Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 6/1389 27.08.2012 (Ausgegeben am 27.08.2012) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordneter Frank Scheurell (CDU) Untergesetzliche Normsetzung durch die Landesregierung Kleine Anfrage - KA 6/7576 Vorbemerkung des Fragestellenden: Die Schaffung verbindlicher Rechtsnormen auf der Grundlage förmlicher Gesetze erfordert die Zustimmung eines vom Volk unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebungsorgans . Dies dient der Transparenz beim Zustandekommen verbindlicher Rechtsnormen und erfordert insbesondere ein hohes Maß an Responsivität aufseiten der demokratisch legitimierten Entscheidungsträger. Mithilfe so genannter untergesetzlicher Normsetzung erhält auch die Exekutive die Möglichkeit zur Schaffung verbindlicher Rechtsnormen, die in der Normenhierarchie unterhalb förmlicher Gesetze angesiedelt sind und nicht unter dem Zustimmungsvorbehalt eines unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebungsorgans stehen. Voraussetzung untergesetzlicher Normsetzung durch die öffentliche Verwaltung ist neben der aus der Unwesentlichkeit des Regelungsbereichs resultierenden Delegierbarkeit eine entsprechende Ermächtigung durch förmliches Gesetz. Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Justiz und Gleichstellung 1. Wie viele Rechtsverordnungen im Sinne des Artikels 79 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 16. Juli 1992 sind im Zeitraum vom 28. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember 2011 durch die Landesregierung erlassen worden ? Bitte tabellarisch auflisten unter namentlicher Benennung der jeweiligen untergesetzlichen Norm, dem zuständigen Ministerium und dem Zeitpunkt des Inkrafttretens sowie, soweit zutreffend, des Außerkrafttretens. Im Ministerium für Justiz und Gleichstellung wird eine Übersicht geführt, der sogenannte Fundstellennachweis, in der unter anderem alle Verordnungen und Gesetze aufgeführt sind, die seit 1990 bis Juli 2012 in Kraft getreten sind. Aus dieser Über- 2 sicht kann das Datum des Inkrafttretens und gegebenenfalls des Außerkrafttretens der einzelnen Verordnungen und Gesetze entnommen werden. Die Verordnungen und Gesetze sind nach Sachgebieten gegliedert. Von einem Abdruck dieser Übersicht als Anlage wurde aufgrund des Umfangs von 251 Seiten abgesehen, da sie im Internet unter www.mj.sachsen-anhalt.de unter Fundstellennachweis zum Landesrecht veröffentlicht und ständig aktualisiert wird. Eine darüber hinausgehende tabellarische Auflistung, wie sie der Fragesteller wünscht, wäre nur mit einem sehr hohen personellen und zeitlichen Aufwand möglich. 2. Wie viel Prozent dieser Normen sind nach ihrem erstmaligen Erlass geän- dert worden? Aus dem unter Frage 1 erwähnten Fundstellennachweis lassen sich auch die Änderungen der einzelnen Verordnungen ersehen. Eine prozentuale Angabe der Änderungen der Verordnungen nach ihrem Inkrafttreten kann nicht erfolgen, da darüber keine Statistiken erhoben werden und dafür ebenfalls ein erheblicher personeller und zeitlicher Aufwand erforderlich wäre. 3. Wie viele Ermächtigungen im Sinne des Art. 79 Abs. 2 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt sind weiter übertragen worden? Wie viele Subdelegationen im Sinne des Artikels 79 Abs. 2 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vorliegen, kann nicht dargestellt werden, da zum einen darüber keine Statistik erhoben wird und dies nur mit einem sehr großen Aufwand zu ermitteln wäre. Dazu müsste jede Verordnung im Einzelnen geprüft werden. 