LANDTAG DES SAARLANDES 16. Wahlperiode Drucksache 16/576 (16/523) 01.10.2018 A N T W O R T zu der Anfrage des Abgeordneten Dennis Lander (DIE LINKE.) betr.: Altersfeststellung bei Minderjährigen Vorbemerkung des Fragestellers: „Durch keine Methode der Altersfeststellung ist es möglich, das Lebensalter eines Menschen genau zu ermitteln“, hat die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Deutschen Bundestag geantwortet (Drucksache 19/1918). Im Saarland wurde im Rahmen des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII bei 27 Personen durch eine qualifizierte Inaugenscheinnahme die Minderjährigkeit festgestellt. 230 Personen wurden nach einer qualifizierten Inaugenscheinnahme als Zweifelsfälle eingestuft, was dann eine ärztliche, radiologische Untersuchung zur Altersbestimmung zur Folge hatte. Der Präsident der Bundesärztekammer, Ulrich Montgomery, hat erklärt: „Röntgen ohne medizinische Indikation ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit“ und nach den Regeln des Strahlenschutzes sei eine Altersfeststellung nur im Rahmen eines Strafprozesses zulässig. Die Ärzteorganisation IPPNW sieht bei den radiologischen Untersuchungen von Handknochen einen Spielraum von drei Jahren nach oben oder unten – der Betroffene könnte also 18 sein, oder 15 oder auch 21.“ Vorbemerkung der Landesregierung: Seit 1. November 2015 ist das Verfahren einer Altersfeststellung für unbegleitete minderjährige Ausländer bundesgesetzlich geregelt: Sobald ein Flüchtling in Deutschland einreist und dabei angibt, minderjährig und ohne Begleitung eines Personensorgeoder Erziehungsberechtigten zu sein, ist es Aufgabe der Jugendämter, dies in einem gestuften Verfahren zu prüfen. Ausgegeben: 02.10.2018 (22.08.2018) Drucksache 16/576 (16/523) Landtag des Saarlandes - 16. Wahlperiode - - 2 - Mit dem behördlichen Verfahren nach § 42f SGB VIII wird somit die Tatbestandsvoraussetzung „Minderjährigkeit“ festgestellt. Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist dabei nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme. Das gestufte Verfahren zur Altersfeststellung trägt der besonderen Situation unbegleiteter minderjähriger Ausländer Rechnung und stellt sicher, dass die Einschätzung des Alters durch transparente Verfahrensstandards, die kindgerecht auszugestalten sind, fachgerecht durchgeführt werden kann. Untersuchungen zur Alterseinschätzung werden im Interesse der Sicherstellung des Kindeswohls nur durchgeführt, wenn die qualifizierte Inaugenscheinnahme Zweifel an der Minderjährigkeit zurücklässt und ernsthafte und begründete Zweifel am Alter bestehen , die nicht durch Versuche, Beweise zu beschaffen (z.B. in Form von Dokumenten ) ausgeräumt werden können. Nicht zuletzt verlangt der besondere staatliche Schutz- und Fürsorgeauftrag, dass die staatlichen Stellen sich im Rahmen des gesetzlich geregelten Verfahrens Gewissheit darüber verschaffen, wer sich in ihre Obhut begibt. Nur so kann ausgeschlossen werden , dass sich erwachsene Personen gemeinsam mit schutzbefohlenen Minderjährigen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe aufhalten. Entgegen der Darstellung in der Vorbemerkung des Fragestellers ist klarstellend anzumerken , dass seit dem 1. Februar 2016 in der zentralen Vorclearingstelle auf dem Schaumberger Hof 1.132 Fälle bearbeitet (Stand: 31.08.2018) wurden. In 581 Fällen wurde nach pädagogischer Befragung sowie qualifizierter Inaugenscheinnahme eine Handwurzelbestimmung durchgeführt, da hier eine Minderjährigkeit nicht zweifelsfrei festgestellt werden konnte. Hieraus ergab sich bei 276 betroffenen Flüchtlingen