Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 6/3303 22.07.2014 (Ausgegeben am 22.07.2014) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordneter Rüdiger Erben (SPD) Zusammenhang zwischen Kriminalitätsbelastung und Vorhandensein von Bundesautobahnen Kleine Anfrage - KA 6/8375 Vorbemerkung des Fragestellenden: In der Ausgabe der Mitteldeutschen Zeitung vom 5. Juni 2014, Seite 3 („Auf der Suche nach der Ursache“) bringt Staatssekretär Gundlach in einem Interview auf die Frage, warum die Kriminalitätsbelastung in Sachsen-Anhalt höher als in Bundesländern ist, die an osteuropäischen Staaten grenzen, als Begründung u. a. das Vorhandensein der Bundesautobahn BAB 2 als „Fluchtweg“ vor. Solche „Fluchtwege“ seien zum Beispiel in Thüringen nicht vorhanden. Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Inneres und Sport Vorbemerkung: Im Interview der Mitteldeutschen Zeitung vom 5. Juni 2014 stellt die Mitteldeutschen Zeitung fest, dass in Deutschland zunehmend Banden aus Osteuropa agieren und fragt, wie das Land Sachsen-Anhalt dadurch belastet wird. Staatssekretär Prof. Dr. Gundlach antwortete darauf, dass die besondere Situation in Sachsen-Anhalt mit dem Kriterium „Fluchtweg A 2“ zusammenhängen könne. Er verwies damit auf die Möglichkeit der ausländischen Straftäter, sich über die Bundesautobahn (BAB) 2 relativ schnell aus dem Zugriffsbereich der deutschen Polizei zu begeben. Hintergrund des Interviews war die kurz zuvor veröffentlichte Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2013 und insbesondere der dort enthaltene Ländervergleich der Kriminalitätsbelastung, welcher auf Grundlage der Häufigkeitszahl (erfasste Fälle je 100.000 Einwohner) der Bundesländer erstellt wird. 2 Hinsichtlich der Kriminalitätsverteilung nach den Ländern stellt das Bundeskriminalamt in der PKS 2013 die folgenden Erläuterungen voran: „Die nachfolgenden Abbildungen, die im Wesentlichen auf die Gesamt- und Häufigkeitszahlen abstellen, erlauben keinen umfassenden Vergleich der Kriminalitätsbelastung von Ländern und Städten. Um Aussagen über die Sicherheitslage in einer Stadt, einer Region oder einem Land zu treffen, bedarf es der Berücksichtigung vielfältiger und unterschiedlicher Faktoren und einer sehr detaillierten Betrachtung. Das Anzeigeverhalten (z. B. bei Leistungserschleichung und Ladendiebstahl) und die Deliktsstruktur können sich örtlich unterscheiden und durch polizeiliche Schwerpunktsetzung - vor allem bei sogenannten Kontrolldelikten - besonders beeinflusst werden. Darüber hinaus bestehen regionale Unterschiede bei Bevölkerungs- und Gelegenheitsstrukturen sowie hinsichtlich der Tätermobilität. So kann etwa in Städten oder Gebieten mit internationalem Flughafen oder in Grenznähe ein erhöhter Anteil von aufenthaltsrechtlichen Straftaten zu verzeichnen sein. Insbesondere die Häufigkeitszahl, die die Anzahl der registrierten Straftaten mit der Einwohnerzahl der jeweiligen Region in Bezug setzt, wird durch die regional sehr differierende Anzahl an Personen, die dort nicht amtlich als Wohnbevölkerung registriert sind (z. B. Pendler, Touristen, Durchreisende, Stationierungsstreitkräfte), jedoch als Straftäter und Opfer von Straftaten gleichermaßen in Betracht kommen, in ihrer Aussagekraft beeinflusst. Auch urbane Lebensformen und Lebensstile, die abweichendes Verhalten begünstigen können, müssen bei einem Vergleich berücksichtigt werden. Gleiches gilt für eine ggf. geringere Toleranz gegenüber Normverletzungen im ländlichen Raum und eine infolgedessen gesteigerte Anzeigebereitschaft.