Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 6/4188 23.06.2015 (Ausgegeben am 24.06.2015) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordnete Dagmar Zoschke (DIE LINKE) Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen Kleine Anfrage - KA 6/8810 Vorbemerkung des Fragestellenden: Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat in seinen Abschließenden Bemerkungen zum ersten Staatenbericht Deutschland (Concluding observations on the initial report of Germany) sich darüber besorgt erklärt, dass in Deutschland bisher keine Institutionen zur Bekämpfung von Gewalt und Missbrauch an Menschen mit Behinderungen - insbesondere Frauen und Mädchen - eingerichtet und auch keine anderen Maßnahmen entwickelt wurden. Mit Verweis auf Artikel 16 der UN-Behindertenrechtskonvention sieht der UN-Ausschuss hier dringenden Handlungsbedarf (siehe die Punkte 35 und 36 des genannten Berichtes). Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Inneres und Sport Namens der Landesregierung beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: Für die Beantwortung der Frage 1 ist die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Landes Sachsen-Anhalt zugrunde gelegt worden. Die PKS enthält die der Polizei bekannt gewordenen rechtswidrigen (Straf-)Taten einschließlich der mit Strafe bedrohten Versuche sowie die Anzahl der ermittelten Tatverdächtigen und Opfer. Sie ist eine Ausgangsstatistik, so dass die Erfassung einer Straftat erst nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen zum Zeitpunkt der Abgabe der Ermittlungsakte an die Staatsanwaltschaft erfolgt. Ferner ist eine PKS-Auswertung für den Zeitraum der vergangenen 10 Jahre nicht möglich, da erst im Jahr 2008 ein Katalog zur Opferspezifik in die PKS aufgenommen wurde. Dieser Katalog enthält auch die Kategorie „Op- 2 fer wegen persönlicher Beeinträchtigung“ mit der Spezifik „Behinderung (körperlich /geistig)“. 1. Wie viele Strafanzeigen aufgrund des Verdachts der sexuellen Gewalt ge- genüber Menschen mit Behinderung sind in den vergangenen 10 Jahren in Sachsen-Anhalt gestellt worden? Bitte in Jahresscheiben auflisten. Entsprechend der vorgenommenen PKS-Auswertung sind im Bereich der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung folgende Fälle mit Opfern mit Behinderung für die Jahre 2008 bis 2014 registriert:  2008: 3 Fälle mit 3 Opfern (3 weiblich)  2009: 35 Fälle mit 35 Opfern (5 männlich, 30 weiblich)  2010: 24 Fälle mit 25 Opfern (7 männlich, 18 weiblich)  2011: 19 Fälle mit 19 Opfern (11 männlich, 8 weiblich)  2012: 27 Fälle mit 28 Opfer (6 männlich, 22 weiblich)  2013: 16 Fälle mit 20 Opfern (9 männlich, 11 weiblich)  2014: 33 Fälle mit 33 Opfern (8 männlich, 25 weiblich) 2. Wie viele dieser Strafanzeigen wurden mit welchem Ergebnis seitens der zuständigen Behörden mit welchem Ergebnis nachgegangen, wie viele wurden eingestellt? Das polizeiliche Ermittlungsergebnis stellt sich wie folgt dar: Jahr erfasste Fälle aufgeklärte Fälle 2008 3 3 2009 35 34 2010 24 23 2011 19 19 2012 27 26 2013 16 15 2014 33 33 Davon waren folgende Fälle mit den nachfolgend aufgeführten Ausgängen der Verfahren staatsanwaltschaftlich recherchierbar (Stand: 09.06.2015): offene Verfahren 4 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellte Verfahren 89 gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellte Verfahren 4 gemäß § 153a Abs. 1 StPO eingestellte Verfahren 1 3 gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellte Verfahren 4 gemäß § 45 JGG „eingestelltes“ Verfahren 1 gerichtsanhängige Verfahren nach Anklageerhebung oder Strafbefehlsbeantragung 3 gerichtlicher Verfahrensabschluss ohne Verurteilung (Nichter- öffnung, Freispruch, Einstellung) 9 Verurteilungen zu einer