eine Volljährigkeit. Wie genau sind aus Sicht der Landesregierung die radiologischen Untersuchungen der Handknochen , der Kieferknochen und des Schlüsselbeins, mit welchen Abweichungen/mit welchem „Spielraum “ bei der Altersfeststellung muss aus Sicht der Regierung gerechnet werden und auf welche Fachleute und Untersuchungen stützt sich die Landesregierung dabei? Zu Frage 1: Die Landesregierung lässt radiologische Untersuchungen und verbunden damit die Erstellung eines/einer Altersgutachtens/-bewertung durch medizinisches Fachpersonal aus der Radiologie des Caritas Krankenhauses in Lebach, der Rechtsmedizin am Klinikum Saarbrücken (REMAKS) oder dem Institut für Rechtmedizin der Universität des Saarlandes in Homburg durchführen. Diese Untersuchungen erfolgen mit den derzeit verfügbaren schonendsten und zuverlässigsten Methoden. Bewertet werden in den Altersgutachten die Ossifikation, also die Bildung des Knochengewebes im Wachstum nach verschiedenen Stadien. Hinsichtlich der Genauigkeit der radiologischen Untersuchungen lässt sich sagen, dass Gutachten selbst in der Zusammenfassung der Bewertungen von möglichen Altersspannen sprechen, ausgehend von einem Altersmittelwert, unter Berücksichtigung einer zweifachen Standardabweichung. In dieser Zusammenfassung wird weiter ausgeführt , ob ein Überschreiten des 18. Lebensjahres als hoch- bis höchstwahrscheinlich bzw. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angesehen wird. Zudem wird ein Mindestalter angegeben. Sofern keine Aussage darüber getroffen wird, dass ein Überschreiten des 18. Lebensjahrs „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegt “, wird von Minderjährigkeit ausgegangen und der Betroffene wird der landes- oder bundesweiten Verteilung zugeführt. Drucksache 16/576 (16/523) Landtag des Saarlandes - 16. Wahlperiode - - 3 - Nach welchen Kriterien erfolgen im Saarland die Maßnahmen zur Altersfeststellung? Zu Frage 2: § 42f SGB VIII stellt die rechtliche Grundlage für die Altersfeststellung bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern dar, die in einem gestuften Verfahren erfolgt: a. Selbstauskunft des unbegleitet eingereisten Minderjährigen und Vorlage von Ausweispapieren (§ 42 f Abs. 1 SGB VIII), dabei ist Beteiligung der betroffenen Person in geeignetem Maße – wie selbstverständlich auch bei allen Fragen der Altersbestimmung - unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers sicherzustellen. b. Fehlen die Ausweispapiere, was ganz überwiegend der Fall ist, wird von den pädagogischen Fachkräften der zentralen Vorclearingstelle eine Befragung zu Herkunft, Fluchtgeschichte, Frage nach Kontakt zu Eltern und/oder anderen Verwandten durchgeführt. Zusätzlich erfolgt eine qualifizierte Inaugenscheinnahme, d.h. das äußere Erscheinungsbild der betroffenen Person wie etwa Bartwuchs oder körperliche Entwicklung, aber auch die persönliche Entwicklungsreife werden betrachtet (§ 42f Abs. 1 S.1 SGB VIII). Die pädagogische Befragung dient der Gewinnung von Erkenntnissen zum persönlichen Entwicklungsstand des umA. c. Bei berechtigten Zweifeln an der Minderjährigkeit des jungen Flüchtlings ist nach Gesetz auf Antrag des Betroffenen, seines Vertreters oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zu Altersfeststellung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 S. 1 SGB VIII). Hier bleibt der Behörde aufgrund des eindeutigen gesetzlichen Wortlautes keinerlei Ermessen. Die durchzuführende ärztliche Untersuchung erfolgt hierbei wiederum in einem gestuften Verfahren, beginnend mit einer Handwurzelbestimmung (die Methode mit der geringsten