“ Die in der nachfolgenden Beantwortung enthaltenden Zahlen zu Straftaten beziehen sich auf die PKS 2013. 1. Wie ist das Verhältnis der Länge von Autobahnen zur Landesfläche in den Bundesländern (ohne Stadtstaaten)? Verhältnis der Länge der Bundesautobahnen zur Fläche der Bundesländer (ohne Berlin, Bremen und Hamburg): Bundesland Länge der Bundesautobahnen in km 1) Landesfläche in km2 2) km2 Landesfläche je km Bundesautobahn Baden-Württemberg 1.054 35.751,36 33,92 Bayern 2.514 70.550,23 28,06 Brandenburg 794 29.485,63 37,14 Hessen 975 21.114,93 21,66 MecklenburgVorpommern 554 23.210,55 41,90 Niedersachsen 1.434 47.613,78 33,20 Nordrhein-Westfalen 2.216 34.109,70 15,39 Rheinland-Pfalz 877 19.854,10 22,64 Saarland 240 2.568,70 10,70 Sachsen 543 18.420,01 33,92 3 Sachsen-Anhalt 411 20.450,64 49,76 Schleswig-Holstein 536 15.799,61 29,48 Thüringen 498 16.172,46 32,47 1) Angaben ohne Astlängen; Quelle: BMVI, Längenstatistik der Straßen des überörtlichen Verkehrs (Stand: 01.01.2013), Ausgabe Juli 2013 2) Fläche in Rheinland-Pfalz einschließlich des Gebietes „gemeinsames deutsch-luxemburgisches Ho- heitsgebiet" von 6,20 km2; Fläche in Mecklenburg-Vorpommern einschließlich des Gebietes „Küstengewässer einschl. Anteil am Festlandsockel von 1,00 km2; Abweichungen bei den Flächenangaben sind durch Runden der Zahlen möglich; Quelle: Internetauftritt des Statistischen Bundesamtes, Bundesländer nach Fläche und Bevölkerung am 31.12.2012. 2. Wie ist das Verhältnis der Länge von Bundesautobahnen zur Einwohnerzahl in den Bundesländern (ohne Stadtstaaten)? Verhältnis der Länge der Bundesautobahnen zur Einwohnerzahl der Bundesländer (ohne Berlin, Bremen und Hamburg): Bundesland Länge der Bundesautobahnen in km 1) Einwohner 2) Einwohner je km Bun- desautobahn Baden-Württemberg 1.054 10.569111 10.027,62 Bayern 2.514 12.519 571 4.979,94 Brandenburg 794 2.449 511 3.085,03 Hessen 975 6.016 481 6.170,75 Mecklenburg-Vorpommern 554 1.600 327 2.888,68 Niedersachsen 1.434 7.778 995 5.424,68 Nordrhein-Westfalen 2.216 17.554 329 7.921,63 Rheinland-Pfalz 877 3.990 278 4.549,92 Saarland 240 994 287 4.142,86 Sachsen 543 4.050 204 7.458,94 Sachsen-Anhalt 411 2.259 393 5.497,31 Schleswig-Holstein 536 2.806 531 5.236,07 Thüringen 498 2.170 460 4.358,35 1) Angaben ohne Astlängen; Quelle: BMVI, Längenstatistik der Straßen des überörtlichen Verkehrs (Stand: 01.01.2013), Ausgabe Juli 2013 2) Quelle: Internetauftritt des Statistischen Bundesamtes, Bundesländer nach Fläche und Bevölkerung am 31.12,2012. 