Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 6/160 28.06.2011 (Ausgegeben am 29.06.2011) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordnete Eva von Angern (DIE LINKE) Einstellung von Ermittlungsverfahren aufgrund objektiver Einstellungsreife Kleine Anfrage - KA 6/7044 Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Justiz und Gleichstellung 1. Sind der Landesregierung Vorgaben bekannt, unter welchen Vorausset- zungen die Staatsanwaltschaften des Landes vom Vorliegen der Einstellungsreife strafrechtlicher Ermittlungsverfahren ausgehen? Wenn ja, wie lauten diese Vorgaben? Die zentrale Vorschrift über den Abschluss des Ermittlungsverfahrens ist § 170 der Strafprozessordnung (StPO). Bieten danach die Ermittlungen keinen Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, so stellt die Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO das Verfahren ein. Die Einstellung ist ohne Verzögerung zu verfügen; sie darf nicht in der Schwebe gehalten werden (MeyerGoßner , StPO, 53. Auflage, § 170, RdNr. 6). Die Beantwortung der Frage, ob genügender Anlass (hinreichender Tatverdacht) im Sinne des § 170 Abs. 1 StPO besteht, setzt eine auf der Grundlage der geführten Ermittlungen anzustellende Prognose des entscheidenden Staatsanwalts darüber voraus, ob er am Ende einer Hauptverhandlung wahrscheinlich zu einem Antrag auf Verurteilung gelangen würde (Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 53. Auflage, § 170, RdNr. 2). Vorgaben abstrakter Art, wann ein staatsanwaltschaftlicher Dezernent von einem hinreichenden Tatverdacht bzw. vom Fehlen eines solchen auszugehen hat, würden die individuelle und eigenverantwortliche Entscheidung des Dezernenten allzu sehr einengen und der Vielgestaltigkeit der unter strafrechtlichen Aspekten zu prüfenden Sachverhalte kaum gerecht werden können. Solche Vorgaben sind der Landesregierung daher nicht bekannt. 2 Jenseits einer Einstellung gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO ist die Staatsanwaltschaft allerdings berechtigt, Ermittlungsverfahren unter Opportunitätsgesichtspunkten (etwa nach §§ 153, 153a, 154 StPO; 31a des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG); 45, 47 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG)) bereits vor einer vollständigen Ausermittlung des Sachverhaltes einzustellen. Um eine einheitliche Anwendung dieser Opportunitätsnormen zu gewährleisten, gibt es im Land Sachsen-Anhalt allerdings untergesetzliche Regelungen (Runderlasse und Allgemeinverfügungen), die Bestimmungen für die staatsanwaltschaftliche Praxis darüber enthalten, wie die in den genannten Opportunitätsvorschriften enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe („geringe Schuld“ etc.) im Sinne einer einheitlichen Rechtsanwendung ausgelegt und angewendet werden können. Insoweit handelt es sich nicht um Normen, die die tatsächliche Einstellungsreife im Sinne einer Erforschung des unter strafrechtlichen Aspekten zu beurteilenden Sachverhaltes betreffen. Beispielhaft sind folgende Regelungen zu nennen: - Die Richtlinie für die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren wegen des Ver- dachts von Verkehrsstraftaten (AV des MJ vom 26. Februar 1996, JMBl. LSA, S. 86 bis 88) regelt, unter welchen Voraussetzungen bei bestimmten Straßenverkehrsdelikten leichterer Art nach §§ 153, 153a StPO von der Strafverfolgung abgesehen werden kann. - Die Richtlinien und Empfehlungen für die Bearbeitung von Jugendstraf- sachen gemäß §§ 45 und 47 des Jugendgerichtsgesetzes (Diversionsrichtlinien , Gemeinsamer Runderlass des MJ, MI und MS vom 21. April 2008, JMBl., S. 93ff.) regeln, unter welchen Voraussetzungen die Staatsanwaltschaften gegen Jugendliche und Heranwachsende geführte Ermittlungsverfahren aus erzieherischen Gründen einstellen können. - Die Richtlinien zur Anwendung des § 31a Abs. 1 des Betäubungsmittelge- setzes und zur Bearbeitung von Ermittlungsverfahren in Strafsachen gegen Betäubungsmittelkonsumenten (Gemeinsamer Runderlass des MJ und MI vom 21. Oktober 2008, MBl., S. 245 bis 247) enthalten nähere Auslegungsbestimmungen , wann die Staatsanwaltschaft ein wegen des Besitzes geringer Mengen an Betäubungsmitteln zum Eigenbedarf geführtes Ermittlungsverfahren wegen geringer Schuld des Täters einstellen kann. 2. Sind der Landesregierung im Zeitraum 2005 bis 2010 Fälle bekannt, in de- nen die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO trotz (später festgestellter) Einstellungsreife (zunächst) unterblieben ist? Wenn ja, a) um wie viele Fälle handelt es sich und welche Delikte bzw. Deliktgrup- pen waren betroffen? b) Warum erfolgte seinerzeit die Einstellung (zunächst) nicht? Fälle, in denen die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO trotz (später festgestellter) Einstellungsreife (zunächst) unterblieben ist, sind dann denkbar, wenn der entscheidende staatsanwaltschaftliche Dezernent entweder aufgrund einer nicht 3 ausreichenden Schlüssigkeitsprüfung weitere Ermittlungen veranlasst oder aber zunächst nach einer Ermessensvorschrift (§§ 153, 153a, 154 StPO) aus Opportunitätsgründen einstellt, um später zu erkennen, dass das betreffende Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO hätte eingestellt werden müssen. Solche Fälle mögen mit dem Beurteilungsspielraum des Dezernenten der Staatsanwaltschaft bei der Auslegung des Begriffs „genügender Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage“ im Zusammenhang stehen. In die insoweit zu treffende Entscheidung fließen nämlich neben einer juristischen Prüfung auch kriminalistische Erfahrungswerte mit ein. Das Beantworten der Fragen 2.a) und b) setzte eine von Hand zu leistende Auszählung sämtlicher Ermittlungsverfahren voraus, die zwischen 2005 und 2010 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden sind, um die in der Fragestellung genannten Voraussetzungen zu überprüfen. Dies ist aus Kapazitätsgründen nicht zu leisten. 3. In wie vielen Fällen im Zeitraum von 2005 bis 2010, in denen ein strafrecht- liches Ermittlungsverfahren zunächst nach § 170 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt wurde, wurde das Ermittlungsverfahren später a) aufgrund neuer Erkenntnisse wieder aufgenommen und b) kam es infolge dessen schließlich zur Anklageerhebung? Bitte jeweils aufschlüsseln nach Anzahl, Jahr und Delikten bzw. Deliktgruppen . Zur Beantwortung dieser Frage hat der Generalstaatsanwalt in Naumburg statistisches Material übermittelt, dass zusammengefasst für alle Staatsanwaltschaften des Landes folgendes Bild ergibt (Zählung erfolgte bezogen auf Beschuldigte , nicht Ermittlungsverfahren): Jahr Wiederaufnahmen § 170 (2) StPO davon später Anklagen/ Strafbef. 2005 3283 340 2006 3740 328 2007 3657 315 2008 3330 280 2009 3168 279 2010 1372 234