LANDTAG DES SAARLANDES 15. Wahlperiode Drucksache 15/1907 (15/1808) 12.07.2016 A N T W O R T zu der Anfrage der Abgeordneten Dagmar Ensch-Engel (DIE LINKE.) betr.: Auswirkungen einer Katastrophe im Atomkraftwerk Cattenom auf das Saarland Vorbemerkung der Fragestellerin: „Das Atomkraftwerk Cattenom muss immer wieder wegen Pannen und Störfällen abgeschaltet werden . Es ist eine Gefahr für die Menschen in der gesamten Region. Dennoch plant die französische Regierung offenbar eine weitere Verlängerung der Laufzeit auf 50 Jahre.“ Wurden je Quellterm-Karten bei verschiedenen realistischen Wetterlagen und bei der Annahme des Austritts des gesamten radioaktiven Inventars (sowie 50 % und 5 %) eines Reaktors des AKW Cattenom errechnet? Wenn ja, mit welchen Ergebnissen ? Wenn nein, wann wird dies geschehen ? Zu Frage 1: Ausbreitungsrechnungen mit generischen Quelltermen („Quellterm-Karten“) werden nicht im Vorgriff erstellt. Sie werden erst erstellt, wenn bei einem Störfall mit zu erwartender oder tatsächlicher Freisetzung der Quellterm bekannt ist. In welchen Regionen ist mit Kontaminationen über dem Evakuierungswert von 100 mSv/a zu rechnen ? Zu Frage 2: Ein schwerer Unfall in einem Kernkraftwerk, bei dem es infolge einer Kernschmelze und zusätzlichem Versagen von Rückhaltebarrieren zu einer hohen Freisetzung von Radionukliden des Kerninventars kommt, kann orts- und zeitabhängig schwerwiegende Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung erforderlich machen. Zu möglichen frühen Schutzmaßnahmen zählen insbesondere das „Aufsuchen von Gebäuden“, die „Einnahme von Jodtabletten“ zur Blockade der Schilddrüse, die „Evakuierung“ sowie die „Warnung vor der Verwertung frisch geernteter Nahrungs- und Futtermittel“. Ausgegeben: 12.07.2016 (12.05.2016) Drucksache 15/1907 (15/1808) Landtag des Saarlandes - 15. Wahlperiode - - 2 - Für die Einleitung dieser Maßnahmen empfiehlt die Strahlenschutzkommission (SSK) Eingreifrichtwerte. Für die sehr schwerwiegende Maßnahme „Evakuierung“ empfiehlt die SSK als Eingreifrichtwert eine effektive Dosis von 100 Millisievert in einer Integrationszeit von 7 Tagen über die Expositionspfade äußere Exposition und effektive Folgedosis durch in diesem Zeitraum inhalierte Radionuklide bei unterstelltem Daueraufenthalt im Freien. Die Eingreifrichtwerte werden zurückgeführt auf die messbaren Größen Ortsdosisleistung (mSv/h), Akivitätskonzentration in der Luft (Bq/m³), Oberflächenkontamination auf Boden, Gegenständen und der Haut (Bq/m²) sowie spezifische Aktivitäten z. B. in Nahrungsmitteln , Trinkwasser, Oberflächengewässer, Futtermitteln und Böden (Bq/kg, Bq/l). Bei einem hoffentlich niemals eintretenden schweren oder sehr schweren Unfall im Kernkraftwerk Cattenom ist eine Überschreitung des Eingreifrichtwertes für die Maßnahme „Evakuierung“ mit hoher Wahrscheinlichkeit begrenzt auf die Mittelzone (Radius 20 km), punktuell jedoch nicht auszuschließen in der Außenzone (Radius 100 km). Werden die saarländischen Behörden auf Landesund kommunaler Ebene über sicherheitsrelevante Ereignisse im AKW Cattenom informiert? Zu Frage 3: Bei einem Unfall im Kernkraftwerk Cattenom werden die zuständigen saarländischen Behörden primär durch das seitens des Kernkraftwerkbetreibers bereitgestellte satellitengestützte SELCA-System (Système d`Echanges et de Liaisons entre Cattenom et les Autorités) als technisches Warn- und Informationssystem alarmiert, das in den vom Kernkraftwerk Cattenom betroffenen Ländern (Präfektur in Metz, Luxemburg, Saarland und Rheinland-Pfalz) eingerichtet ist. Neben der