Geldstrafe oder einem Zuchtmittel nach JGG 5 Verurteilungen zu Freiheitsstrafen mit Bewährung 7 Verurteilungen zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung 4 Anordnung der Unterbringung 2 Verbindungen, Abgaben, ergebnislos recherchierte Fälle 7 3. Wie viele dieser betroffenen Personen lebten bzw. leben jeweils in einer stationären Einrichtung, innerhalb der Familie, in ambulant betreuten Wohngemeinschaften oder allein? Bitte nach Geschlecht differenzieren. Der Landesregierung liegen diese Angaben nicht vor. Selbst im Wege einer händischen Auswertung der Inhalte jeder einzelnen Ermittlungsakte wäre ein umfassendes repräsentatives Ergebnis nicht zu gewährleisten. 4. Welche weiteren Kenntnisse liegen der Landesregierung über sexuelle Gewalt an Menschen mit Behinderung in Sachsen-Anhalt vor? Die Ergebnisse der bundesweiten und vom Bundesministerium für Familie, Senioren , Frauen und Jugend geförderten Studie „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“ der Universität Bielefeld vom Februar 2012 verweisen auf die besondere Gefährdung von Mädchen und Frauen mit Behinderungen und deren erhöhte Betroffenheit von Gewalt. 5. Welche Maßnahmen plant oder ergreift die Landesregierung zum Schutz von Menschen mit Behinderung vor sexueller Gewalt? Die Landesregierung hat Anfang 2013 den Landesaktionsplan Sachsen-Anhalt („einfach machen“ - Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft) zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) beschlossen . Der Landesaktionsplan benennt für jedes Handlungsfeld Fundamentalziele , welche die häufig abstrakt und komplex formulierten Forderungen abbilden. Aus ihnen werden Instrumentalziele abgeleitet, die die Forderungen der UNBRK konkretisieren. Für das Fundamentalziel „In Sachsen-Anhalt genießen Frauen und Mädchen mit Behinderungen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt und sind wirksam geschützt vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch.“ benennt der Landesaktionsplan u. a. die Instrumentalziele „Erkenntnisse über Gefährdungen“ und „Schutz vor Gefährdungen“, die 4 über die Umsetzung der im Handlungsfeld benannten Maßnahmen erreicht werden sollen. a) Maßnahmen zur Umsetzung der Ziele im Landesaktionsplan Zum Instrumentalziel „Erkenntnisse über Gefährdungen“  Auswertung der von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie zur „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“;  Konzept für weitergehende Untersuchungen zur Lebenssituation von Frauen und Mädchen mit Behinderungen in Sachsen-Anhalt;  weitergehende Untersuchungen zur Lebenssituation von Frauen und Mäd- chen mit Behinderungen in Sachsen-Anhalt. Zum Instrumentalziel „Schutz vor Gefährdungen“  Erstellung von Materialien zur Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung zur Lebensrealität von Frauen und Männern mit Behinderungen;  Erstellung barrierefreier Informationen für Mädchen, Jungen, Frauen und Männer mit Behinderungen zur Stärkung der Autonomie und zur Gewaltprävention ;  Herstellung barrierefreier bedarfsgerechter Zugänge zu Beratungs- und Un- terstützungsangeboten für Mädchen, Jungen, Frauen und Männer mit Behinderungen und deren behindertengerechte Nutzung;  Erarbeitung von Leitlinien zur Gewaltprävention sowie von Interventionsplä- nen, insbesondere für Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe, der Pflege und des Gesundheitswesens;  Erarbeitung eines Leitfadens zur Unterstützung des Gender Disability Mainstreamings bei der Umsetzung des Landesaktionsplans;  Entwicklung von präventions- und sexualpädagogischen Konzepten gegen sexuelle Gewalt für Schulen: in Förderschulen Selbstbehauptungs- und Selbststärkungskurse als verpflichtendes Regelangebot, in