Druck: Landtag Rheinland-Pfalz, 9. August 2017 LANDTAG RHEINLAND-PFALZ 17. Wahlperiode Drucksache 17/3550 zu Drucksache 17/3351 14. 07. 2017 A n t w o r t des Ministeriums für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Pia Schellhammer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Drucksache 17/3351 – Aufhebung des Transsexuellengesetzes Die Kleine Anfrage – Drucksache 17/3351 – vom 22. Juni 2017 hat folgenden Wortlaut: Am 2. Juni 2017 hat der Bundesrat eine Initiative des Landes Rheinland-Pfalz beschlossen, die die Aufhebung des Transsexuellengesetzes und stattdessen die Erarbeitung eines Gesetzes zur Anerkennung der Geschlechtsidentität und zum Schutz der Selbstbestimmung bei der Geschlechterzuordnung fordert. Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung: 1. Warum ist nach Ansicht der Landesregierung und des Bundesrates das seit 1981 bestehende Transsexuellengesetz nicht mehr zeitgemäß ? 2. Welche Aspekte sollte nach Auffassung der Landesregierung ein modernes Gesetz zur Anerkennung der Geschlechtsidentität und zum Schutz der Selbstbestimmung bei der Geschlechterzuordnung berücksichtigen? 3. Welche Erkenntnisse hat die seit 2014 tagende interministerielle Arbeitsgruppe der Bundesregierung zum Schwerpunkt „Interund Transsexualität“ für den Landesaktionsplan „Rheinland-Pfalz unterm Regenbogen“ gebracht? 4. Wie will die Landesregierung die gesellschaftliche Akzeptanz von transidenten und intersexuellen Menschen fördern und ihre Lebenssituation verbessern? Das Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz hat die Kleine Anfrage namens der Landes - regierung mit Schreiben vom 13. Juli 2017 wie folgt beantwortet: Zu Frage 1: Das Transsexuellengesetz (TSG) ist seit seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1981 nicht mehr reformiert worden. Viele seiner Regelungen entsprechen nicht mehr dem heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in sechs Entscheidungen mit dem TSG befasst und folgende Vorschriften für verfassungswidrig erklärt: 1. § 8 Abs. 1 Nr. 1 des TSG verstößt gegen Artikel 3 Abs. 1 GG, soweit bei einem Transsexuellen unter 25 Jahren trotz Durchführung einer geschlechtsumwandelnden Operation und Erfüllung der übrigen gesetzlichen Voraussetzungen die personenstandsrechtliche Feststellung der Zugehörigkeit zu dem anderen Geschlecht ausgeschlossen ist (Beschluss vom 16. März 1982 – 1 BvR 983/81). 2. Es ist mit Artikel 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar, Transsexuellen unter 25 Jahren die Vornamensänderung nach § 1 des TSG zu versagen, die älteren Transsexuellen gewährt wird (BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993 – 1 BvL 38, 40, 43/92). 3. § 7 Abs. 1 Nr. 3 des TSG verletzt das von Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 GG geschützte Namensrecht eines homosexuell orientierten Transsexuellen sowie sein Recht auf Schutz seiner Intimsphäre, solange ihm eine rechtlich gesicherte Partnerschaft nicht ohne Verlust des geänderten, seinem empfundenen Geschlecht entsprechenden Vornamens eröffnet ist. Die Norm ist deshalb bis zu einer gesetzlichen Neuregelung nicht anwendbar (BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 BvL 3/03). 4. § 1 Abs. 1 Nr. 1 des TSG verstößt gegen das Gleichbehandlungsgebot (Artikel 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit (Artikel 2 Abs. 1 i. V. m. Artikel 1 Abs. 1 GG), soweit er ausländische Transsexuelle, die sich rechtmäßig und nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhalten, von der Antragsberechtigung zur Änderung des Vornamens und zur Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 TSG ausnimmt, sofern deren Heimatrecht vergleichbare Regelungen nicht kennt (BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 2006 – 1 BvL 1 und 12/04). Drucksache 17/3550 Landtag Rheinland-Pfalz – 17.Wahlperiode 5. § 8 Abs. 1 Nr. 2 des TSG ist mit Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 GG und Artikel 6 Abs. 1 GG nicht vereinbar , weil er einem verheirateten Transsexuellen, der sich geschlechtsändernden Operationen unterzogen hat, die Möglichkeit, die personenstandsrechtliche Anerkennung seiner neuen Geschlechtszugehörigkeit zu erhalten, nur einräumt, wenn seine Ehe zuvor geschieden wird (BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 2008 – 1 BvL 10/05). 