Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 6/2726 24.01.2014 (Ausgegeben am 27.01.2014) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordneter Sebastian Striegel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mutmaßliche rechte Tötungsdelikte in Sachsen-Anhalt Kleine Anfrage - KA 6/8139 Vorbemerkung des Fragestellenden: Opferinitiativen sowie Journalistinnen und Journalisten beklagen seit vielen Jahren, dass die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik seit 1990 in offiziellen Statistiken massiv unterschätzt wird. Sie gehen von mindestens 180 Toten durch rechte Gewalt seit 1990 aus. Diese Zahl steht im erkennbaren Gegensatz zu rund 60 Getöteten, die von den Behörden der Länder als Todesopfer aufgrund rechter Gewalt nach Berlin gemeldet und von der Bundesregierung entsprechend statistisch erfasst wurden. Nach der Selbstaufdeckung der Terrorserie des Nationalsozialistischen Untergrunds haben die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder unter Federführung des Bundeskriminalamts BKA eine Vielzahl von Tötungsdelikten erneut untersucht. Dabei seien nach Medienberichten bei der Überprüfung von 3 300 bislang ungeklärten Tötungsdelikten oder Tötungsversuchen zwischen 1990 und 2011 in 746 Fällen Anhaltspunkte gefunden worden, dass es sich um politisch rechts oder rechtsextremistisch motivierte Straftaten handele. Die Landesregierung Sachsen-Anhalt hatte nach einem eigenen Prüfverfahren bereits im Mai 2012 den Landtag informiert, dass sich nach Sichtung alter Unterlagen die Zahl aufgrund rechter Gewalt im Bundesland getöteter Personen um drei auf nunmehr sieben erhöht habe. In weiteren Fällen gebe es Anhaltspunkte, aber keine zwingenden Beweise für ausschlaggebende rechte Tatmotive. Opferinitiativen gehen von insgesamt mindestens 13 Toten rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt aus. 2 Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Inneres und Sport Namens der Landesregierung beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: Als Konsequenz aus dem Bekanntwerden der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds wurde am 16. Dezember 2011 das Gemeinsame Abwehrzentrum Rechtsextremismus/-terrorismus (GAR) eröffnet. Am GAR, das mittlerweile Bestandteil des „Gemeinsamen Extremismus und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ)“ ist, sind polizeiliche und nachrichtendienstliche Behörden des Bundes und der Länder beteiligt, die dort in verschiedenen Kooperationsformen Informationen austauschen. Dies betrifft auch ungeklärte Fälle der Gewaltkriminalität, die bislang nicht der politisch motivierten Kriminalität -rechts- zugeordnet wurden. Hierzu wurde eine Arbeitsgruppe Fallanalyse eingerichtet, in der Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes, Vertreter aller Landeskriminalämter sowie der Bundespolizei und von Europol mitwirken. Zu den Fragen nehme ich wie folgt Stellung: Frage 1: Hat sich die Landesregierung am Abgleich ungeklärter Tötungsdelikte ohne Tatverdächtige mit mglw. politisch rechts und/oder rechtsextremistischem Hintergrund für den Zeitraum von 1990 bis 2011 beteiligt? Die Polizei des Landes Sachsen-Anhalt beteiligt sich im Rahmen der Arbeitsgruppe Fallanalyse des GAR an der Überprüfung von ungeklärten Tötungsdelikten ohne Tatverdächtige (einschließlich Versuche), die in der Zeit von 1990 - 2011 begangen wurden. In diesem Zusammenhang wurden dem Bundeskriminalamt (BKA) Falldaten zum Abgleich in Dateien des BKA sowie polizeilichen Verbunddateien übermittelt. Im Trefferfall erfolgt eine Rückmeldung an den betreffenden Ländervertreter im GAR und eine Erkenntnisanfrage an das Bundesamt für Verfassungsschutz. Der Datenabgleich beim BKA dauert noch an und wird voraussichtlich im Laufe dieses Jahres abgeschlossen. Frage 2: Falls ja, wie viele Delikte welcher Art wurden hierfür in Sachsen-Anhalt in den Abgleich einbezogen? Dem BKA wurden insgesamt Daten zu 41 Straftaten übersandt, die in SachsenAnhalt im Tatzeitraum 1990 - 2011 begangen wurden. Dabei handelt es sich um 28 Tötungsdelikte (§§ 211, 212 StGB) inklusive Versuchshandlungen , bei denen bislang keine Tatverdächtigen ermittelt werden konnten sowie um 13 Fälle mit bekannten Tatverdächtigen, welche Bestandteil einer sukzessive erweiterten, in der Tagespresse veröffentlichten Liste sind, die nach Ansicht der Autoren infolge rechter Gewalt starben (sogenannte „Jansen-Liste“, benannt nach dem Tagesspiegel-Redakteur Frank Jansen). 