4. Spielen bei der Erarbeitung hierzu ermächtigender Gesetzentwürfe, sofern sie von der Landesregierung eingebracht werden, und beim Erlass so genannter untergesetzlicher Normen neben ihrer zweifelsfrei belegten inhaltlichen Notwendigkeit auch strategische Überlegungen der Landesregierung eine Rolle, insbesondere dergestalt, dass auf diese Weise verbindliche Rechtsnormen (Gesetze im materiellen Sinne) auf der Grundlage eines ausschließlich exekutiven Handelns und somit ohne vorherige Zustimmung des demokratisch legitimierten Gesetzgebungsorgans in Kraft treten können? Nein. Über die Ermächtigung zum Erlass von Verordnungsrecht entscheidet der parlamentarische Gesetzgeber. Er muss diese gemäß Artikel 79 Abs. 1 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt so bestimmt fassen, dass sich voraussehen lässt, in welchen Fällen und mit welchem Ziel von ihr möglicherweise Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die zu erlassenden Verordnungen haben können. Diese Begrenzung der Rechtssetzungsdelegation gestattet nur eine eingeschränkte exekutive Normsetzung. Rechtsverordnungen können die vom Parlament beschlossenen Gesetze nur konkretisieren, verdeutlichen und ergänzen. Das verhindert eine Selbstentmachtung des Parlaments und ist Ausdruck des Demokratieprinzips. Diese Verfassungsprinzipien beachtet die Landesregierung gemäß § 5 Abs. 1 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Ministerien des Landes Sachsen-Anhalt - Besonderer Teil - (GGO.LSA II) in Verbindung mit den Randnummern 5, 134, 393 der Anlage zu § 3 GGO.LSA II (Grundsätze der Rechtsförmlichkeit) bei der Erarbeitung von Verordnungsermächtigungen und ihrer Inanspruchnahme. 3 Weder die Verordnungsermächtigung noch ihre Inanspruchnahme entziehen dem parlamentarischen Gesetzgeber die originäre Rechtsetzungsbefugnis. Es liegt in seiner verfassungsrechtlichen Kompetenz und Verantwortung, die delegierte Regelungsmaterie jederzeit wieder an sich zu ziehen. In der Praxis haben sich zudem verschiedene Mitwirkungsformen entwickelt, die es dem Parlament ermöglichen, durch Zustimmungs-, Änderungs-, Kenntnis-, Ablehnungs- oder Aufhebungsvorbehalte Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung sowie auf den Erlass und die Aufhebung einer Verordnung zu nehmen. 5. Hält die Landesregierung eine regelmäßige zeitliche Begrenzung der Gel- tungsdauer von Verordnungsermächtigungen durch den Ermächtigungsgeber für ein geeignetes Mittel, um die demokratische Legitimation von Verordnungen , die bislang nur auf der Ermächtigung selbst und der Wahl des Ministerpräsidenten des Landes durch den Landtag beruht, zu erhöhen? Eine Erhöhung der Legitimation des Verordnungsrechts ist aus Sicht der Landesregierung nicht erforderlich. Die Landesregierung besitzt eine eigenständige demokratische Legitimation. Die GGO.LSA II in Verbindung mit den Grundsätzen der Rechtsförmlichkeit sieht in Randnummer 141 ausdrücklich die Möglichkeit der zeitlichen Befristung von Verordnungsermächtigungen vor. 6. Sind der Landesregierung gesetzestechnische Verfahren aus anderen Län- dern bekannt, die geeignet sind, die Zahl der untergesetzlichen Normen zu reduzieren oder deren unmittelbare demokratische Legitimation zu erhöhen ? Der Landesregierung sind keine Verfahren aus anderen Ländern bekannt, die geeignet sind, die Zahl der untergesetzlichen Normen zu reduzieren oder deren unmittelbare demokratische Legitimation zu erhöhen. Bei der Erarbeitung von Verordnungsermächtigungen beachtet die Landesregierung § 5 Abs. 1 GGO.LSA II in Verbindung mit Randnummer 134 der Grundsätze der Rechtsförmlichkeit, der besagt, dass Verordnungsermächtigungen „auf das unbedingt notwendige Maß begrenzt werden“ sollten . Wie bereits zu Frage 5 ausgeführt, ist eine Erhöhung der Legitimation des Verordnungsrechts aus Sicht der Landesregierung nicht erforderlich. 