Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 6/2204 25.06.2013 (Ausgegeben am 26.06.2013) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordneter Sören Herbst (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Trainingsprogramme für ideologisierte jugendliche Gewalttäter im Strafvollzug und nach der Entlassung in Sachsen-Anhalt Kleine Anfrage - KA 6/7930 Vorbemerkung des Fragestellenden: Das Land Sachsen-Anhalt beteiligt sich derzeit noch an dem in Trägerschaft des Violence Prevention Network e. V. durchgeführten Deradikalisierungsprogramm zur Extremismusprävention „Verantwortung übernehmen - Abschied von Hass und Gewalt“. Zielgruppe des Programms sind inhaftierte jugendliche Gewalttäter der Jugendanstalt Raßnitz, deren Gewaltstraftaten auf einen vorurteilsmotivierten rechtsextremen Hintergrund zurückgehen. Nach aktuellen Medienberichten, so unter anderem in der Sendung Monitor des Westdeutschen Rundfunks vom 2. Mai 2013 (Nr. 647), wird dieses Programm zum Ende des Jahres 2013 auslaufen. Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Justiz und Gleichstellung Vorbemerkung: Dass Jugendliche brutale Gewalttaten gegen Menschen begehen, die anders denken , anders aussehen oder anders glauben, ist gesellschaftliche Realität. Hintergrund und Motiv der Taten: Gewaltbereitschaft, gepaart mit Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und einem Menschenbild, das demokratischen und humanistischen Werten widerspricht. Oft waren die jungen Gewaltstraftäter in ihrer Kindheit und Jugend massiver häuslicher Gewalt ausgesetzt. Häufig ergänzt bei jungen Rechtsextremen die Erfahrung wiederholt abgebrochener Familienbeziehungen, fehlender Anerkennung, Alkoholismus, Demütigung und Missbrauch das Bild. Fast ausnahmslos jedoch fehlt die existenzielle Erfahrung, als Person anerkannt und akzeptiert zu werden. In der Regel konnte kein positives Selbst- und Fremdbild aufgebaut werden. 2 Im Zusammenhang mit dem Bekanntwerden der Morde durch die Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ist erneut auf erschreckende Weise deutlich geworden , wie wichtig die Bekämpfung des Rechtsradikalismus ist. Neben der Strafverfolgung ist dabei auch die Prävention von herausragender Bedeutung. Besonders Projekte, die sich im Jugendstrafvollzug mit ideologisierten Gewalttätern befassen, um eine Verfestigung ihrer Motive sowie ihrer Gewaltbereitschaft zu verhindern und im Idealfall eine echte Deradikalisierung zu erreichen, können hier einen wichtigen Beitrag leisten. Es ist daher Aufgabe und Chance des Jugendstrafvollzuges, die Zeit der Inhaftierung zu nutzen, um die Nachteile solcher Gesinnungsmuster bewusst zu machen, den Jugendlichen Alternativen für ihr späteres Leben nach der Haft aufzuzeigen und ihre Lernerfolge in den Lebensalltag zu transferieren. Das Land Sachsen-Anhalt beteiligt sich seit dem Jahr 2007 an dem in Trägerschaft des Violence Prevention Network e. V. durchgeführten Deradikalisierungsprogramms zur Extremismusprävention „Verantwortung übernehmen - Abschied von Hass und Gewalt“. Zielgruppe des Programms sind inhaftierte jugendliche Gewalttäter der Jugendanstalt Raßnitz, deren Gewaltstraftaten auf einen vorurteilsmotivierten rechtsextremen Hintergrund zurückgehen. Kernstück des Programms „Verantwortung übernehmen - Abschied von Hass und Gewalt“ ist ein ca. 5-monatiges Anti-Gewalt- und Kompetenztraining, welches 23 Trainingseinheiten umfasst und einmal wöchentlich innerhalb der