Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 6/1203 13.06.2012 (Ausgegeben am 18.06.2012) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordneter Thomas Leimbach (CDU) Stimmverhalten des Landes Sachsen-Anhalt in der Kultusministerkonferenz vom 8./9. März 2012 zum Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz „Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen in der Schule“ vom 29. Dezember 2011 Kleine Anfrage - KA 6/7487 Vorbemerkung des Fragestellenden: Auf ihrer 337. Plenarsitzung am 8./9. März 2012 hat sich die Kultusministerkonferenz mit dem Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. Dezember 2011 befasst . Danach hat das Gericht eine beklagte Lehrkraft von dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs gegen eine Schutzbefohlene freigesprochen und die Verurteilung des Beklagten durch die erste Instanz aufgehoben. Das Oberlandesgericht hatte seine Entscheidung damit begründet, dass eine Strafbarkeit des Angeklagten nach § 174 Abs. 1 und 2 des Strafgesetzbuches nicht gegeben sei, weil kein Obhutsverhältnis zwischen der Lehrkraft und der betroffenen 14-jährigen Schülerin bestanden habe. Die Kultusministerkonferenz hat sich daraufhin in der besagten Plenarsitzung mehrheitlich zu einer Entscheidung verständigt, die Möglichkeiten des Disziplinarund des Arbeitsrechts auszuschöpfen, um den Schutz von Schülerinnen und Schülern zu verbessern. Dabei hat sie die in den „Handlungsempfehlungen zur Vorbeugung und Aufarbeitung von sexuellem Missbrauchsfällen und Gewaltanwendungen in Schulen und schulnahen Einrichtungen“ vom 20. April 2010 niedergelegten Festlegungen bekräftigt. Darin wird in Nr. 11 am Ende als neuer Absatz Folgendes eingefügt : „Jedwede sexuelle Grenzüberschreitung einer Lehrerin oder eines Lehrers gegenüber einer Schülerin oder einem Schüler verletzt Dienst- und Arbeitspflichten. … Eine möglicherweise fehlende Strafbarkeit schließt selbst die Entfernung aus dem Beamten- bzw. Angestelltenverhältnis als schärfste Sanktion des Disziplinarrechts bzw. des Arbeitsrechts nicht aus.“ Die Kultusministerkonferenz spricht sich ferner nachdrücklich für ein wirkungsvolles Handeln auf strafrechtlicher sowie auf arbeitsrechtlicher und disziplinarrechtlicher Ebene nach Maßgabe der einschlägigen Vorschriften bei Vorliegen von Verdachtsfällen aus und sie appelliert an die Länder, die im Rahmen des Runden Tisches verabschiedeten „Leitlinien zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden“ i. d. F. vom 23. November 2011 anzuwenden. 2 Antwort der Landesregierung erstellt vom Kultusministerium Namens der Landesregierung beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: In Sachsen-Anhalt hat der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbauch einen hohen Stellenwert. Bereits im Jahr 2009 wurden in das Schulgesetz besondere Regelungen zu ihrem Schutz aufgenommen. In einer Handreichung werden Lehrkräfte, Schulleiterinnen und Schulleiter informiert, wie sie mit Verdachtsfällen umzugehen haben. Die 2010 verabschiedeten Handlungsempfehlungen der KMK zur Vorbeugung und Aufarbeitung von sexuellen Missbrauchsfällen und Gewaltanwendungen in Schulen und schulnahen Einrichtungen werden von der Landesregierung ohne Einschränkungen mitgetragen. Darüber hinaus hat das Kultusministerium in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Arbeit und Soziales und der Techniker Krankenkasse im Jahr 2010 den umfassenden Leitfaden „Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, ein Leitfaden für Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher in Sachsen-Anhalt zu Früherkennung, Handlungsmöglichkeiten und Kooperation“ (www.mk-bereich.sachsen-anhalt.de/presse/publikationen/2010/leitfaden-kindvernachlae .pdf) herausgegeben. Frage 1: Stimmt es, dass sich der Vertreter des Landes Sachsen-Anhalt in der Plenarsitzung bei der Abstimmung zu den oben genannten Sachverhalten der Stimme enthalten hat? Es ist richtig, dass die 337. Kultusministerkonferenz am 8./9. März 2012 den