Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 6/4073 21.05.2015 (Ausgegeben am 22.05.2015) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordnete Gudrun Tiedge (DIE LINKE) Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei in Sachsen-Anhalt Kleine Anfrage - KA 6/8762 Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Inneres und Sport 1. Welche Reizstoffe gehören zur Ausrüstung der Polizei (einschließlich Be- reitschaftspolizei) in Sachsen-Anhalt standardmäßig bzw. einsatzbezogen? Die Polizei des Landes Sachsen-Anhalt verfügt über die nachstehend aufgeführten Reizstoffe:  Oleoresin Capsicum - OC o in Reizstoffsprühgeräten (RSG) bekannt als Pffefferspray.  Chloracetophenon - CN o in Reizwurfkörpern (RWK) und Reizstoffpatrone für die Spezialeinheiten der Polizei (für Geisellagen etc.) in Kleinstmengen (unter 100 Stück). 2. Welche Typen von Reizstoffsprühgeräten wurden in den Jahren 2008 bis 2014 jeweils bei der Landespolizei beschafft? Bitte differenzieren nach Jahren , Anzahl, Gerätetyp, Hersteller, Füllmenge, Reichweite, verwendetem Reizstoff und Konzentration aufschlüsseln. Grundsatz  Alle Reizstoffsprühgeräte sind nach der Technischen Richtlinie (TR) „Reizstoff- sprühgeräte (RSG) mit Oleoresin Capsicum (OC) oder Pelargonsäurevanillyamid (PAVA)“ des Unterausschusses Führungs- und Einsatzmittel, Stand: November 2008, herausgegeben vom Unterausschuss Führungs- und Einsatzmittel (UA FEM) des Arbeitskreises II „Innere Sicherheit“ der Innenminister und –senatoren der Länder, zertifiziert. 2 Reizstoffsprühgerät RSG 4 (standardmäßige Ausstattung für Beamte im Außendienst )  Hersteller: Fa. Carl Hoernecke, Oberstenfeld  Füllmenge: 30 ml Lösungsmittelgemisch  Reichweite: bis 4 m  Oleoresin Capsicum in Lebensmittelqualität  0,3 % Masseanteil an Pfefferextrakt Artikel / Beschaffungsjahr RSG 4 Nachfüllpatrone für RSG 4 2008 3.100 2009 425 5.250 2010 315 2.130 2011 180 3.250 2012 150 5.050 2013 150 2.100 2014 150 2.200 Reizstoffsprühgerät RSG 6 (einsatzbezogene Ausstattung für Beamte der Landeseinsatzorganisation „Elbe“ – LEO „Elbe“)  Hersteller: Fa. Carl Hoernecke, Oberstenfeld  Füllmenge: 63 ml Lösungsmittelgemisch  Reichweite: bis 4 m  Oleoresin Capsicum in Lebensmittelqualität  0,3 % Masseanteil an Pfefferextrakt Artikel / Beschaffungsjahr RSG 6 Nachfüllpatrone für RSG 6 2008 2009 2010 1.700 2011 150 2012 150 240 2013 2.350 2014 1.450 Reizstoffsprühgerät RSG 8 (einsatzbezogene Ausstattung je Einsatzgruppe der LEO „Elbe“)  Hersteller: Fa. Carl Hoernecke, Oberstenfeld  Füllmenge: 400 ml Lösungsmittelgemisch  Reichweite: bis 6 m  Oleoresin Capsicum in Lebensmittelqualität  0,3 % Masseanteil an Pfefferextrakt 3 Artikel / Be- schaffungsjahr RSG 8 2008 2009 2010 210 2011 5 2012 100 2013 270 2014 200 3. Bei welchen Versammlungen setzte die Polizei in den Jahren 2011 bis heu- te jeweils Reizstoffe gegen Versammlungsteilnehmer/-innen bzw. umstehende Personen ein? Eine explizite statistische Erfassung zu Reizstoffeinsätzen bei Versammlungen erfolgt in der Landespolizei nicht. Lediglich die durch die Führungsstäbe der Polizeidirektionen als herausragende BAO-Lagen (Besondere Aufbauorganisationen) geführten Einsätze anlässlich angemeldeter Versammlungen, bei denen Reizstoffe zum Einsatz kamen, stellen sich wie folgt dar: 15.01.2011 66. Jahrestag der Zerstörung von Magdeburg 01.05.2011 Veranstaltung des rechten Spektrums „Zukunft statt Globalisierung“ und des linken Spektrums „Halle gegen rechts-Bündnis für Zivilcourage “ in Halle/Saale 14.05.2011 Aufzug rechte Szene (8.Mai – Wir feiern nicht“ und Gegenveranstaltung in Salzwedel 23.06.2011 Aufzug linke Szene im Bereich des Polizeireviers Jerichower Land 14.01.2012 67. Jahrestag der Zerstörung von Magdeburg 01.07.2012 Versammlung anlässlich des 7. Todestages von Herrn Oury Jalloh in Dessau/Roßlau 12.01.2013 