6. Es verstößt gegen Artikel 2 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 GG, dass ein Transsexueller, der die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 TSG erfüllt, zur rechtlichen Absicherung seiner gleichgeschlechtlichen Partnerschaft nur dann eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründen kann, wenn er sich zuvor gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 des TSG einem seine äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen hat sowie dauernd fortpflanzungsunfähig ist und aufgrund dessen personenstandsrechtlich im empfundenen und gelebten Geschlecht Anerkennung gefunden hat. (BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 1 BvR 3295/07). Die verbleibenden Normen des TSG verstoßen unter anderem gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, die Benachteiligung aus Gründen des Geschlechts verbieten, sowie gegen die Resolution 2048 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates aus 2015, die verpflichtende, stigmafreie Zugänge zu chirurgischen, hormonellen , psychologischen und durch das Gesundheitssystem getragenen Behandlungen vorsieht. Insbesondere die Vorgabe von zwei Gutachten nach § 4 Abs. 3 TSG, die in der deutschen Rechtsordnung einzigartig ist, wird von den Betroffenen als entwürdigend empfunden und ruft Gefühle der Abhängigkeit und Erniedrigung hervor. Zu Frage 2: Das TSG sollte durch ein Gesetz abgelöst werden, das insbesondere die Begutachtungspflicht durch eine selbstbestimmte Geschlechtszuordnung ersetzt. Unterstützend sollen dazu ausreichende und fachkompetente Informations-, Aufklärungs- und Beratungsangebote zu rechtlichen, medizinischen und psychologischen Aspekten für die betroffenen Menschen und ihre Angehörigen bereitgestellt werden. Ebenso dringlich sind Regelungen, die den Anspruch auf ausreichende Gesundheitsversorgung für medizinische Maßnahmen zur Modifizierung des eigenen Körpers sicherstellen. Die Zuständigkeit des Verfahrens zur Anerkennung der Geschlechtsidentität sollte nicht als Gerichts- sondern in Zukunft als Verwaltungsverfahren in einer Behörde oder bei einem rechtlich autorisierten Träger angesiedelt werden, die oder der mit Kompetenz im Personenstandsrecht ausgestattet ist. Auch sind Regelungen für einen verbesserten Zugang zur Vornamens- und Personenstandsänderung für Minderjährige und nicht deutsche Menschen erforderlich, für die Elternschaft transgeschlechtlicher Personen sowie zur Stärkung des Offenbarungsverbots und für die Sanktionierung, die entsprechende Verstöße ahnden. Von besonderer Bedeutung sind darüber hinaus die Information und Aufklärung zur Geschlechtervielfalt von Fachkreisen sowie der breiten Öffentlichkeit. Das Gesetz sollte daher Vorgaben für Informations- und Aufklärungsangebote über Geschlechtervielfalt enthalten und die Vermittlung rechtlicher, medizinischer und psychologischer Erkenntnisse und Erfordernisse für Fachkräfte im Bildungs- und Gesundheitsbereich sicherstellen. Zu den Fragen 3 und 4: Nach den Empfehlungen des Deutschen Ethikrates zu Intersexualität aus dem Jahr 2012 hat die Interministerielle Arbeitsgruppe der Bundesregierung erstmals die Anliegen transidenter und intersexueller Menschen thematisiert, sie mit Vertretungen transidenter und intersexueller Menschen sowie Fachleuten aus Medizin, Recht und Psychologie diskutiert und Gutachten in Auftrag gegeben , die die derzeitige Situation analysieren und Perspektiven zur Verbesserung der Lebenssituation von transidenten und intersexuellen Menschen aufzeigen, wie das Gutachten „Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen“ der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und das Gutachten „Geschlechtervielfalt im Recht“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Die Erkenntnis der interministeriellen Arbeitsgruppe, dass die Gesellschaft in allen gesellschaftlichen Feldern von Zweigeschlechtlichkeit ausgeht und Menschen, die nicht in die Kategorie Mann oder Frau passen, in Recht und Sprache ignoriert, ihre Menschenrechte verletzt und sie im Alltag diskriminiert, bestätigt die Ergebnisse der nicht repräsentativen Online-Studie der Landesregierung zur Lebenssituation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transidenten und Intersexuellen in Rheinland-Pfalz aus 2015 und aus dem Dialog mit den Queer-Gruppen beim Landesweiten Runden Tisch zum