Beschluss zum Tagesordnungspunkt „Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen in der Schule“, hier: Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. Dezember 2011 bei Stimmenthaltung des Landes Sachsen-Anhalt gefasst hat. Frage 2: Wenn ja, wie beurteilt die Landesregierung in ihrer Gesamtheit dieses Verhalten? Gibt es Gründe, die für ein solches Stimmverhalten sprechen, wenn ja, welche? Das Stimmverhalten in der Fachministerkonferenz liegt in der Verantwortung der jeweils fachlich zuständigen Fachministerin bzw. des jeweils fachlich zuständigen Fachministers. Anlass für die Enthaltung im konkreten Fall gab die Frage der Notwendigkeit des schulrechtlichen Regelungsbedarfs, ob Konkretisierungen oder Klarstellungen den Anforderungen an einen umfassenden Schutz von Schülerinnen und Schülern vor sexuellem Missbrauch durch Lehrkräfte besser gerecht werden (s. Ziff. 5 des beiliegenden Beschlusses), oder ob hier nicht zunächst belastbar zu prüfen wäre, ob arbeitsrechtliche bzw. strafrechtliche Regelungen geeigneter wären, um den beschriebenen Missstand abzuhelfen. Frage 3: Wird die Landesregierung die von der Kultusministerkonferenz getroffenen Beschlüsse, insbesondere die Empfehlung, „die schulrechtlichen Bestimmungen darauf zu überprüfen, ob Konkretisierungen oder Klarstellungen den Anforderungen an einen umfassenden Schutz von Schülerinnen und Schülern vor sexuellem Missbrauch durch Lehrkräfte besser gerecht werden“, als 3 für das Schulleben in Sachsen-Anhalt notwendig erachten? Wenn ja, wie soll die Umsetzung der Empfehlung erfolgen? Die Landesregierung trägt die Inhalte der Ziff. 1 bis 4 des beiliegenden Beschlusses uneingeschränkt mit. Die empfohlene Überprüfung der schulrechtlichen Bestimmungen, ob Konkretisierungen oder Klarstellungen den Anforderungen an einen umfassenden Schutz von Schülerinnen und Schülern vor sexuellem Missbrauch durch Lehrkräfte besser gerecht werden (s. Ziff. 5 des beiliegenden Beschlusses), wird kritisch gesehen. Konkretisierungen und Klarstellungen im Schulgesetz können den Anforderungen an einen umfassenden Schutz von Schülerinnen und Schülern vor sexuellem Missbrauch durch Lehrkräfte nicht besser gerecht werden. Den Lehrkräften in Sachsen-Anhalt ist bewusst, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler nicht sexuell missbrauchen dürfen. Hierzu bedarf es keiner Konkretisierungen und Klarstellungen im Schulgesetz. Klarstellungen im Schulgesetz hätten auch keine Änderung der Rechtsprechung zur Folge. Der Bundesgerichtshof (BGHSt 19, 163-167) hat in einer Grundsatzentscheidung zum sexuellen Missbrauch zu der Frage des Obhutsverhältnisses Folgendes ausgeführt : „Ob zwischen Lehrer und Schüler ein Obhutsverhältnis besteht und welchen Umfang es hat, ist vornehmlich nach den tatsächlichen Verhältnissen des Einzelfalles zu beurteilen. Allein daraus, wie gesetzliche Bestimmungen, Dienstanweisungen oder andere Verwaltungsanordnungen die Pflichten der Lehrer formell umschreiben und abgrenzen, kann ein solches Obhutsverhältnis nicht hergeleitet werden; ihre Verwirklichung in der Schulpraxis ist entscheidend.“ Diesem Urteil zufolge spielt es damit keine Rolle, welche Regelungen im Schulgesetz getroffen worden sind, weil die Strafgerichte immer auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen haben. Demzufolge brauchen die schulrechtlichen Bestimmungen in Sachsen-Anhalt auch nicht daraufhin überprüft zu werden, ob Änderungen vorzunehmen sind oder nicht, weil sie im Hinblick auf die Feststellung einer Strafbarkeit der Lehrkraft für den Richter ohne Bedeutung sind. Von der Strafbarkeit der Lehrkraft, die sexuelle Kontakte mit einer Schülerin hatte, ist die disziplinarrechtliche Bewertung und damit der Verbleib einer solchen Lehrkraft im Schuldienst zu unterscheiden. Hierzu hat das erwähnte OLG Koblenz in einem Nebensatz ausgeführt, dass der Angeklagte für den Lehrerberuf wohl eher nicht geeignet sei, hierüber an anderer Stelle zu befinden sei. Frage 4: Welche Konsequenzen zieht die Landesregierung aus dem in der Öffentlichkeit entstandenen Vertrauensverlust in die Verlässlichkeit einer staatlichen Institution wie der Schule und der in ihr arbeitenden staatlichen Bediensteten in Sachsen-Anhalt? Welche Konsequenzen zieht sie für die eigene Arbeit, insbesondere für die des Kultusministeriums? Anzeichen für einen Vertrauensverlust sieht die Landesregierung nicht. In SachsenAnhalt gab es in einem Zeitraum von 20 Jahren nur zwei Fälle, in denen das Arbeitsverhältnis mit einer Lehrkraft wegen sexuellen Missbrauchs nach § 174 StGB gelöst wurde. 