68. Jahrestag der Zerstörung von Magdeburg 17.09.2013 Versammlung der NPD „Asylflut und Eurowahn stoppen – NPD in den Bundestag“ sowie Gegenveranstaltung „Halle gegen rechtsBündnis für Zivilcourage“ in Halle/Saale 18.01.2014 69. Jahrestag der Zerstörung von Magdeburg 19.01.2015 „MAGIDA“ in Magdeburg 22.03.2015 Mehrere Veranstaltungen wie „Asylflut stoppen“, „Rassismus entge- gentreten – Everybody is welcome“ in Halle Saale 23.03.2015 „MAGIDA“ in Magdeburg 30.03.2015 „MAGIDA“ in Magdeburg 30.03.2015 „Versammlung für Frieden, Freiheit, Menschlichkeit und Demokratie – Friedliche Revolution 2014 – Wir sind das Volk“ in Dessau/Roßlau 06.04.2015 „MAGIDA“ in Magdeburg 13.04.2015 „MAGIDA“ in Magdeburg 4 4. Bei welchen weiteren Anlässen bzw. Erfordernissen und wie häufig setzte die Landespolizei in den Jahren 2011 bis heute jeweils Reizstoffe gegen Personen außerhalb von Versammlungen ein? Eine explizite statistische Erfassung zu Reizstoffeinsätzen außerhalb von Versammlungen erfolgt in der Landespolizei ebenfalls nicht. Der Reizstoffeinsatz als Zwangsmittel /Hilfsmittel der körperlichen Gewalt wird zwar grundsätzlich im Journal bzw. Verlaufsbericht dokumentiert. Aber da sich bereits die Anzahl der Journaleinträge für den betroffenen Zeitraum im mittleren 6-stelligen Bereich bewegt und keinerlei digitale Recherchemöglichkeiten zur Verfügung stehen, ist eine Erhebung valider Zahlen nicht möglich. Es konnten lediglich für sogenannte BAO-Lagen (z. B. Fußballspiele, Musikveranstaltungen und Volksfeste), landesweit auf der Grundlage der Verlaufsberichte , 220 Pfeffersprayeinsätze recherchiert werden. 5. Welche gesetzlichen Grundlagen, Verordnungen, Richtlinien und Polizei- dienstvorschriften existieren derzeit in Sachsen-Anhalt für den Einsatz von Reizstoffen durch Polizeibeamte und –beamtinnen und welche wesentlichen Inhalte haben diese? Die zwangsweise Durchsetzung von Befugnissen des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt (SOG LSA) ist in §§ 53 ff. SOG LSA (Vierter Teil des SOG LSA - §§ 53 bis 68a) geregelt. Nach § 71 des Verwaltungsvollstreckungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (VwVG LSA) werden Verwaltungsakte, die auf die Herausgabe einer Sache oder auf eine sonstige Handlung oder eine Duldung oder Unterlassung gerichtet sind und die nicht unter § 2 Abs. 1 VwVG LSA fallen, auch wenn sie nicht der Gefahrenabwehr dienen, ebenfalls nach dem Vierten Teil des SOG LSA durchgesetzt. Nach § 4 Abs. 2 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt (SOG LSA) sind auch bei der Erforschung und Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten die Vorschriften der §§ 61 bis 68 SOG LSA über die Anwendung unmittelbaren Zwanges anzuwenden. Daher haben Polizeibeamte beim Einsatz von Reizstoffen (als Hilfsmittel körperlicher Gewalt zur Ausübung von Zwang) im Rahmen der der Polizei nach dem SOG LSA bzw. anderen Rechtsvorschriften übertragenen Aufgaben sowie im Rahmen der Vollzugshilfe für andere Behörden neben den allgemeinen Regelungen des SOG LSA (vgl. § 60 Abs. 1 SOG LSA; z. B. § 5 SOG LSA – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) insbesondere die Regelungen des Vierten Teils des SOG LSA zu beachten. Unmittelbarer Zwang ist vor seiner Anwendung anzudrohen. Von der Androhung kann abgesehen werden, wenn die Umstände dies nicht zulassen, insbesondere wenn die sofortige Anwendung des Zwangsmittels zur Abwehr einer Gefahr notwendig ist (§ 63 Abs. 1 SOG LSA). Gegenüber einer Menschenmenge ist die Anwendung unmittelbaren Zwangs möglichst so rechtzeitig anzudrohen, dass sich Unbeteiligte noch entfernen können. Die Androhung ist vor dem Gebrauch zu wiederholen (§ 63 Abs. 3 SOG LSA). Verletzten ist, soweit die Lage es zulässt, der nötige Beistand zu leisten und ärztliche Hilfe zu verschaffen (§ 62 SOG LSA). 