3 Frage 3: In welcher Art und Weise fand der Abgleich für Sachsen-Anhalt statt. Bitte schildern durch wen und aufgrund welcher Kriterien Fälle in die Überprüfung einbezogen wurden, welche Unterlagen beigezogen wurden und welche Behörden innerhalb und außerhalb Sachsen-Anhalts am Abgleich beteiligt waren. Für die Auswahl der relevanten Fälle wurden folgende, durch die AG Fallanalyse erarbeiteten Kriterien, zugrunde gelegt: - Deliktschlüssel Mord/Totschlag (§§ 211, 212 StGB einschließlich Versuchshand- lungen), - Tatzeitraum 1990 - 2011, - keine Tatverdächtigen, - Tatort in Sachsen-Anhalt. Fälle, die diesen Kriterien entsprachen, wurden entsprechend dem Tatortprinzip an die jeweils zuständige Polizeidirektion zur weiteren Überprüfung übermittelt (insgesamt 70 Fälle). Dort wurden die entsprechenden Akten von den jeweiligen Staatsanwaltschaften angefordert und anschließend auf Grundlage eines Indikatorenkataloges des GAR geprüft. Im Anschluss wurden die Falldaten der relevanten Fälle dem BKA übersandt. Frage 4: In wie vielen Fällen haben sich bei Tötungsdelikten aus Sachsen-Anhalt Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es sich um mglw. politisch rechts und/oder rechtsextremistisch motivierte versuchte oder tatsächliche Tötungsdelikte handeln könnte? Bitte nach Art der Delikte differenzieren und Datum, Ort sowie eine anonymisierte Kurzbeschreibung angeben. Dem BKA wurden im Zusammenhang mit Tötungsdelikten ohne ermittelte Tatverdächtige Daten zu 28 Fällen übermittelt: Fall 1 Versuchter Totschlag, am 10. August 2008 in Wittenberg, mehrere Täter treten mit beschuhtem Fuß gegen den Kopf des Opfers. Fall 2 Totschlag, am 10. November 1993 in Brunau OT Plathe, das Opfer soll eine Treppe herunter gestoßen worden sein. Fall 3 Versuchter Totschlag, am 28. April 2006 in Zörbig OT Spören, nachgewiesene Manipulation am Kraftfahrzeug des Opfers. Fall 4 Versuchter Totschlag, am 4. Mai 2007 in Halberstadt, Einwirkung stumpfer Gewalt mittels eines unbekannten Gegenstands gegen den Kopf des Opfers. Fall 5 Versuchter Totschlag, am 18. April 2008 in Bitterfeld-Wolfen OT Bitterfeld, Messerstich in den Unterleib des Opfers. 4 Fall 6 Versuchter Mord, 11.-13. März 2000 in Köthen, nachgewiesene Manipulation am Motorflugzeug des Opfers. Fall 7 Versuchter Totschlag, am 21. Dezember 2010 in Zerbst, Angriff mit einem Messer gegen Kopf und Brust des Opfers. Fall 8 Versuchter Totschlag, am 8. Dezember 2005 auf der B100 zwischen Bergwitz und Gräfenhainichen, sehr wahrscheinliche Manipulation am Kraftfahrzeug des Opfers. Fall 9 Versuchter Mord, am 20. Mai 2007 in Bitterfeld-Wolfen OT Bitterfeld, Einwirkung stumpfer Gewalt mittels einer Glasflasche gegen den Kopf des Opfers. Fall 10 Totschlag, am 14. Februar 2006 in Magdeburg, Angriff mit einem Messer gegen das Opfer. Fall 11 Versuchter Totschlag, 18.-19. September 2006 in Osterwieck, nachgewiesene Manipulation am Kraftfahrzeug des Opfers. Fall 12 Mord, am 1. Juni 2006 in Magdeburg, Opfer wurde erstickt. Fall 13 Mord, am 19. Juni 2011 in Zerbst OT Güterglück, stumpfe Gewalt gegen den Kopf des Opfers. Fall 14 Versuchter Totschlag, am 15. März 2010 in Südliches Anhalt OT Diesdorf, Verabreichen einer ätzenden Flüssigkeit. Fall 15 Totschlag, am 22. Dezember 2011 in Bernburg, das Opfer soll aus dem Fenster gestoßen worden sein. Fall 16 Mord, am 20. Oktober 1996 in Dessau, ein Opfer wurde durch Schüsse in den Kopf, ein zweites Opfer durch stumpfe Gewalt gegen den Kopf mit einem unbekannten Werkzeug getötet. Fall 17 Mord, 15. Mai 2001 in Wittenberg, Opfer wurde ertränkt. Fall 18 Versuchter Totschlag, am 20. September 2008 in Thale, Angriff auf das Opfer mit einem Messer. 