Drucksache 16/84 05. 07. 2011 K l e i n e A n f r a g e der Abgeordneten Peter Wilhelm Dröscher und Kathrin Anklam-Trapp (SPD) und A n t w o r t des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Forderungen nach höherer Eigenbeteiligung der Patienten im Gesundheitswesen Die Kleine Anfrage 54 vom 14. Juni 2011 hat folgenden Wortlaut: Der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz hat in einem Presseinterview unter anderem gefordert, dass Patienten bei jedem einzelnen Arztbesuch eine höhere Eigenbeteiligung leisten sollen. Darüber hinaus wurde den Patienten unterstellt, sie nähmen medizinische Leistungen im Übermaß in Anspruch und daher müssten entweder Leistungen rationiert oder Patienten stärker in die Verantwortung genommen werden. Vor diesem Hintergrund fragen wir die Landesregierung: 1. Welche Konsequenzen erwartet die Landesregierung für die Patientinnen und Patienten in Rheinland-Pfalz, wenn diese Vor- schläge zu einer höheren Eigenbeteiligung umgesetzt würden? 2. Welche Konsequenzen erwartet die Landesregierung für die Patientinnen und Patienten, wenn der Vorschlag einer Rationierung von Leistungen umgesetzt würde? 3. Wie bewertet die Landesregierung die von den Vorständen der Kassenärztlichen Vereinigung geäußerten Vorschläge? 4. Wie bewertet die Landesregierung die derzeitige Honorarverteilung durch die Kassenärztliche Vereinigung auf die einzelnen Arzt- gruppen? 5. Welche Maßnahmen stehen der Kassenärztlichen Vereinigung nach Kenntnis der Landesregierung zur Verfügung, um eine gleich- mäßigere Ansiedlung junger niederlassungsbereiter Ärzte zwischen ländlichem Raum und Ballungsgebieten zu erreichen und welche davon nutzt nach Kenntnis der Landesregierung die Kassenärztliche Vereinigung in Rheinland-Pfalz? Das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie hat die Kleine Anfrage namens der Landesregierung mit Schreiben vom 1. Juli 2011 wie folgt beantwortet: Zu 1.: Nach Auffassung der rheinland-pfälzischen Landesregierung darf der Zugang zur ärztlichen Versorgung und deren Qualität nicht vom Geldbeutel der Patientinnen und Patienten abhängen. Eine gute ärztliche Versorgung muss für alle Versicherten gleichermaßen zur Verfügung stehen. Das ist einer der Grundpfeiler unseres solidarischen Gesundheitssystems und ein wesentlicher Bestandteil unseres Sozialstaates, der für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft eine überragende Rolle spielt. Das Konzept einer Eigenbeteiligung schreckt vor allem Patientinnen und Patienten mit geringem Einkommen vom Besuch einer Arztpraxis ab. Dabei wird eine Spaltung der Gesellschaft zwischen Menschen, denen es finanziell gut geht, und solchen, die auf jeden Cent achten müssen, befördert. Letztere müssten sich vor jedem Arztbesuch überlegen, ob sie sich einen Arztbesuch aktuell leisten können oder nicht. Falls sie dies nicht können, würden sie von einem möglicherweise dringend gebotenen Arztbesuch absehen und damit schwere gesundheitliche Risiken für sich und mitversicherte Familienangehörige in Kauf nehmen. Dieser Teil der Versicherten wäre von der Versorgung ausgeschlossen, da er finanziell nicht dazu in der Lage wäre, die Kosten für eine ärztliche Behandlung beziehungsweise einer Eigenbeteiligung daran aufzubringen. Die Einschätzung der medizinischen Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung würde Druck: Landtag Rheinland-Pfalz, 26. Juli 2011 LANDTAG RHEINLAND-PFALZ 16. Wahlperiode Drucksache 16/84 Landtag Rheinland-Pfalz – 16.Wahlperiode auf Patientinnen und Patienten verlagert, die das gar nicht entscheiden können. Im Zweifel würden Versicherte ihre Beschwerden auf die lange Bank schieben – mit dem Risiko, Krankheiten zu verschleppen, ihre Leiden zu verstärken, gegebenenfalls sogar zu chronifizieren sowie möglicherweise andere Menschen anzustecken. Nur die finanziell besser gestellten Versicherten könnten sich noch ärztliche Untersuchungen leisten, ohne vorher ihr finanzielles Budget einer intensiven Prüfung unterziehen zu müssen. Dies wäre ein Schritt in Richtung „Zweiklassenmedizin“. Nach aktuellen Studien haben von 1 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Jahr 2008 rund 11,7 Prozent der Personen nach eigenen Angaben trotz Beschwerden in den zwölf Monaten vor der Befragung wegen der Zuzahlungen auf einen Arztbesuch verzichtet . Im größtenteils auf Privatversicherungen basierenden Gesundheitssystem in den USA waren es sogar 24,6 Prozent.