Strahlenbelastung) zum Zwecke der Altersfeststellung . Sofern diese Ergebnisse die berechtigten Zweifel an der Minderjährigkeit nicht beseitigen, wird auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen ein umfassendes rechtsmedizinisches Gutachten zur Altersfeststellung in Auftrag gegeben. Diese ärztlichen Untersuchungen erfolgen nach Aufklärung über die angewandten Methoden und der erteilten Einwilligung des Betroffenen . Wer darf die qualifizierte Inaugenscheinnahme im Saarland durchführen, welche Qualifikationen hat dieses Personal und nach welchen Kriterien wird es ausgewählt? Zu Frage 3: Die pädagogische Befragung (Sozialanamnese) und die qualifizierte Inaugenscheinnahme erfolgt unter Zugrundelegung des Mehraugenprinzips durch pädagogische Fachkräfte (Sozialarbeiter/Sozialpädagogen) unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers /Sprachmittlers. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des pädagogischen Fachdienstes werden nach den gängigen Auswahlkriterien Eignung, Befähigung und fachliche Leistung ausgewählt. Wer darf das Handwurzelröntgen im Saarland durchführen, welche Qualifikationen hat dieses Personal und nach welchen Kriterien wird es ausgewählt ? Zu Frage 4: Es wird auf den ersten Absatz der Antwort zu Frage 1 verwiesen. Drucksache 16/576 (16/523) Landtag des Saarlandes - 16. Wahlperiode - - 4 - Welche Qualifikation hat das Personal, das das zusammenfassende Gutachten erstellt? Zu Frage 5: Es wird auf den ersten Absatz der Antwort zu Frage 1 verwiesen. Werden im Saarland zur Altersfeststellung auch Röntgenuntersuchungen des Kiefers und CT- Untersuchungen des Schlüsselbeins durchgeführt ? Zu Frage 6: Ja. a) Wenn ja: bei wie vielen unbegleiteten Flüchtlingen ist dies geschehen? Zu Frage 6a: Bei 21 betroffenen Flüchtlingen. b) Zu welchem Ergebnis haben die Untersuchungen geführt? Zu Frage 6b: Bei 10 Betroffenen konnte ein Alter über 18 Jahren nicht mit höchster Wahrscheinlichkeit gutachterlich festgestellt werden. Bei 11 Betroffenen wurde ein Alter über 18 Jahren mit höchster Wahrscheinlichkeit festgestellt. c) Wenn nein: Warum nicht? Waren die Ergebnisse der Handwurzel-Untersuchungen nach Ansicht der Landesregierung so eindeutig, dass auf weitere Untersuchungen verzichtet werden konnte? Zu Frage 6c: Bei 581 von 1.132 Betroffenen wurden Handwurzeluntersuchungen durchgeführt. Bei 560 der Betroffenen stellten sich die Ergebnisse in der Zusammenschau mit der pädagogischen Befragung sowie der qualifizierten Inaugenscheinnahme als so eindeutig dar, dass auf weitere Untersuchungen verzichtet werden konnte. Wird allgemein oder vereinzelt das Röntgen der Handwurzeln mehrmals durchgeführt und wenn ja, aus welchem Grund? Zu Frage 7: Damit keine weitere radiologische Bestrahlung auf den Körper eines Betroffenen einwirkt , werden grundsätzlich die Röntgenbilder der bereits durchgeführten Handwurzelbestimmung in das umfassende rechtsmedizinische Gutachten zur Altersbestimmung mit einbezogen. Drucksache 16/576 (16/523) Landtag des Saarlandes - 16. Wahlperiode - - 5 - Ist die Person, die das zusammenfassende Gutachten der Röntgenuntersuchungen verfasst, identisch mit der Person, die die Röntgenuntersuchungen durchführt und nimmt diese Person auch – generell oder vereinzelt – an der qualifizierten Inaugenscheinnahme teil? Zu Frage 8: Die radiologischen Aufnahmen selbst werden in einer radiologischen (Hände, Schlüsselbeine ) bzw. zahnärztlichen (Zähne) Praxis angefertigt, wobei die Auswertung der Aufnahmen in einer Kooperation mit dem jeweiligen Facharzt (Zähne – Zahnarzt; Schlüsselbeine – Radiologe) erfolgt. Die