4 3. Wie hoch war die Zahl der Straftaten pro 100.000 Einwohner (Häufigkeits- zahl) im Jahr 2013 in den Bundesländern (ohne Stadtstaaten)? Kriminalitätsverteilung nach Ländern (ohne Berlin, Bremen und Hamburg): Land Einwohner am 01.01.2013 1) Erfasste Fälle Häufigkeitszahl 2) Baden-Württemberg 10.569.111 576.067 5.451 Bayern 12.519.571 635.131 5.073 Brandenburg 2.449.511 197.228 8.052 Hessen 6.016.481 386.778 6.429 Mecklenburg-Vorpommern 1.600.327 120.484 7.529 Niedersachsen 7.778.995 545.704 7.015 Nordrhein-Westfalen 17.554.329 1.484.943 8.459 Rheinland-Pfalz 3.990.278 267.441 6.702 Saarland 994.287 72.540 7.296 Sachsen 4.050.204 312.500 7.716 Sachsen-Anhalt 2.259.393 193.885 8.581 Schleswig-Holstein 2.806.531 199.964 7.125 Thüringen 2.170.460 142.310 6.557 Bundesgebiet insges. 3) 80.523.746 5.961.662 7.404 1) Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2013 2) Häufigkeitszahl = Erfasste Fälle pro 100.000 Einwohner 3) beinhaltet Statistik aller 16 Bundesländer 4. Welche Zusammenhänge sieht die Landesregierung zwischen den Antwor- ten auf Frage 1 und 2 einerseits und der sog. Häufigkeitszahl andererseits im Vergleich der Bundesländer (ohne Stadtstaaten)? Die Kriminalitätsbelastung eines Bundeslandes unterliegt vielfältigsten Einflussfaktoren , die wiederum, je nach Deliktsfeld, unterschiedlich stark auf die Kriminalitätsentstehung wirken. Das Vorhandensein von gut ausgebauten Verkehrswegen ist zweifellos ein solcher Faktor, der neben anderen auf die Entstehung von Kriminalität Einfluss hat. Die Auswirkung der Verkehrswege auf die Kriminalitätsentstehung unterscheidet sich wiederum je nach Deliktsfeld. Wie auch in der Vorbemerkung der Landesregierung dargestellt, heißt es in der PKS 2013 hierzu: „Insbesondere die Häufigkeitszahl, die die Anzahl der registrierten Straftaten mit der Einwohnerzahl der jeweiligen Region in Bezug setzt, wird durch die regional sehr differierende Anzahl an Personen, die dort nicht amtlich als Wohnbevölkerung registriert sind (z. B. Pendler, Touristen, Durchreisende, Stationierungsstreitkräfte), jedoch als Straftäter und Opfer von Straftaten gleichermaßen in Betracht kommen, in ihrer Aussagekraft beeinflusst.“ Die in den Fragen 1 und 2 enthaltene quantitative Betrachtung der Verkehrswege ist, für die Betrachtung hinsichtlich eines Zusammenhangs mit der Kriminalitätsbelastung , durch eine qualitative Bewertung zu ergänzen. So kommt zum Beispiel der BAB 2, als einer wesentlichen europäischen Ost/West-Verbindung, eine besondere 5 Bedeutung im Zusammenhang mit Deliktsfeldern zu, die nicht unwesentlich durch reisende Tätergruppen aus Osteuropa geprägt werden (z. B. sog. Einbruchsdelikte). Zugleich wirken die erheblichen Transit- und Pendlerströme der BAB 2 auf die Kriminalitätsbelastung . 5. Sachsen-Anhalt verfügt über eine im Bundesvergleich hohe Aufklärungs- quote bei Wohnungseinbrüchen. Wie hoch ist der Anteil an den aufgeklärten Fällen in diesem Phänomenbereich, in denen Bundesautobahnen als „Fluchtweg" genutzt wurden? Aufklärungsquote bei Wohnungseinbruchsdiebstahl in den Ländern (ohne Berlin, Bremen und Hamburg): Land erf. Fälle insges. Aufklärungsquote Baden-Württemberg 11.295 10,9 Bayern 6.385 17,1 Brandenburg 4.001 21,5 Hessen 10.795 19,4 Mecklenburg-Vorpommern 1.521 30,2 Niedersachsen 15.74 26,4 Nordrhein-Westfalen 54.953 13,6 Rheinland-Pfalz 5.858 15,7 Saarland 2.095 16,0 Sachsen 3.620 29,2 Sachsen-Anhalt 2.588 30,4 Schleswig-Holstein 7.534 10,2 Thüringen 1.183 28,7 Bundesgebiet insges. 