4 -19- NS 337. KMK, 08.709.03.2012, Berlin 11. Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen in der Schule; hier: Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29.12.2011 _____________________________________________________________________ Beratungsunterlage ist RS Nr. 106/2012 vom 27.02.2012 Abstimmungsmodus: Mehrheit von mindestens 13 Stimmen Das Oberlandesgericht Koblenz hat im Dezember 2011 die Verurteilung eines 32-jährigen Lehrers wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen gem. § 174 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen. Ministerin Ahnen, Rheinland-Pfalz, hat mit Schreiben vom 16.01.2012 eine Befassung durch die Schulrechtsreferenten der Länder sowie durch die 337. Kultusministerkonferenz angeregt. Es wird bei Stimmenthaltung der Länder Sachsen und Sachsen-Anhalt beschlossen: 1. Die Kultusministerkonferenz bekräftigt die in ihren „Handlungsempfehlungen zur Vorbeugung und Aufarbeitung von sexuellen Missbrauchsfällen und Gewalthandlun- gen in Schulen und schulnahen Einrichtungen" vom 20.04.2010 getroffenen Feststel- lungen und Empfehlungen. Darin wird in Nr. 11 am Ende als neuer Absatz Folgendes eingefügt: „Jedwede sexuelle Grenzüberschreitung einer Lehrerin oder eines Lehrers gegenüber einer Schülerin oder einem Schüler verletzt Dienst- und Arbeitspflichten. Sie beeinträchtigt in ganz erheblichem Maße das Ansehen, die Achtung und das Ver- trauen, die der Berufsstand und jede einzelne Lehrkraft besitzen müssen. Derartige Grenzüberschreitungen sind als fundamentales Versagen im Kernbereich der dienstli- chen und arbeitsrechtlichen Pflichten zu werten. Eine möglicherweise fehlende Straf- barkeit schließt selbst die Entfernung aus dem Beamten- bzw. Angestelltenverhältnis als schärfste Sanktion des Disziplinarrechts bzw. des Arbeitsrechtes nicht aus." 5 -20- NS 337. KMK, 08./09.03.2012, Berlin 2. Die Kultusministerkonferenz bekräftigt die im Abschlussbericht des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich" vom 30.11.2011 getroffe- nen Feststellungen und Empfehlungen. 3. Die Kultusministerkonferenz spricht sich nachdrücklich für ein wirkungsvolles Han- deln auf strafrechtlicher sowie auf arbeitsrechtlicher und disziplinarrechtlicher Ebene nach Maßgabe der einschlägigen Vorschriften bei Vorliegen von Verdachtsfällen aus. Die Kultusministerkonferenz appelliert an die Länder, die im Rahmen des Runden Tisches verabschiedeten „Leitlinien zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden" i. d. F. vom 23.11.2011 anzuwenden. 4. Die Kultusministerkonferenz nimmt den Beschluss des Oberlandesgerichtes Koblenz vom 29.12.2011 zur Kenntnis. Mit Blick auf die Realität im Schulalltag und das be- sondere durch Vertrauen und Distanz zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern einer Schule geprägte Verhältnis bittet die Kultusministerkonferenz die Jus- tizministerkonferenz zu prüfen, ob eine Änderung der tatbestandlichen Vorausset- zungen des § 174 des Strafgesetzbuches (StGB) angezeigt ist. Der Präsident wird ge- beten, ein Schreiben dieses Inhalts an den Vorsitzenden der Justizministerkonferenz zu richten. 5. Die Kultusministerkonferenz empfiehlt den Ländern, die schulrechtlichen Bestim- mungen darauf zu überprüfen, ob Konkretisierungen oder Klarstellungen den Anfor- derungen an einen umfassenden Schutz von Schülerinnen und Schülern vor sexuel- lem Missbrauch durch Lehrkräfte besser gerecht werden.