5 Zu den Regelungen des SOG LSA existieren Ausführungsbestimmungen (RdErl. des MI vom 24. November 1993, MBl. LSA 1994, S. 13; zuletzt geändert durch Verwaltungsvorschrift vom 07. September 2001, MBl. LSA 2001, S. 893). Für den Polizeieinsatz zugelassene Reiz- und Betäubungsstoffe dürfen danach nur gebraucht werden , wenn der Einsatz einfacher körperlicher Gewalt oder anderer, geringerer Hilfsmittel keinen Erfolg verspricht und wenn durch den Einsatz dieser Stoffe die Anwendung von Waffen vermieden werden kann. Zu dem Gebrauch von Reiz- und Betäubungsstoffen gehört auch die Verwendung von Tränengas- und Nebelkörpern. Zu den Hilfsmitteln gehören auch die Geräte, die dem Abschuss von Reiz- und Betäubungsstoffen dienen. 6. Erhalten Polizisten in Sachsen-Anhalt - insbesondere der Bereitschaftspo- lizei - Handlungsempfehlungen zum Mengenverbrauch von Pfefferspray, wenn ja, welche? Gemäß Erlass MI vom 21. Juli 1999, AZ. 2232 - 02434 - 007 Pkt. 8 absolvieren alle Polizeivollzugsbeamten der Landespolizei jährlich eine Nachbeschulung in Bezug auf die Anwendung des Pfeffersprays. Die jährliche Nachbeschulung wird durch die Polizeitrainer - „Multiplikatoren OC“ - der jeweiligen Polizeibehörde und -einrichtung durchgeführt. Die Fortbildung der Beamten wird dokumentiert. Inhalte der Nachbeschulung sind neben der Wiederholung der rechtlichen Voraussetzungen , die Handhabung, die Wirkungsweise, der richtige taktische Einsatz und Erste-Hilfe-Maßnahmen. Mit wirkstofffreien Übungspatronen werden Sprühtechniken und taktische Verhaltensweisen praxisnah trainiert. Die Hinweise an die Beamten über Dauer und Menge der Sprühstöße stammen vom Hersteller des RSG 6 der Firma „Hoernecke Sicherheitstechnik“. Es wird empfohlen nicht mehr als drei Sprühstöße von max. einer Sekunde Dauer direkt in das Gesicht eines Menschen abzugeben. Im Rahmen der Nachbeschulung wird stets auf kurze Sprühstöße hingewirkt, wobei der Mindestabstand von einem Meter nicht unterschritten werden sollte. Weiterhin wird darauf hingewiesen nach jedem Einsatz des Pfeffersprays, den Wirkungseintritt abzuwarten und erst bei Nichteintreten der Wirkung nochmals Pfefferspray zum Einsatz zu bringen. 7. Welche Wirkung des Einsatzes von Pfefferspray gegenüber Menschen sind der Landesregierung bekannt und welche direkten und indirekten Folgen, Verletzungen und Schäden verursachte der Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei in den Jahren 2011 bis heute? Zu den Wirkungen des Einsatzes von Pfefferspray gegenüber Menschen wird auf die Information Nr. 83/10 der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages verwiesen („Pfefferspray“ - Wirkung und gesundheitliche Gefahren). Die direkten und indirekten Folgen, Verletzungen und Schäden durch den Einsatz von Pfefferspray werden in der Landespolizei nicht gesondert erfasst. Aus Schilderungen der Mitarbeiter wurden Reizungen der Bindehäute der Augen sowie Hustenreiz und Atemnot nach Einatmen von Pfefferspray berichtet. 6 8. Wie viele Polizisten in Sachsen-Anhalt wurden in den Jahren 2011 bis heute durch den Einsatz von Pfefferspray oder durch den Pfeffersprayeinsatz von Kollegen/innen unbeabsichtigt bei Einsätzen verletzt bzw. von deren Wirkstoffen selbst betroffen? Eine landesweite Erfassung wird hierzu nicht vorgenommen. Für den genannten Berichtszeitraum konnten jedoch von einzelnen Behörden und Einrichtungen 33 betroffene Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte nachvollzogen werden, wobei diese Datenlage nur bedingt valide ist, da hier in eigener Zuständigkeit eine statistische Erfassung vorgenommen wurde. Dem Polizeiärztlichen Dienst / Ärztlichen Gutachterdienst der Landesverwaltung sind im Rahmen der Dienstunfallbegutachtung keine eingetretenen entschädigungspflichtigen Körperschäden durch die Anwendung von Pfefferspray in diesem Zeitraum bekannt geworden.