Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 6/1103 08.05.2012 (Ausgegeben am 09.05.2012) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordneter Sebastian Striegel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gewalt gegen Polizeibeamte - Nachsorge Kleine Anfrage - KA 6/7452 Vorbemerkung des Fragestellenden: Im Jahr 2011 wurde erstmals erhoben, wie viele Polizeibeamtinnen und -beamte in Ausübung ihres Dienstes durch Dritte verletzt wurden. Nach Angaben des Ministeriums für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt betraf dies in unserem Bundesland 156 Beamtinnen und Beamte. Mit den Forschungsberichten des Projekts „Gewalt gegen Polizeibeamte“ des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) ist zudem begonnen worden, eine Datenbasis zu schaffen, die Aufschluss über die Zahl, die Umstände und die Folgen von Gewaltdelikten gegen Polizeibeamtinnen und -beamte im Dienst gibt. Zwar sind ausweislich des Dritten Berichts des oben genannten Projekts schwere Verletzungen, die zu mehr als zweimonatiger Dienstunfähigkeit bei Polizeibeamtinnen und -beamten führen, relativ selten, jedoch individuell sehr belastend. Folgen können Schlafstörungen, Schwierigkeiten mit sozialen Kontakten und posttraumatische Belastungsstörungen sein. Neben die Prävention, also die Verhinderung, dass es überhaupt zu Angriffen auf und die Verletzung von Polizistinnen und Polizisten kommt, muss auch die Nachsorge treten. Polizeibeamtinnen und -beamte mit Gewalterfahrung müssen bestmöglich vor etwaigen seelischen Folgen von Angriffen geschützt werden. Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Inneres und Sport Namens der Landesregierung beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie wird die Nachsorge bei Beamtinnen und Beamten mit Gewalterfah- rung im polizeilichen Alltag organisiert? Bitte detailliert die exemplarischen Abläufe bei der Nachbereitung von Einsätzen mit Gewalterfahrung 2 beschreiben und zugrunde liegende Regularien, Dienstanweisungen etc. aufführen. Im Land Sachsen-Anhalt bestehen bereits seit dem Jahr 1996 Regelungen zur nachsorgerischen Betreuung von Polizeivollzugsbeamten bei Gewalterfahrung im polizeilichen Alltag. Derzeit regelt ein Runderlass des Ministeriums für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt vom 07.03.2012- 25.5- 12508 die psychosoziale Notfallversorgung, medizinische, psychologische und seelsorgerische Betreuung von Bediensteten der Landespolizei Sachsen-Anhalt nach traumatisierenden oder belastenden beruflichen oder privaten Ereignissen einschließlich Konflikt- und Krisensituationen sowie bei größeren Gefahren- und Schadenslagen, Katastrophen. Für die psychosoziale Notfallversorgung von Bediensteten der Landespolizei nach traumatischen beruflichen oder privaten Ereignissen stehen zwei Kriseninterventionsteams , die in räumlich abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen agieren , zur Verfügung. Die Kriseninterventionsteams bestehen aus geeigneten Polizeivollzugsbeamten und den zuständigen Polizeiseelsorgern. Geleitet werden die Kriseninterventionsteams durch Polizeiseelsorger und Polizeiärzte. Für medizinisch- psychologische Betreuungsmaßnahmen und die seelsorgerische Betreuung nach Gewalterfahrung stehen dienststellenübergreifend die Mitglieder eines Betreuungsteams bereit. Dieses Team setzt sich aus Polizeiärzten , einer Polizeivertragsärztin (Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie), einer Polizeipsychologin, einer Polizeivertragspsychologin und den Polizeiseelsorgern zusammen. In Fällen von Schusswaffengebrauch mit der Verletzung oder Tötung des polizeilichen Gegenübers, nach eigener schwerer Bedrohung an Leib oder Leben oder schwerer Verletzung durch Schuss-, Stich- oder Hiebwaffen durch Straftäter , nach Miterleben des Todes von Kollegen durch Tötung oder Unfall ist der Dienstvorgesetzte verpflichtet, einen Erstkontakt mit einem Mitglied des Kriseninterventionsteams zu veranlassen. Darüber hinaus erfolgt auf Veranlassung des Dienstvorgesetzten eine Vorstellung des Betroffenen bei einem Polizeiarzt innerhalb der ersten 24 Stunden. In allen anderen Fällen entscheidet der betroffene Bedienstete selbst, ob er einen Kontakt zum Kriseninterventionsteam wünscht. Kommt eine Betreuung durch ein Mitglied des Kriseninterventionsteams zustande, entscheidet dieses auf Grund der konkreten Situation, ob es dem Betroffenen eine zusätzliche polizeiärztliche, psychologische oder seelsorgerische Betreuung empfiehlt. Ungeachtet der Fälle, in denen die Kontaktaufnahme mit einem Mitglied des Kriseninterventionsteams und eine polizeiärztliche Vorstellung verbindlich vorgesehen sind, hat jeder Polizeivollzugsbeamte die Möglichkeit, sich in Fällen nach Gewalterfahrung beraten und betreuen zu lassen. Die medizinisch-psychologische Betreuung umfasst entsprechend den jeweiligen Erfordernissen des Einzelfalls die individuelle Beratung/Betreuung durch einen Polizeiarzt, ein psychologisches Krisenmanagement, ein ambulantes Traumabewältigungsprogramm und medizinische Rehabilitationsmaßnahmen . Die Kosten für die medizinischen Betreuungsmaßnahmen trägt die Heilfürsorge . Die seelsorgerische Betreuung erfolgt nach individueller Absprache zwischen dem Polizeivollzugsbeamten und dem Polizeiseelsorger. 