1) 149.500 15,5 1) beinhaltet Statistik aller 16 Bundesländer In der PKS werden keine Statistiken mit Angaben zum „Fluchtweg“ geführt. Eine statistische Aufschlüsselung der jeweiligen „Fluchtwege“ wäre nur durch eine Einzelauswertung aller geführten Ermittlungsvorgänge möglich. Das hieße, sämtliche Ermittlungsakten aus dem Jahr 2013 auf Hinweise, zum Beispiel in Beschuldigtenvernehmungen der bekanntgewordenen Täter oder Situationsspuren die auf einen bestimmten „Fluchtweg“ hindeuten, zu überprüfen. Derartige Erhebungen sind nur mit einem sehr hohen personellen und zeitlichen Aufwand möglich. So muss eine Vielzahl von Ermittlungsakten einer manuellen Sichtung, Auswertung und Beurteilung unterzogen werden, um gesicherte Aussagen zu den in Rede stehenden „Fluchtwegen “ treffen zu können. Eine annähernde Beantwortung der Frage ist aber auf einem anderen Wege möglich. 6 PKS 2013 - Kriminalitätsbereich Wohnungseinbruchsdiebstahl: Landkreise / kreisfreie Stadt Erfasste Fälle Bevölkerung Häufigkeitszahl1) Magdeburg 370 229.924 161 Halle (Saale) 324 231.440 140 Dessau-Roßlau 89 84.606 105 Altmarkkreis Salzwedel 68 86.878 78 Anhalt-Bitterfeld 160 168.475 95 Börde 179 174.001 103 Burgenlandkreis 307 186.081 165 Harz 191 223.094 86 Jerichower Land 96 92.367 104 Mansfeld-Südharz 108 144.735 75 Saalekreis 196 189.217 104 Salzlandkreis 260 201.210 129 Stendal 127 116.666 109 Wittenberg 113 130.699 86 Sachsen-Anhalt 2.588 2.259.393 115 1) Häufigkeitszahl = Erfasste Fälle pro 100.000 Einwohner In der tabellarischen Darstellung der Häufigkeitszahl der Landkreise und kreisfreien Städte im Deliktsbereich Wohnungseinbruchsdiebstahl ist eine stärkere Belastung der kreisfreien Städte Magdeburg, Halle (Saale) und Dessau-Roßlau sowie der Landkreise Börde, Jerichower Land, Stendal, Saalekreis, Salzlandkreis und Burgenlandkreis erkennbar. Die unmittelbare Lage dieser Städte und Landkreise (mit Ausnahme LK Stendal) an den BAB 2, 9, 14 und 38 ist statistisch auffällig. Dem Vorhandensein von Bundesautobahnen als Fluchtweg könnte, neben anderen möglichen Einflussfaktoren, im Deliktsbereich Wohnungseinbruchsdiebstahl somit eine besondere Rolle zukommen. Diese Annahme wird auch durch den Projektbericht der Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention „Wirksamkeit technischer Einbruchsprävention bei Wohn- und Geschäftsobjekten - Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von aktuellem Täterwissen“ gestützt. Im Rahmen des Projektes, durch dessen Forschung neue Erkenntnisse zu Tätermotivation, Planungs- und Tatverhalten gewonnen wurden , wurden u. a. Intensivinterviews mit Straftätern, die wegen Einbruchsdelikten zu meist mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, analysiert. Laut des Projektberichts war die Objektlage für viele Täter von besonderer Relevanz. Neben guten An- und Abfahrtswegen wurde auch auf gute Möglichkeiten zum Abtransport der Beute geachtet. War bei Geschäftseinbrüchen die Erreichbarkeit des Objektes mit guten Zufahrtswegen und Fluchtmöglichkeiten gegeben, spielten bei der Planung sogar Faktoren wie die unmittelbare Umgebung (Fußgängerzonen, Wohngebiet, usw.) keine Rolle mehr.