*) Die Einführung einer solchen Zweiklassenmedizin ist mit den Grundsätzen einer sozialen Politik und mit dem Solidaritätsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung nicht vereinbar und wird von dieser Landesregierung nachdrücklich abgelehnt. Zu 2.: Man kann den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft weder mit Forderungen nach einer Rationierung oder auch Priorisierung , das heißt mit Leistungskürzungen, noch mit der Forderung nach mehr Geld für das Gesundheitssystem oder für einzelne Leistungserbringer begegnen. Gefragt sind vielmehr innovative Konzepte wie beispielsweise eine bessere Vernetzung zwischen Kliniken und niedergelassener Ärzteschaft. Mit dem geplanten Versorgungsgesetz, an deren Konzipierung auch die Länder maßgeblich beteiligt waren, sollen beispielsweise Krankenhäuser auch zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung ermächtigt werden können, wenn ein zusätzlicher lokaler Versorgungsbedarf besteht. Unser Gesundheitssystem fußt auf der Überzeugung, dass den Versicherten alle medizinisch notwendigen Leistungen zugutekommen sollen und müssen. Sollte dies eines Tages nicht mehr der Fall sein, würde damit ein Systemwechsel eingeführt, der aus Sicht der Landesregierung ethisch und moralisch nicht vertretbar wäre. Ein solcher Wertewandel würde sich insbesondere gegen die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung richten und würde die solidarische Finanzierung zum Auslaufmodell machen. In anderen Ländern weltweit hat die Einführung von Leistungsrationierungen zu einer schrittweisen Einführung der Zweiklassenmedizin geführt. Diese Perspektive muss alle verantwortungsbewussten Gesundheitspolitiker abschrecken. Die Landesregierung wird sich auch künftig dafür einsetzen, vollständig zur Finanzierung über einkommensabhängige Beiträge zurückzukehren und das Solidarprinzip durch die Einführung einer Bürgerversicherung zu stärken. Die Bürgerinnen und Bürger können sich darauf verlassen, dass wir einer schleichenden Rationierung unseres immer noch hervorragenden Gesundheitssystems entgegentreten werden. Zu 3.: Die Forderungen der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz werden von der Landesregierung nachdrücklich abgelehnt. Ich habe mich bereits unmittelbar nach Erscheinen des Presseinterviews öffentlich geäußert, dass ich eine prozentuale Eigenbeteiligung der Patientinnen und Patienten bei einem Arztbesuch ablehne. Ich empfinde es auch als sehr bedauerlich, dass kranken Menschen pauschal unterstellt wird, dass sie „verwöhnt“ seien und sie zu häufig wegen „Befindlichkeitsstörungen“ einen Arzt aufsuchen würden. Ich will nicht verhehlen, dass es unter den täglich vielen Tausend Menschen in den Arztpraxen Patientinnen und Patienten gibt, die aus medizinischen Gründen gut auf diesen Arztbesuch hätten verzichten können. Nur in diesen Fällen ist es Sache des Arztes, Aufklärung im Patientengespräch zu leisten und diese Patientinnen und Patienten ohne eine aufwendige Untersuchung, ohne Rezept und ohne Überweisung wieder aus der Praxis zu entlassen . „Verwöhnte“ Patientinnen und Patienten kann es nur geben, wenn es diese verwöhnenden Ärztinnen und Ärzte gibt! Nur die Ärztin und der Arzt wissen, wann Patientinnen und Patienten medizinische Hilfe brauchen und in welchen Fällen keine Behandlung erforderlich ist. Dies ihren Patientinnen und Patienten zu vermitteln, ist auch Teil der ärztlichen Dienste am Menschen. Zu 4.: Ministerpräsident Kurt Beck und auch ich haben uns stets für eine Honorarsteigerung für die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten eingesetzt. Seit 2007 konnten die rund 7 000 Kassenärztinnen und Kassenärzte in Rheinland-Pfalz Honorarsteigerungen von rund 120 Millionen Euro verzeichnen. Für 2011 wird eine weitere Steigerung um mehr als 47 Millionen Euro erwartet. Für die Behandlung der Versicherten stehen somit ausreichende Mittel zur Verfügung. 