Jugendanstalt Raßnitz stattfindet. Ein Training richtet sich an ca. acht Teilnehmer und wird von je zwei Trainer/innen von Violence Prevention Network durchgeführt. Das Training wird vom Psychologischen Dienst der Jugendanstalt Raßnitz begleitet. Weitere Interventionsmethoden werden in das Programm integriert, darunter intensive Einzelgespräche , Familien- bzw. Angehörigentage sowie gemeinsame Gruppenaktionen. Violence Prevention Network bietet den Teilnehmern vor der Entlassung ein Übergangsmanagement und nach der Entlassung ein Stabilisierungscoaching für sechs bis max. zwölf Monate an. Durch die Teilnahme am Training lernen die Jugendlichen, ihr Gewaltverhalten zu verstehen und zu verändern, das Grundrecht auf Menschenwürde und Unversehrtheit jedes Menschen zu akzeptieren, Konflikte gewaltfrei zu lösen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, Distanz gegenüber Extremismus und menschenverachtenden Ideologien zu entwickeln und ihre Zukunftsplanung eigenverantwortlich zu gestalten. Dieses vorangestellt beantwortet die Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt: 1. Beabsichtigt die Landesregierung, dieses Programm über das Jahr 2013 hinaus fortzuführen? Wenn nein, weshalb nicht? Die Trainingsprogramme wurden seit 2002 maßgeblich im Rahmen der Modellprojektförderung durch verschiedene Institutionen des Bundes finanziert und durch die beteiligten Bundesländer kofinanziert. Der Bund hat im Sommer 2012 angekündigt, sich aus dieser Finanzierung zurückzuziehen mit der Folge, dass die Gesamtfinanzierung der Programme ab 2014 nicht abgesichert ist. 3 Auch wenn die Landesregierung eine Fortsetzung des Projekts begrüßt, muss sie die Fortführung des Projekts unter den Vorbehalt einer haushaltsrechtlichen Bewilligung stellen. Durch den finanziellen Rückzug des Bundes entsteht ein deutlich erhöhter Finanzierungsanteil des Landes. Insoweit bleiben die Haushaltsberatungen zum Landeshaushalt 2014 abzuwarten. In jedem Fall ist die Landesregierung aus vergaberechtlichen Gründen gehalten , eine Fortsetzung der Maßnahme in einem Vergabeverfahren förmlich auszuschreiben . 2. Welche Erfahrungen hat die Landesregierung mit dem Programm seit sei- ner Einführung gemacht? Das Programm leistet einen wichtigen Beitrag, um die Verhaltensmuster von jugendlichen , ideologisch motivierten Gewalttätern zu reflektieren und zu überwinden und daraus resultierender Gewalt vorzubeugen. Von 2007 bis 2012 haben 57 Jugendstrafgefangene das Trainingsprogramm in der Jugendanstalt Raßnitz absolviert. Die Mehrheit der Teilnehmer, die in den letzten Jahren an dem Programm teilgenommen haben, konnten ihre Perspektiven verbessern. Das Programm verbindet Gewaltprävention und politische Bildungsarbeit zu einer speziell entwickelten Methode. Mit hinterfragenden und demütigungsfreien Techniken durchbricht sie vordergründige Rechtfertigungen für Hass und Gewalt . Durch Kompetenzerweiterung und Selbstreflexion versetzt es die Teilnehmer in die Lage, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und ihr Leben gewaltfrei zu gestalten. Im Stabilisierungscoaching nach der Entlassung konnten die Teilnehmer zeigen, dass sie mit Hilfe der Trainerinnen und Trainer in der Lage sind, sich von menschenverachtenden Ideologien zu distanzieren und ein Leben innerhalb demokratischer Regeln zu führen. 