Landesaktionsplan „Rheinland-Pfalz unterm Regen - bogen“. So zeigt die rheinland-pfälzische Studie eine im Vergleich zu anderen Identitätsgruppen stärkere Benachteiligung der befragten transi denten Menschen in nahezu allen Lebensbereichen: Gut 75 Prozent gaben an, aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität benachteiligtworden zu sein. Am Arbeitsplatz beispielsweise waren transidente Personen deutlich häufiger als andere LSBTI-Gruppen Spott sowie Mobbing von Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzten ausgesetzt. Darüber hinaus erlebten transidente Menschen spezifische Diskriminierungen: Fünf transidente Personen (13,5 Prozent) mussten mindestens einmal in ihrem ursprünglichen Geschlecht weiterarbeiten, um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren. Der Verband Intersexuelle Menschen e.V. betrachtet den Umgang mit intersexuellen Menschen selbst und mit Eltern von intersexuellen Kindern als diskriminierend und demütigend. Die als Genitalverstümmelung empfundenen Eingriffe sind eine eklatante Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit sowie des durch die UN-Kinderrechtskonvention garantierten Rechts auf Beteiligung des Kindes an Entscheidungen, die sein Leben so eklatant betreffen . 2 Landtag Rheinland-Pfalz – 17.Wahlperiode Drucksache 17/3550 Die Landesregierung hat daher in ihrem Koalitionsvertrag für die Jahre 2016 bis 2021 transidente und intersexuelle Menschen explizit erwähnt: „Die Situation von besonders benachteiligten transgeschlechtlichen und intersexuellen Menschen wollen wir gemeinsam mit Fachstellen aus dem Bereich Recht, Medizin und Psychologie verbessern und die Selbsthilfestrukturen stärken“ (Seite 134). Die Bundesratsinitiative der Landesregierung Rheinland-Pfalz zur Aufhebung des TSG und Ersatz durch ein modernes Gesetz zur Anerkennung der Geschlechtsidentität und zum Schutz der Selbstbestimmung wurde am 2. Juni 2017 vom Bundesrat mehrheitlich beschlossen. Sie untermauert das Anliegen, die Reform des TSG in der kommenden Legislaturperiode der Bundesregierung zügig umzusetzen. In einem Faltblatt und auf der Homepage www.regenbogen.rlp.de informiert die Landesregierung eine breite Öffentlichkeit über die Bedeutung von Transsexualität und Intersexualität: Transident oder Transsexuell oder Transgender sind Menschen, die sich nicht (nur) dem ihnen bei der Geburt notierten Geschlecht zugehörig wissen. Intersexuelle oder Intergeschlechtliche Menschen werden mit Geschlechtsmerkmalen geboren, die eine Mischung aus männlichen oder weiblichen Merkmalen darstellen oder damit Ähnlichkeiten haben. Weitere Informationen zu Geschlechtsidentität und sexueller Identität sind geplant. Um transidenten und intersexuellen Menschen dabei zu unterstützen, die besonderen Herausforderungen im Alltag zu meistern, soll die Peer-to-Peer-Beratung gestärkt, Beratende qualifiziert und das Beratungsangebot stärker bekannt gemacht werden. Dazu werden Gespräche mit Queer-Gruppen in Rheinland-Pfalz geführt. Darüber hin aus werden Beratungsstellen, wie beispielsweise die Schwangerenkonfliktberatungsstellen oder die Familien- und Lebensberatungsstellen, über die Vielfalt von Geschlechtsidentitäten informiert, um für Eltern intersexueller und transsexueller Kinder sowie für transsexuelle und intersexuelle Menschen selbst eine kompetente Erstberatung anbieten zu können. Das grundlegende Ziel des Landesaktionsplans „Rheinland-Pfalz unterm Regenbogen“, alle Regeleinrichtungen, wie beispielsweise Kindertagesstätten, Schulen, Jugendämter, Gesundheitseinrichtungen, Familieneinrichtungen, Alteneinrichtungen, Polizei oder Migrations- und Flüchtlingsdienste, über die Anliegen von transidenten und intersexuellen Menschen in gleicher Weise zu informieren und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft zu fördern wie von Lesben, Schwulen und Bisexuellen, bleibt eine Daueraufgabe. Die im November 2016 berufene Landesbeauftragte für gleichgeschlechtliche Lebensweisen und Geschlechtsidentität unterstützt dieses Anliegen durch Gespräche mit den gesellschaftlichen Gruppen, die Teilnahme an relevanten Veranstaltungen und die Vertretung der Anliegen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transidenten und Intersexuellen in Politik, Öffentlichkeit und Fachkreisen . In Vertretung: Dr. Christiane Rohleder Staatssekretärin 3