2 *) Ärzte-Zeitung online vom 19. April 2011. Landtag Rheinland-Pfalz – 16.Wahlperiode Drucksache 16/84 Im Referentenentwurf des GKV-Versorgungsgesetzes ist vorgesehen, dass die regionalen Gestaltungsspielräume bei der Honorarverteilung künftig wieder auf der Ebene der Kassenärztlichen Vereinigungen genutzt werden können. Die Landesregierung wird sich im bevorstehenden Gesetzgebungsverfahren dafür einsetzen, dass hierzu vernünftige und praktikable Regelungen gefunden werden, die nicht mit unkalkulierbaren Kostenrisiken für die gesetzliche Krankenversicherung und damit mit Zusatzbeiträgen für die Versicherten verbunden sind. Ich hoffe daher, dass es der Selbstverwaltung auf Bundes- und Landesebene künftig gelingen wird, die bestehenden Honorarunterschiede zwischen den Arztgruppen auszugleichen und die Gelder gerecht zu verteilen. Die Vergütung der einzelnen Fachgruppen weist nach wie vor sehr große Unterschiede auf. Die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung sind hier gefordert, endlich für mehr Honorargerechtigkeit zu sorgen. Zu 5.: Der Gesetzgeber hat den Kassenärztlichen Vereinigungen eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Beseitigung oder Abwendung eingetretener oder drohender Unterversorgung an die Hand gegeben. Dazu gehören unter anderem die Möglichkeiten, Sicherstellungszuschläge zu vereinbaren sowie Investitionshilfen und Umsatzgarantien zu gewähren. Zudem können Kassenärztliche Vereinigungen zusammen mit den Krankenkassen im Zulassungsausschuss Krankenhausärztinnen und -ärzte zur Teilnahme an der ambulanten Versorgung ermächtigen, wenn bestimmte Leistungen im vertragsärztlichen Bereich nicht im notwendigen Umfang erbracht werden können. Letztlich besteht für Kassenärztliche Vereinigungen auch die Möglichkeit auf Betreibung und Finanzierung von Eigeneinrichtungen. Nach den der Landesregierung vorliegenden Informationen bietet die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz ihren Mitgliedern beziehungsweise interessierten Ärztinnen und Ärzten und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten eine Niederlassungsberatung für die Bereiche Nord (Koblenz und Trier) und Süd (Pfalz und Rheinhessen) an. Treten die gemeinsam mit den Ländern erarbeiteten Konzepte des GKV-Versorgungsgesetzes wie vorgesehen in Kraft, werden ab dem 1. Januar 2012 weitere Maßnahmen zur Verfügung stehen, um eine Ansiedlung junger niederlassungsbereiter Ärztinnen und Ärzte im ländlichem Raum zu fördern und die Ärztedichte in Ballungsgebieten ohne eine Verschlechterung der Versorgung dort zurückzuführen. Das vorgesehene Maßnahmenpaket des Versorgungsgesetzes, um den Versorgungsengpässen entgegenzutreten, sieht auch vor, dass die Länder bei der Planung der Arztsitze künftig mit einbezogen werden. Sie bekommen ein Mitberatungsrecht auf Bundesebene im Gemeinsamen Bundesausschuss sowie auf Landesebene. Hier soll auch die Möglichkeit geschaffen werden, von den bundeseinheitlichen Planungsvorgaben abzuweichen. Zudem soll es in überversorgten Gebieten, das heißt zumeist in Ballungsräumen, Anreize für Praxisschließungen geben. Hierzu soll die Kassenärztliche Vereinigung die Möglichkeit erhalten, Praxen per Vorkaufsrecht aufzukaufen, sofern diese nicht an ein Familienmitglied oder einen Praxispartner übertragen oder nicht mehr nachbesetzt werden. Auch diese Maßnahme soll dazu beitragen, dass Ärztinnen und Ärzte sich künftig verstärkt auf dem Lande niederlassen. Jungen Ärztinnen und Ärzten, die mehrere Jahre in ländlichen Regionen gearbeitet haben, könnte dann anschließend eine bevorzugte Niederlassung in der Stadt zugesichert werden. Zulassungsausschüsse sollen bei der Nachbesetzung von Vertragsarztsitzen solche Bewerberinnen und Bewerber bevorzugen, die bereit sind, besondere Versorgungsbedürfnisse zu erfüllen. Die genannten Maßnahmen beruhen auf der Erkenntnis, dass Überkapazitäten in Ballungsgebieten abgebaut und angehende Ärztinnen und Ärzte auf eine Niederlassung in den Regionen orientiert werden, in denen in den kommenden Jahren beziehungsweise Jahrzehnten Unterversorgung drohen könnte, getreu dem Motto „Ärzte werden künftig noch viel stärker dort gebraucht, wo die Patientinnen und Patienten auf sie warten.“ Malu Drey Staatsministerin 3