Befunde der radiologischen Untersuchungen (Zähne, Hand, Schlüsselbeine) werden von der begutachtenden Stelle in ihrer Gesamtheit bewertet. Im Anschluss daran wird – durch die begutachtende Stelle – das schriftliche Gutachten erstellt. Die gutachtenerstellende Person nimmt nicht an der qualifizierten Inaugenscheinnahme teil. Diese ist nach den gesetzlichen Vorgaben in jedem Fall einer medizinischen Altersfeststellung vorgeschaltet. Erst wenn durch eine qualifizierte Inaugenscheinnahme Zweifel an der Minderjährigkeit des betroffenen Flüchtlings aufkommen, ist eine medizinische Altersfeststellung zu veranlassen. Wie steht die Landesregierung zur Äußerung des Präsidenten der Bundesärztekammer Montgomery : „Röntgen ohne medizinische Indikation ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit“? Zu Frage 9: Der Gesetzgeber hat durch § 42 f SGB VIII ein gestuftes und am Verhältnismäßigkeitsprinzip orientiertes Verfahren geschaffen, welches erst nach Ausschöpfung der vorrangigen Erkenntnismöglichkeiten zur Altersfeststellung die medizinische Altersfeststellung zulässt. Die Landesregierung vertritt die Auffassung, dass die Anwendung von Röntgenstrahlen zum Zwecke einer Altersfeststellung durch § 42 f Abs. 2 SGB VIII gerechtfertigt ist. Die Bundesrechtsverordnung über den Schutz vor Schäden durch Röntgenstrahlen (Röntgenverordnung, RöV) legt explizit in dem Unterabschnitt 2, Anwendung von Röntgenstrahlen am Menschen (§§ 23 – 28 RöV), in § 25 Abs. 1 S. 1 RöV fest, dass Röntgenstrahlung am Menschen nur in den Fällen angewendet darf, in dem es der Heilkunde oder auch in sonstigen durch Gesetz zugelassenen Fällen dient. § 42 f SGB VIII (oder auch § 49 AufenthG) erlaubt eine ärztliche Untersuchung, sofern die notwendigen Schutzmaßnahmen beachtet werden. Hierzu zählen insbesondere kein Röntgen von Schwangeren, kein Röntgen ohne Einwilligung und ohne Aufklärung. Ist es richtig, dass das Jugendamt in Zweifelsfällen auf der einen Seite die ärztliche Untersuchung von Amts wegen anordnet oder durchführt und auf der anderen Seite als sog. „Notvertreter“ über die Einwilligung zur Vornahme der ärztlichen Untersuchung entscheidet? Drucksache 16/576 (16/523) Landtag des Saarlandes - 16. Wahlperiode - - 6 - Zu Frage 10: Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII gibt es noch keinen gesetzlichen Vertreter, da in diesem Verfahrensstadium noch kein Ruhen der elterlichen Sorge angeordnet wurde, in deren Folge eine gesetzliche Vertretung zu implementieren wäre. Insoweit erteilt die Zustimmung zur ärztlichen Untersuchung die vorläufige Inobhutnahmestelle im Rahmen ihrer „Notvertretungsbefugnis“ gemäß § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. Eine ärztliche Untersuchung erfolgt gemäß den gesetzlichen Vorgaben nur mit Einwilligung der betroffenen Person. Wie beurteilt die Landesregierung diesen Interessenkonflikt und sieht die Landesregierung andere Möglichkeiten, um eine unabhängige Begleitung der betroffenen Personen im Rahmen des Verfahrens der Altersfeststellung zu gewährleisten ? Zu Frage 11: Die Landesregierung hält die derzeit geltenden rechtlichen Regelungen zur vorläufigen Inobhutnahme für ausreichend. Die Altersfeststellung ist Voraussetzung für die Entscheidung des zuständigen Jugendamtes über den Erlass eines Verwaltungsaktes über die Beendigung einer vorläufigen Inobhutnahme. Dem Betroffenen bleibt die Möglichkeit des Widerspruchs gegen diese Entscheidung. Über das Ergebnis der Altersfeststellung und die Möglichkeit des Widerspruchs wird der Betroffene in jedem Falle im Beisein eines Sprachmittlers belehrt .