7. Sind der Landesregierung verfassungsrechtlich oder demokratietheoretisch begründete Vorschläge aus der Rechts- und Sozialwissenschaft bekannt, die darauf zielen, die Zahl untergesetzlicher Normen zu reduzieren oder deren Legitimation zu erhöhen? Wenn ja, wie steht die Landesregierung im Einzelnen zu diesen Vorschlägen? Der Landesregierung sind keine verfassungsrechtlich oder demokratietheoretisch begründeten Vorschläge aus der Rechts- und Sozialwissenschaft bekannt, um die Zahl untergesetzlicher Normen zu reduzieren oder deren Legitimation zu erhöhen. Wie bereits unter Frage 6 ausgeführt, wird von einer Verordnungsermächtigung nur Gebrauch gemacht, wenn dies zwingend geboten ist. Eine Erhöhung der Legitimation des Verordnungsrechts ist auch von Verfassungs wegen nicht erforderlich. 4 8. Teilt die Landesregierung die Auffassung, dass die Akzeptanz verbindlicher Rechtsnormen entscheidend von der Transparenz ihres Zustandekommens abhängt und insbesondere die Zustimmung des demokratisch legitimierten Gesetzgebungsorgans hierauf begünstigend Einfluss nimmt? Der Landesregierung liegen zu dieser These keine empirischen Erkenntnisse vor. Für die Akzeptanz im Sinne von Anerkennung, Befürwortung, Verständnis, Unterstützung , Beachtung und Befolgung von Rechtsnormen durch die Normadressaten sind neben der Transparenz des Verfahrens weitere Faktoren ausschlaggebend, etwa der Gegenstand der Regelungsmaterie, der Eingriffscharakter der Regelung, die politischen, ethischen oder religiösen Anschauungen oder der gesellschaftliche Konsens . Die Landesregierung geht aber davon aus, dass ein transparentes Verfahren grundsätzlich dazu beitragen kann, den Regelungszweck und den Regelungsinhalt, den Anlass und die Motive für die gesetzgebende Aktivität einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Welche Aufmerksamkeit ein transparent gestaltetes Verfahren erreichen kann, wird beeinflusst von der Bedeutung der Regelungsmaterie für die Allgemeinheit oder der Größe der Gruppe der Normadressaten und das damit verbundene Interesse der Öffentlichkeit. 9. Wie schätzt die Landesregierung die Funktions- und Rollenverteilung zwi- schen der Exekutive und der Legislative in einem parlamentarischen Regierungssystem insgesamt ein? Welches ist aus Sicht der Landesregierung das entscheidende Kriterium zur Unterscheidung des parlamentarischen vom präsidentiellen Regierungssystem? Die Funktions- und Rollenverteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative ist ein Kernelement des Rechtsstaatsprinzips. Der Grundgedanke der ausbalancierten Machtverteilung ist das tragende Organisations- und Funktionsprinzip des Grundgesetzes und der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt. Sie dient der gegenseitigen Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Staatsherrschaft. Das parlamentarische Regierungssystem relativiert durch die Verklammerung von Regierung und Parlamentsmehrheit die Trennung von Parlament und Regierung zugunsten einer Gewaltenverteilung zwischen Regierung und Regierungsmehrheit einerseits und der Parlamentsminderheit andererseits. Das ist eine durch die Parteiendemokratie geförderte Systementscheidung des Verfassungsgebers. Für die Unterscheidung des parlamentarischen Regierungssystems von einem Präsidialsystem sind in der Wissenschaft verschiedene Merkmale herausgearbeitet worden . Regierungssysteme beider Grundformen können im Einzelnen sehr verschieden verfasst sein. Nach der systematisch-funktionalen Merkmalsbestimmung ist für die Zuordnung zu einem parlamentarischen Regierungssystem das Recht des Parlaments , die Regierung aus politischen Gründen jederzeit abberufen zu können, das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal. Über dieses Recht verfügen Parlamente in einem präsidentiellen Regierungssystem nicht. Wegen der näheren Einzelheiten verweist die Landesregierung auf die Abhandlung von Winfried Steffani „Zur Unterscheidung parlamentarischer und präsidentieller Regierungssysteme“, in der Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jahrgang 14 (1983), Seiten 390 bis 401.