Behinderteneinrichtungen Angebote zur Stärkung des Selbstbewusstseins von Mädchen;  Entwicklung von verpflichtenden Fortbildungsangeboten für Lehrkräfte und Betreuungspersonal zum Schutz der Privat- und Intimsphäre behinderter Mädchen und Frauen. b) Umsetzung der Maßnahmen Die Landesregierung unternimmt diverse Schritte zur Umsetzung der Maßnahmen und zur Verwirklichung des Fundamentalziels. Unterstützung erhält sie von der im Juli 2013 gegründeten Unterarbeitsgruppe Handlungsfeld „Frauen und 5 Mädchen“ (UAG Frauen und Mädchen), die aus der AG Inklusion des Runden Tisches für Menschen mit Behinderungen hervorgegangen ist. Die UAG Frauen und Mädchen ist ein regelmäßig beratendes Gremium, das aus Vertreterinnen und Vertretern des Ministeriums für Arbeit und Soziales, des Ministeriums für Justiz und Gleichstellung, des Landesfrauenrates und des Runden Tisches sowie aus Einrichtungsvertreterinnen und -vertretern sowie Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft besteht. Anlassbezogen zieht die UAG Frauen und Mädchen weitere Vertreterinnen und Vertreter sowie Expertinnen und Experten zu den Treffen hinzu. Schutz und Schutzeinrichtungen In Sachsen-Anhalt verweisen die Ergebnisse einer Umfrage des Ministeriums für Justiz und Gleichstellung auf einen sehr geringen Bedarf an barrierefrei zugänglichen Schutzeinrichtungen. Mit den Ursachen für diese geringe Zahl an Schutzanfragen in Frauenhäusern beschäftigt sich die UAG in den kommenden Monaten verstärkt. Eine Sichtung und Auswertung der Informationsmaterialien von Schutzeinrichtungen zeigte, dass diese hinsichtlich Ansprache, Verständlichkeit und Darstellung verbessert werden könnten, um eine barrierefreie Zugänglichkeit zu diesen Informationen zu erreichen. Die Ministerien für Arbeit und Soziales und für Justiz und Gleichstellung verfassten auf Empfehlung der UAG Frauen und Mädchen ein Schreiben an Beratungs - und Schutzeinrichtungen mit der Bitte, Informationsmaterialien möglichst barrierefrei zu gestalten, und mit konkreten Empfehlungen zur Verbesserung von Lesbarkeit und Verständlichkeit. Darüber hinaus stellt die UAG Frauen und Mädchen bei Nachfrage eine Checkliste zur Barrierefreiheit in Gebäuden zur Verfügung, die zur Beurteilung der baulichen Situation durch die jeweiligen Beratungs - und Schutzeinrichtungen herangezogen werden kann. Empowerment Die Aufgaben im Bereich der Prävention sind vielgestaltig und erfordern eine umfassende konzeptionelle Beschäftigung. Die Arbeit der UAG Frauen und Mädchen wird an geeigneter Stelle durch die Expertise der Leitstelle für Frauen- und Gleichstellungspolitik und des Kultusministeriums unterstützt, das wiederum aktiv zur Umsetzung der auf den Bereich der Schule bezogenen Maßnahmen beiträgt. Langfristig sollen Fortbildungsangebote auf Schulebene zum Themenfeld vorgehalten werden. Darüber hinaus ist die Entwicklung eines Fortbildungskonzepts zur Qualifizierung der Fortbilderinnen und Fortbilder durch das Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt (LISA) im Gespräch. Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt zur Selbststärkung der Mädchen ist die Auseinandersetzung mit den Themen „Sexualität“ und „sexuelle Gewalt“. Dies geschieht unter anderem im Rahmen des Unterrichts. Die Lehrpläne an allgemeinbildenden Schulen beinhalten bereits Hinweise zu diesen Themen und zu dem Umgang mit ihnen. Darüber hinaus existiert ein sexualpädagogisches Konzept für Förderschulen. Die UAG Frauen und Mädchen befasst sich intensiv mit diesem Konzept und wird gegebenenfalls Empfehlungen zu Ergänzungen aussprechen. 