5 Fall 19 Versuchter Mord, am 16. August 1998 in Bitterfeld-Wolfen OT Bobbau, Schüsse auf das Opfer. Fall 20 Versuchter Totschlag, am 15. April 2010 in Bitterfeld-Wolfen OT Greppin, mögliche Manipulation am Kraftfahrzeug des Opfers. Fall 21 Totschlag, am 24. Oktober 2003 in Annaburg, das Opfer wurde möglicherweise vom Balkon gestoßen. Fall 22 Brandstiftung mit einer getöteten Person, am 25. Juni 2011 in Jerichow OT Zabakuck , Opfer einer Brandstiftung. Fall 23 Totschlag, am 28. September 2001 in Theeßen, Opfer wurde erschossen. Fall 24 Mord, am 25. August 1999 in Bitterfeld-Wolfen OT Bitterfeld, geplante Ermordung mehrerer Opfer. Fall 25 Versuchter Mord, am 29. Juni 2009 in Möhlau, Brandanschlag auf Opfer. Fall 26 Totschlag, am 31. Januar 2010 in Stendal, Verdacht des Kannibalismus. Fall 27 Versuchter Mord, am 1. Februar 2010 auf der Bundesautobahn 2 in Höhe Eimersleben , Schüsse auf fahrendes Kraftfahrzeug. Fall 28 Totschlag, am 30. August 2006 in Kemberg, Angriff auf das Opfer mit einem Messer. Zudem wurden dem BKA die Falldaten zu 13 Fällen mit bekannten Tatverdächtigen übermittelt, welche Bestandteil der sogenannten „Jansen-Liste“ sind. Fall 1 Landfriedensbruch in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, am 9. Mai 1992 in Magdeburg, Überfall von etwa 60 Skinheads auf eine Feier in einem Magdeburger Lokal. Fall 2 Gemeinschaftliche Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Beteiligung an einer Schlägerei, am 24. April 1993 in Obhausen, Angriff auf Opfer mit Baseballschläger . 6 Fall 3 Aussetzung mit Todesfolge, tateinheitlich mit Körperverletzung mit Todesfolge und tateinheitlich mit Nötigung, am 5. Mai 1994 in Quedlinburg, Opfer wurde in einen Fluss getrieben und daran gehindert diesen zu verlassen. Fall 4 Totschlag, am 8. Februar 1997 in Magdeburg, Opfer wurde geschlagen und getreten sowie mit einem Butterflymesser in den Rücken gestochen. Fall 5 Gefährliche Körperverletzung und tatmehrheitlich begangener Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung, in der Nacht zum 8. Oktober 1999 in Löbejün-Wettin OT Löbejün, Misshandlung des Opfers über mehrere Stunden . Fall 6 Gemeinschaftlich begangener Mord in Tateinheit mit gemeinschaftlich begangenem Raub mit Todesfolge, am 29. Dezember 1999 in Halle (Saale), Opfer wurde durch mehrere Personen geschlagen und getreten. Fall 7 Körperverletzung mit Todesfolge, am 29. April 2000 in Halberstadt, Opfer wurde nach verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen mit einem Messer attackiert. Besonderheit: Das zuständige Gericht entschied im vorliegenden Fall zu Gunsten des Angeklagten und erkannte einen Fall von Notwehrexzess gem. § 33 StGB an. Fall 8 Mord, am 11. Juni 2000 in Dessau-Roßlau OT Dessau, Opfer wurde durch drei Täter geschlagen und getreten. Fall 9 Gemeinschaftlich begangener versuchter Raub mit Todesfolge, gemeinschaftlich begangene Körperverletzung, unterlassene Hilfeleistung, in der Nacht zum 25. März 2001 in Bad Lauchstädt OT Milzau, Opfer wurde durch mehrere Täter geschlagen, getreten und hilflos zurückgelassen. Fall 10 Schwerer Raub mit Todesfolge in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, am 21. März 2003 in Naumburg, Opfer wurde durch mehrere Täter in seiner Wohnung geschlagen und getreten und beraubt. Fall 11 Totschlag und gefährliche Körperverletzung, in der Nacht zum 31. Januar 2004 in Burg, mehrfaches Treten durch mehrere Personen gegen den Körper und den Kopf des Opfers. Fall 12 Mord, in der Nacht zum 1. August 2008 in Dessau-Roßlau OT Dessau, Opfer wurde durch zwei Täter geschlagen und getreten sowie durch einen Täter mittels eines 5 kg schweren Müllbehälters geschlagen. 7 Fall 13 Totschlag, in der Nacht zum 17. August 2008 in Magdeburg, Opfer wurde durch einen Täter geschlagen und getreten. Frage 5: Welche Schlussfolgerungen zieht die Landesregierung aus dem Abgleich? Wie sieht der von der Landesregierung und ggf. weiteren in den Abgleich involvierten Akteure avisierte Zeitplan zum Umgang mit den Ergebnissen aus? Erst nach Abschluss des Abgleichs und sich ggf. daraus ergebenden weiteren Prüfungsbedarfs können endgültige Aussagen getroffen und ggf. Schlussfolgerungen gezogen werden.