großen Tageszeitungen von Rheinland-Pfalz kontaktiert worden mit der Bitte um Berichterstattung. Die Ergebnisse der Forschung sollen Ende 2015 vorliegen. Auf ihrer Grundlage ist die Erarbeitung einer Wanderausstellung auch zur Bildungsarbeit vorgesehen, um Gedenkarbeit und Sensibilisierungsarbeit gegen Homophobie und zur Förderung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt entsprechend dem Landtagsbeschluss umzusetzen. 2 Landtag Rheinland-Pfalz – 16.Wahlperiode Drucksache 16/3753 Die Landesregierung hat für die Umsetzung des einstimmigen Beschlusses des Landtags vom Dezember 2012 zur Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung und Diskriminierung homosexueller Menschen in Rheinland-Pfalz in den Haushaltsjahren 2014 und 2015 insgesamt 100 000 Euro eingeplant. Dies ist mit Abstand das bundesweit größte finanzielle Engagement zur Gedenkarbeit und Präventionsarbeit gegen Homophobie. Zu Frage 4: Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, Diskriminierung zu bekämpfen und Vielfalt positiv zu gestalten. Dazu hat die Landesregierung in meinem Haus die Landes antidiskriminierungsstelle eingerichtet. Sie ist beauftragt, die Arbeit in den sechs Handlungsfeldern, die auf die persönlichen Eigenschaften, die durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geschützt werden (das sind Geschlecht , Alter, Behinderung, ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung sowie sexuelle Identität), zu koordinieren und zu bündeln. Zu diesem Zweck wurde 2012 die interministerielle Arbeitsgruppe (IMA) Vielfalt unter Federführung der Landesantidiskriminierungsstelle gegründet. Die IMA Vielfalt hat zwei Bestandsaufnahmen durchgeführt, um den Ist-Stand 2012 festzuhalten. Dabei wurde herausgearbeitet, dass die Förderung der gesellschaftlichen Akzeptanz im Sinne der positiven Gestaltung von Vielfalt keineswegs bei Null beginnen musste. In einem zweiten Schritt hat die IMA Vielfalt ein Grundlagenpapier ressortübergreifend abgestimmt , das Begriffsbestimmungen, die Festlegung von Handlungsfeldern und Leitsätzen und daraus abgeleitete allgemeine und spezifische Teilziele der Politik der Landesregierung enthält. Auf dieser Basis erarbeitet die IMA Vielfalt derzeit die „Strategie Vielfalt “ der Landesregierung, um nicht nur rückblickend zu registrieren, was bereits stattfindet, sondern die Förderung der Akzeptanz gesellschaftlicher Vielfalt auch zukunftsgerichtet zu steuern. Die Landesantidiskriminierungsstelle unterstützt die in Rheinland-Pfalz tätigen Nichtregierungsorganisationen der Antidiskriminierungsarbeit in ihrem Netzwerkbildungsprozess. Das „Netzwerk diskriminierungsfreies Rheinland-Pfalz“ hat sich Mitte 2012 durch die Unterzeichnung eines gemeinsamen Leitbilds offiziell gegründet. Das Netzwerk ist Ansprechpartner und Kooperationspartner und sichert die Teilhabe der Zielgruppen der Antidiskriminierungs- und Vielfaltspolitik. Das Netzwerk ist zugleich bundesweit das einzige, in dem von Beginn an alle sechs Merkmalsbereiche nach AGG (siehe oben) durch Selbsthilfe- und Betroffenenorganisationen mitgearbeitet und sich beteiligt haben. Alle Mitglieder des Netzwerks sind, ebenso wie die Landesantidiskriminierungsstelle und weitere Organisationseinheiten – insbesondere die beiden Beauftragten für Menschen mit Behinderungen und für Migration und Integration – auch Anlaufstellen bei Diskriminierung. Sie üben diese Funktion nicht im Sinne klassischer Beratungsstellen aus, sondern tragen Verantwortung dafür, dass Ratsuchende oder Opfer von Diskriminierung schnellstmöglich die notwendige Unterstützung und fachliche Beratung erhalten (Weiterleitungsberatung). Irene Alt Staatsministerin 3