3 2. Wie lang sind die Wartezeiten für Beamtinnen und Beamte, die psychologische Beratung nach einer Gewalterfahrung im Dienst in Anspruch nehmen wollen? Es wird angestrebt, eine psychologische Beratung grundsätzlich innerhalb von 24 Stunden zu ermöglichen. 3. Wie lang sind die Wartezeiten für Beamtinnen und Beamte, die Seelsorge nach einer Gewalterfahrung im Dienst in Anspruch nehmen wollen? Die Inanspruchnahme einer seelsorgerischen Betreuung ist innerhalb von 24 Stunden möglich. 4. Wie verteilen sich die Häufigkeiten der in Anspruch genommenen psycho- logischen Beratungsangebote nach kurzen Behandlungen (bis zu vier Sitzungen mit dem Psychologen) und längeren Behandlungen bzw. tatsächlichen Therapien etwa infolge einer posttraumatischen Belastungsstörung ? Im Zeitraum von 1996 - 2010 erfolgte nach belastenden dienstlichen oder privaten Ereignissen in 513 Fällen eine polizeiärztliche Inanspruchnahme der Betroffenen (siehe beigefügte Anlage 1). Hierbei erfolgte im Bedarfsfall die Hinzuziehung eines Psychologen oder eines Polizeiseelsorgers. Die nach Häufigkeit unterteilten Ursachen für die Inanspruchnahme sind der als Anlage 2 beigefügten Aufstellung zu entnehmen. Im o. g. Betrachtungszeitraum wurden insgesamt 290 kurzfristige Behandlungen ohne Intervention durchgeführt. Dabei war in 149 Fällen ausschließlich eine Betreuung durch den Polizeiarzt erforderlich. In 34 Fällen agierten Polizeiärzte unter seelsorgerischer Beteiligung. In 107 Fällen erfolgte die Betreuung durch Polizeiärzte unter psychologischer Einbindung. Für den o. g. Betrachtungszeitraum sind insgesamt 250 längerfristige medizinische Behandlungen festzustellen, davon 133 ambulante und 117 stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahmen. 5. Im Bereich welcher Polizeibehörde stehen wie viele Polizeipsychologin- nen und –psychologen zur Verfügung? Für die psychologische Beratung von Polizeivollzugsbeamten nach Gewalterfahrung steht dienststellenübergreifend derzeit eine Polizeivertragspsychologin zur Verfügung. Im Bedarfsfall wird diese Polizeivertragspsychologin durch eine hauptamtlich beim Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt beschäftigte Polizeipsychologin unterstützt. 6. Im Bereich welcher Polizeibehörde stehen wie viele Seelsorgerinnen und Seelsorger zur Verfügung? Bitte nach Konfession unterteilen. Für die seelsorgerische Betreuung stehen in der Landespolizei derzeit insgesamt fünf evangelische Polizeiseelsorger (davon eine Polizeiseelsorgerin) und ein katholischer Polizeiseelsorger zur Verfügung. Die Wahrnahme der seelsor- 4 gerischen Betreuung in den Behörden und Einrichtungen der Landespolizei erfolgt abgestimmt zwischen den Polizeiseelsorgern. Für die Polizeidirektionen Sachsen-Anhalt Nord und Sachsen-Anhalt Süd stehen je zwei evangelische Polizeiseelsorger und für die Polizeidirektion Sachsen -Anhalt Ost ein evangelischer Polizeiseelsorger zur Verfügung. Eine evangelische Polizeiseelsorgerin und ein katholischer Polizeiseelsorger agieren für die Fachhochschule Polizei Sachsen-Anhalt, die Landesbereitschaftspolizei Sachsen-Anhalt, das Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt und das Technische Polizeiamt Sachsen-Anhalt. 7. Erachtet die Landesregierung die Kapazitäten psychologischer Beratungs - und Therapieangebote für Beamtinnen und Beamte der Polizei im Land Sachsen-Anhalt für ausreichend? Für eine umfassende Durchführung von psychologischer Beratung und Therapie wird mittelfristig eine Verstärkung angestrebt. 8. Erachtet die Landesregierung die Kapazitäten polizeilicher Seelsorge im Land Sachsen-Anhalt für ausreichend? Die Kapazitäten an polizeilicher Seelsorge werden als ausreichend erachtet. 5 Anlage 1 Entwicklung der Fallzahlen von 02/1996 – 12/2010 Zeitraum Fallzahl 02/1996 – 03/1997 6 04/1997 – 12/1997 10 1998 13 1999 6 2000 30 2001 18 2002 17 2003 20 2004 23 2005 38 2006 76 2007 64 2008 63 2009 68 2010 61 Gesamt: 513 6 Anlage 2 Ursachen für die Inanspruchnahme des Betreuungsteams von 02/1996 bis 12/2010* Rang Trauma Fallzahl 1 Familiäre Probleme Tod oder Verletzung naher Angehöriger Partnerschaftskonflikte 128 2 Dienstliche Konflikte 103 3 Panikreaktionen und Krankheitsbewältigungsstörungen Anpassungsstörungen Somatisierungsstörungen Bedrohung des eigenen Lebens 98 4 Verkehrsunfälle 62 5 Schusswaffengebrauch 49 6 Überforderungssyndrom 37 7 Leichenfunde und Überbringen von Todesnachrichten 37 8 Ermittlungsverfahren gegen die eigene Person 28 9 Mobbing 25 10 Sexuelle Belästigung (im priv. Bereich) 7 * einschließlich möglicher Mehrfachnennungen von Ursachen für die Inanspruchnahme