3. Wie hoch ist die Teilnehmerzahl seit Beginn des Programms? Bitte nach Jahresscheiben und Geschlecht angeben? Die Jugendanstalt Raßnitz ist eine Anstalt des geschlossenen Vollzuges für männliche Jugendliche und Heranwachsende (Straf- und Untersuchungsgefangene ). Zielgruppe des Programms sind inhaftierte männliche jugendliche Gewalttäter . Angegeben nach Jahren seit Beginn des Programms in der Jugendanstalt Raßnitz im Jahr 2007 gliedert sich die Teilnehmerzahl wie folgt: im Jahr 2007: 1 Training 8 Teilnehmer im Jahr 2008: 1 Training 9 Teilnehmer im Jahr 2009: 2 Trainings 16 Teilnehmer im Jahr 2010: 1 Training 8 Teilnehmer im Jahr 2011: 1 Training 8 Teilnehmer im Jahr 2012: 1 Training 8 Teilnehmer im Jahr 2013: 1 derzeit stattfindendes Training 8 Teilnehmer 4 4. Wie hoch ist die Abbrecherquote? Seit dem Jahr 2007 hat bislang nur ein Teilnehmer das Training abgebrochen. 5. Wie hoch ist die Re-Inhaftierungsquote für Teilnehmer aus dem Pro- gramm? Bitte im Vergleich zur durchschnittlichen Re-Inhaftierungsquote in Bezug auf den Landes-/Bundesdurchschnitt angeben. Zur Re-Inhaftierungsquote der Teilnehmer, die an dem Programm „Verantwortung übernehmen - Abschied von Hass und Gewalt“ in der Jugendanstalt Raßnitz partizipiert haben, kann keine belastbare Aussage getroffen werden, da eigens für die Teilnehmer der Jugendanstalt Raßnitz keine Evaluierung der Wirksamkeit auf wissenschaftlicher Grundlage durchgeführt wird. Es gibt jedoch eine von Violence Prevention Network e. V. veröffentlichte Studie zur Legalbewährung der Teilnehmer an VPN-Trainingskursen im Jugendstrafvollzug von Prof. Dr. Helmut Lukas aus dem Jahr 2012. Darin wurden für 188 ehemalige Teilnehmer aus 6 Ländern an einem Trainingskurs von VPN Rückfalluntersuchungen anhand von Eintragungen im Bundeszentralregister vorgenommen. Von den 188 ehemaligen Teilnehmern sind während des evaluierten Zeitraums insgesamt 98 Teilnehmer erneut strafrechtlich registriert worden , was einer Rückfallquote von 52,1 % entspricht. Davon sind 50 Teilnehmer erneut mit einer Gewalttat strafrechtlich in Erscheinung getreten, was 26,6 % ausmacht. Von den 188 Teilnehmern am VPN-Trainingskurs hatten insgesamt 60 (31,9 %) einen Rückfall, der mit einer Haftstrafe sanktioniert wurde. Davon erhielten 33 (17,6 %) eine Jugend-/Freiheitsstrafe ohne Bewährung (davon 25 für Gewalttaten ) und 27 (14,4 %) eine Jugend-/Freiheitsstrafe mit Bewährung (davon 18 für Gewalttaten). Die übrigen 38 Rückfalltäter (20,2 %) hatten lediglich Geldstrafen als schwerste Sanktion erhalten (davon 7 für Gewalttaten). Insgesamt haben damit von den 50 Gewaltrückfälligen 25 (50,0 %) als schwerste Sanktion im vierjährigen Rückfallzeitraum eine Jugend-/Freiheitsstrafe ohne Bewährung, 18 (36,0 %) eine Jugend-/Freiheitsstrafe mit Bewährung und 7 (14,0 %) eine Geldstrafe erhalten. Damit beträgt die Re-Inhaftierungsquote wegen einer neuen Gewalttat 13,3 %. Von den 48 Probanden, die nicht mit Gewalttaten in diesem Zeitraum rückfällig geworden sind, erhielten für eine Rückfalltat als schwerste Sanktion 8 (16,7 %) eine Jugend-/Freiheitsstrafe ohne Bewährung, 9 (18,8 %) eine Jugend- /Freiheitsstrafe mit Bewährung und 31 (64,6 %) eine Geldstrafe. Die ReInhaftierungsquote wegen anderer Straftaten liegt demnach bei 4,3 %. Insgesamt beträgt damit die Re-Inhaftierungsquote der Trainingskursteilnehmer im Rückfallzeitraum 17,6 %. Der Landesregierung liegen demgegenüber keine Studien zur ReInhaftierungsquote in Bezug auf den Durchschnitt der jugendlichen und heranwachsenden Gefangenen in Sachsen-Anhalt vor. 5 Zwar hat das Bundesjustizministerium eine umfangreiche