Alarmierung werden über das SELCA-System auch die ersten verfügbaren Informationen und die ersten technischen Details zum Störfall oder Unfall, zu seinen Folgen und bei Bedarf zu den zu ergreifenden Maßnahmen sowie weitere Meldungen über die Lageentwicklung, den Zustand der Anlage und Prognosemitteilungen übermittelt. Über das System können auch Meldungen ausgetauscht oder Fragen an den Betreiber oder die Präfektur gerichtet werden. Es ist im Saarland bei der Führungs- und Lagezentrale des Landespolizeipräsidiums (FLZ) als Meldekopfstelle der saarländischen Landesregierung eingerichtet. Die FLZ leitet die Meldungen nach einem festgelegten Meldeverfahren an die zuständigen Behörden weiter. Meldungen und Informationen des Kernkraftwerkbetreibers oder der Präfektur in Metz über Ereignisse im Kernkraftwerk Cattenom ohne Notfallschutzrelevanz gehen per Mail oder über das normale Dienstfax bei der FLZ ein. Auch diese Informationen werden von der FLZ nach einem festgelegten Meldeverfahren an die betroffenen Behörden weitergeleitet. Darüber hinaus besteht eine schriftliche Vereinbarung zwischen der saarländischen Landesregierung und dem Betreiber des Kernkraftwerkes Cattenom EdF über Direktinformationen bei Ereignissen und Störfällen. Drucksache 15/1907 (15/1808) Landtag des Saarlandes - 15. Wahlperiode - - 3 - In dieser schriftlichen Vereinbarung verpflichtet sich der Betreiber von Cattenom, die saarländische Landesregierung unverzüglich über bedeutende Vorkommnisse, Ereignisse und Störfälle zu informieren. Die Erstinformationen erfolgen durch die EdF zunächst telefonisch an einen Mitarbeiter des Ministeriums für Umwelt und Verbraucherschutz (MUV). Sobald eine schriftliche Darstellung erstellt ist, wird diese per E-Mail an das MUV sowie an die Führungs- und Lagezentrale (FLZ) der saarländischen Polizei geschickt. Die FLZ lässt von dieser Meldung eine Übersetzung fertigen. Dazu steht ein Übersetzungsbüro ganzjährig „rund um die Uhr“ zur Verfügung. Die FLZ leitet die Originalmeldung sowie die Übersetzung den zuständigen Ministerien und Behörden auf Landes- und Landkreisebene unmittelbar zu. Je nach Art des Ereignisses wird die Bevölkerung über die Medien informiert. Gibt es Schätzungen über die möglichen Kosten eines INES-7-Falles im AKW Cattenom (Sachkosten durch Zerstörung von Privateigentum, Infrastruktur und Produktionsstätten sowie Kosten durch gesundheitliche Schäden und Tod von Personen )? Zu Frage 4: Das französische Institut für Strahlenschutz und Nukleare Sicherheit IRSN veröffentlichte im November 2012 eine Studie über die möglichen Kosten eines schweren Unfalls in einem französischen Kernkraftwerk. Die Analyse wurde für verschiedene, nicht näher genannte Kraftwerksstandorte durchgeführt . Hierzu wurden unterschiedliche meteorologische Bedingungen und technische Unfallszenarien betrachtet. Das IRSN kommt bei seiner Analyse zu den folgenden Ergebnissen : 1. Bei einem schweren Unfall müssten einige Tausend Menschen evakuiert werden. Die Gesamtkosten würden im Schnitt 120 Milliarden Euro betragen. Diese Summe würde hauptsächlich in den ersten 3 Jahren nach einem Unfall anfallen. Dies entspräche etwa 6% des französischen Bruttoinlandsproduktes (BIP). Da die französische Wirtschaft demnach etwa 3 bis 6 Jahre kein Wachstum zu verzeichnen hätte, wäre dies in Frankreich keine regional begrenzte sondern eine nationale Katastrophe . 