6 Im Kontext Gewaltprävention ist die Gestaltung einer Fachtagreihe unter Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigungen als eine Maßnahme zur Information und Weiterbildung in diesem Bereich zu nennen, die ebenfalls zur Erreichung der Instrumentalziele beitragen soll. Zielgruppen dieser Fachtage sind Menschen mit Behinderungen sowie in der Behindertenhilfe und der Verwaltung Tätige. Den Auftakt dieser Fachtagreihe wird der Fachtag „Leben, wie es mir gefällt“ Ende 2015 bilden. Gender Disability Mainstreaming Die besonderen Belange von Menschen mit Mehrfachbeeinträchtigungen wie Frauen mit Behinderungen müssen umfassend im soziopolitischen Handeln reflektiert werden und ihren Niederschlag finden. Auf der behindertenpolitischen wie wissenschaftlichen Ebene existieren bislang keine Leitfäden, die diese Dimension der mehrfachen Beeinträchtigung abbilden und ein entsprechendes Handeln empfehlen. Die UAG Frauen und Mädchen prüft derzeit, inwiefern Leitfäden zum Gender Mainstreaming Ausgangspunkt für die Entwicklung von Maßnahmen sein können. Erkenntnisse Es ist geplant, über die Initiierung fachlicher Kooperationen mit den Hochschulen des Landes Erkenntnisse über die (möglicherweise spezifische) Situation von Menschen mit Beeinträchtigungen in Sachsen-Anhalt zu gewinnen. Mit dem Lehrbereich „Angewandte Sexualwissenschaften“ der Hochschule Merseburg konnte bereits eine Vereinbarung darüber getroffen werden, dass Bachelor- und Masterthemen ausgeschrieben werden, deren Ergebnisse für die Arbeit im Handlungsfeld von Interesse sein könnten. Aktuell entsteht an der Hochschule Merseburg eine Masterarbeit zur Fragestellung „Konzepte der Gewaltprävention in Einrichtungen der Behindertenhilfe in Sachsen-Anhalt“. Diese Form der fachlichen Kooperation soll auf weitere Hochschulen des Landes ausgeweitet werden. Ergänzend zu den Maßnahmen des Landesaktionsplans ist anzumerken, dass die Landesregierung dem Landtag die Entwürfe einer Personal- und einer Mitwirkungsverordnung zum Wohn- und Teilhabegesetz des Landes SachsenAnhalt (WTG LSA) zur Herstellung des Einvernehmens nach § 33 Abs. 2 WTG LSA vorgelegt hat. Nach der Regelung des § 3 Abs. 2 des Entwurfs der Personalverordnung zum WTG LSA haben nicht nur Leitungskräfte, sondern auch Beschäftigte in stationären Einrichtungen oder Wohngruppen für Menschen mit Behinderungen vor der Einstellung oder bei begründeten Zweifeln an der persönlichen Eignung ein Führungszeugnis vorzulegen, das nicht älter als drei Monate ist. Diese Regelung ist ganz wesentlich dadurch begründet, dass umfangreiche Studien (z. B. die Bielefelder Studie) und die genannten eigenen Verwaltungserfahrungen belegen, dass Übergriffe vor allem im unmittelbaren Nahbereich vorkommen. Personen, die aufgrund ihrer größeren Nähe unmittelbaren Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern haben, sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie Leitungskräfte, von denen diese Zuverlässigkeit schon wegen ihrer Vorbildfunktion gefordert wird, oder beispielsweise Hausmeister (mit unmittelbarem Zugang zu den Bewohnerräumen). Diese Übergriffe, insbesondere bei Sexual- und Gewaltdelikten, betreffen stets fundamentale Grundrechte 7 der Bewohnerinnen und Bewohner, insbesondere die körperliche Unversehrtheit und die persönliche Freiheit. Angesichts der betroffenen hochrangigen Rechtsgüter muss daher die Überprüfung der persönlichen Zuverlässigkeit der Beschäftigten durch die Vorlage eines Führungszeugnisses nach einer Rechtsgüterabwägung als verhältnismäßig angesehen werden. Wenn durch die Vorlage der Führungszeugnisse mögliche Risiken eher erkannt und auch nur eine Straftat in diesem Bereich verhindert werden kann, hat sich diese Regelung bewährt und als notwendig und angemessen erwiesen. Zu dieser Regelung hat der Landtag das nach § 33 Abs. 2 WTG LSA erforderliche Einvernehmen noch nicht erteilt.