Studie in Auftrag gegeben , um aktuelle Informationen über die Häufigkeit von Rückfällen zu erhalten . Ihre Ergebnisse werden in der Broschüre „Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen - Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2004 - 2007“ vorgestellt . Jedoch enthält diese Studie nur generelle Aussagen über alle Personen in Deutschland, die 2004 zu einer Strafe verurteilt oder aus der Haft entlassen oder bei denen Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz durchgeführt worden sind. Eine Differenzierung nach Ländern findet nicht statt. Auch wenn nach dieser Studie das Ergebnis aufmerken lässt, wonach Täter, die zu einer Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilt wurden, besonders häufig rückfällig gewesen sind - von den insgesamt 4.840 Personen dieser Gruppe begingen 3.319 (68,6 %) nach der Entlassung aus der Haft erneut Straftaten - und davon kehrten 37 % wieder in den Vollzug zurück -, unterstreicht dieses nur die Notwendigkeit, im Vollzug verstärkt auf die Jugendlichen und Heranwachsenden einzuwirken. Allerdings ist ein Vergleich beider Studien hinsichtlich der Rückfall- und ReInhaftierungsquote jugendlicher und heranwachsender Strafgefangener nicht möglich, denn in der Studie von Prof. Dr. Lukas wird lediglich die Zielgruppe ideologisierter jugendlicher Gewalttäter untersucht, die an einem VPNTrainingsprogramm teilgenommen hat. Ein wichtiges Kriterium, welches das Untersuchungsergebnis nicht unmaßgeblich beeinflusst hat, stellte jedoch die freiwillige Teilnahme dar, was eine gewisse Behandlungs- und Veränderungsmotivation voraussetzt. In diesem Sinne ist diese Gruppe nicht als repräsentativ für die Gesamtheit aller inhaftierten Jugendlichen und Heranwachsenden anzusehen . 6. Welche Straftaten gingen der Inhaftierung voraus? Wie hoch ist der Anteil der Straftaten mit rechtsextremen Hintergrund? Von den teilnehmenden Jugendstrafgefangenen des Programms in der Jugendanstalt Raßnitz weisen alle rechtsextrem orientierte Einstellungen auf und sind auch meist in gefestigten rechtsextremen Milieus verankert. Etwa ¾ davon begehen Gewaltstraftaten, die auf die bestehende ideologische Einstellung zurückzuführen sind. Vorurteilseinstellungen und Ablehnung von Anders- und Fremdsein stellt ein zentrales Parameter für die Opferdefinition dar. Das Spektrum der Straftaten erstreckt sich dabei von Raub, über Körperverletzung, schwerer Körperverletzung, versuchter Totschlag bis hin zum Totschlag und versuchten Mord. 7. Wie ist der Altersdurchschnitt der Programmteilnehmer? Der Altersdurchschnitt der teilnehmenden Jugendstrafgefangenen liegt bei 21 Jahren. 6 8. Wie hoch sind die Kosten pro Teilnehmer einschließlich der Nachbetreuung ? Die Gesamtkosten für ein Trainingsprogramm mit 8 Teilnehmern und der sich anschließenden 6-monatigen Entlassungsbetreuung belaufen sich auf 50.556 Euro, davon 27.324 Euro für die Durchführung eines Anti-Gewalt- und Kompetenztrainings und 23.232 Euro für das Stabilisierungscoaching nach der Entlassung. Pro Teilnehmer betragen die Kosten 6.319,50 Euro. 9. Wie hoch ist der Anteil an Bundesmittel insgesamt pro Jahr und Teilneh- mer? Wie hoch ist der Landeszuschuss pro Jahr und Teilnehmer? Über die Höhe des jährlichen Anteils an Bundesmitteln liegen der Landesregierung keine Erkenntnisse vor. Das Land Sachsen-Anhalt beteiligt sich pauschal an der Gesamtfinanzierung des Projekts bis einschließlich 31.12.2013 mit 10.000 Euro pro Jahr.