2. Bei einem sehr schweren Unfall vergleichbar mit der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 könnten bis zu 100 000 Personen von Evakuierung oder Umsiedlung betroffen sein. Die Gesamtkosten könnten dabei im Schnitt 430 Milliarden Euro betragen und somit mehr als 20% des französischen BIP. Gibt es mit dem französischen Staat oder dem Betreiber des AKW Cattenom, EDF, Vereinbarungen über die Begleichung dieser Kosten im Katastrophenfall und hat der französische Staat oder EDF entsprechende Rücklagen gebildet? Zu Frage 5: Die Haftung für das Kernkraftwerk Cattenom richtet sich wie auch die Haftung für deutsche Kernkraftwerke nach dem Pariser Übereinkommen (PÜ) und dem Brüsseler Zusatzübereinkommen (BZÜ). Drucksache 15/1907 (15/1808) Landtag des Saarlandes - 15. Wahlperiode - - 4 - Das Pariser Übereinkommen vom 29. Juli 1960 als Übereinkommen über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie wurde im Rahmen der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) entwickelt und wird von der Nuclear Energy Agency (NEA) als OECD-Organ betreut. Das Pariser Übereinkommen wird durch Regelungen zur Deckungsvorsorge im Brüsseler Zusatzübereinkommen vom 31. Januar 1963 zum Pariser Übereinkommen ergänzt . Vertragsstaaten des PÜ und des BZÜ sind überwiegend westeuropäische Staaten , u. a. Frankreich und Deutschland. Nach dem PÜ haftet der Inhaber einer Kernanlage für Schaden an Leben oder Gesundheit von Menschen und Schaden an oder Verlust von Vermögenswerten, wenn der Schaden durch ein nukleares Ereignis verursacht worden ist, das in der Kernanlage eingetreten oder auf aus der Kernanlage stammende Kernmaterialien zurückzuführen ist. Es handelt sich um eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung. Es haftet allein der Inhaber der Atomanlage. Die Haftungshöchstgrenze beträgt für Inhaber französischer Atomanlagen 91,5 Mio. €. Die geltenden Haftungshöchstgrenzen werden ergänzt durch das Brüsseler Zusatzübereinkommen (BZÜ). Das BZÜ ergänzt das PÜ durch Regelungen über die Bereitstellung finanzieller Mittel bis zu einem Betrag von 300 Mio. SZR (Sonderziehungsrechte , ca. 340 Mio. €) je Schadensereignis. Das Zusatzübereinkommen sieht dabei ein dreistufiges Entschädigungssystem vor: • Die erste Tranche der Entschädigung ist aus Mitteln des haftpflichtigen Inhabers bereitzustellen und darf nicht weniger als 5 Mio. SZR betragen; • zwischen diesem Betrag und 175 Mio. SZR stellt der Staat, in dem sich die Kernanlage des haftpflichtigen Inhabers befindet, weitere öffentliche Mittel bereit (zweite Tranche); • zwischen 175 Mio. und 300 Mio. SZR stellen die Vertragsstaaten des BZÜ gemeinsam die fehlenden Mittel zur Schadensbegleichung bereit (dritte Tranche). Die für diese Tranche je Vertragsstaat aufzubringenden Mittel ergeben sich zur Hälfte aus dem Anteil des Bruttosozialprodukts jedes Vertragsstaates an der Summe der Bruttosozialprodukte aller Vertragsstaaten und zur anderen Hälfte aus der installierten thermischen Leistung der Kernreaktoren jedes Vertragsstaates an der thermischen Gesamtleistung der Reaktoren aller Vertragsstaaten . Damit beträgt die den Geschädigten insgesamt zu zahlende Entschädigung bei einem nuklearen Ereignis im Kernkraftwerk Cattenom nach derzeitiger Rechtslage 340 Mio €. Für weitere nukleare Ereignisse im Kernkraftwerk Cattenom oder anderen französischen Kernkraftwerken würde jeweils der gleiche Entschädigungsbetrag zur Verfügung stehen. Nach dem PÜ ist der Inhaber der Kernanlage verpflichtet, zur Deckung seiner Haftung eine finanzielle Sicherheit aufrechtzuerhalten. Soweit die Sicherheit der Kernanlage dafür nicht ausreicht, stellt der Anlagenstaat die notwendigen öffentlichen Mittel bis zur festgesetzten Mindesthaftungssumme zur Verfügung