Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 6/707 09.01.2012 Hinweis: Die Anlage ist in Word als Objekt beigefügt und öffnet durch Doppelklick im Netz den Acrobat Reader. (Ausgegeben am 10.01.2012) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordnete Eva von Angern (DIE LINKE) Funkzellenauswertung (FZA) und Versenden „Stiller SMS“ zur Kriminalitätsbekämpfung Kleine Anfrage - KA 6/7271 Vorbemerkung des Fragestellenden: Der zivile Widerstand gegen die Nazi-Demonstrationen im Februar 2011 in Dresden wurde von der sächsischen Polizei mit dem Einsatz bis dahin wenig bekannter Maßnahmen zum Eingriff in die telekommunikative Privatsphäre beantwortet. Deutlich wurde, dass die Polizei Standortdaten von Mobiltelefonen (Funkzellenabfrage, FZA) zur Handhabung politischer Proteste nutzen. Um die nach § 100g Strafprozessordnung gesetzten Anforderungen an die Anordnung einer Funkzellenabfrage zu entsprechen, wonach diese nur zur Aufklärung von Straftaten von erheblicher Bedeutung genutzt werden darf, hatte das Land Sachsen für die Vorbereitung der Demonstrationen eine kriminelle Vereinigung konstruiert. Mittlerweile wurde offenkundig, dass auch so genannte „Stille SMS“ versandt wurden , um die Nummern naher Telefone zu ermitteln und diese dann weiteren polizeilichen Maßnahmen zu unterwerfen. Nach Berichten der Tageszeitung taz haben Innenbehörden sogar Gespräche mitgehört. Eingriffe in die telekommunikative Privatsphäre nach § 100 StPO müssen nicht gesondert statistisch erfasst werden. Bundes- wie Landesbehörden müssen daher auch Parlamentarier und Parlamentarierinnen keine Rechenschaft über Dimensionen der Maßnahmen ablegen. Die Einhaltung der Voraussetzungen für FZA kann also nicht überprüft werden. Ebenso ist unklar, ob zuvor andere Maßnahmen ergriffen wurden, nach deren Erfolglosigkeit eine FZA angeordnet wurde. Da die Polizei über keine eigene Anordnungskompetenz verfügt, werden einfache Amtsgerichte oder in Eilfällen die Staatsanwaltschaft bemüht. Es stellt sich also die Frage, ob und wie oft das Ermittlungsinstrument in SachsenAnhalt bisher in Anspruch genommen wurde. Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Inneres und Sport Namens der Landesregierung beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: 2 1. Bei welchen Kriminalitätsphänomenen bzw. herausragenden Ermittlungen wurden die Funkzellenauswertung oder auch das Versenden „Stiller SMS“ zur heimlichen Lokalisierung von Mobiltelefonen in den letzten fünf Jahren eingesetzt? Bitte auch die konkrete Anzahl benennen. Die Ermittlungsbehörden des Landes Sachsen-Anhalt nutzen die Funkzellenauswertung innerhalb der von § 100g Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit § 100g Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Strafprozessordnung (StPO) vorgegebenen rechtlichen Möglichkeiten zur Aufklärung von Straftaten von auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung, insbesondere von der in § 100a Absatz 2 StPO bezeichneten Straftaten, wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos ist, das Ermittlungsinstrument dem angestrebten Zweck dienlich ist und die Datenerhebung in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht. Grundlage für die Auswertung von Funkzellendaten ist in jedem Fall ein richterlicher Beschluss (§§ 100g Absatz 2 Satz 1, 100b Absatz 1 StPO). Bei Gefahr in Verzug kann die Anordnung auch durch die Staatsanwaltschaft getroffen werden. Soweit die Anordnung der Staatsanwaltschaft nicht binnen drei Werktagen gerichtlich bestätigt wird, tritt sie außer Kraft (§§ 100g Absatz 1 Satz 1, 100b Absatz 1 Satz 2 und 3 StPO). Während die Funkzellenauswertung dem Versuch der Identifizierung noch unbekannter Täter dient und sich demnach auf die Daten aller Mobilfunkgeräte, die während eines bestimmten Zeitraums in einer bestimmten Region geführt wurden, bezieht, handelt es sich bei einer so genannten „Stillen SMS“ um das Aussenden eines technischen Ortungsimpulses an eine den Ermittlungsbehörden bereits bekannte Rufnummer, mit dem ein Mobiltelefon zur Kontaktaufnahme mit dem Mobilfunknetz veranlasst wird. Auf dem empfangenden Endgerät ist für den Nutzer keine Aktivität erkennbar, weshalb anschaulich von „Stiller SMS“ gesprochen wird. Im Falle eines aktiven Endgerätes löst der Impuls eine aktuelle Meldung über die Funkzelle aus, in welche das Gerät eingebucht ist. Der Ortungsimpuls wird beim jeweiligen Netzbetreiber als Verkehrsdatum erfasst und gespeichert. Diese Verkehrsdaten dürfen ausschließlich auf der Grundlage vorliegender richterlicher Beschlüsse gemäß §§ 100a, b, g StPO und unter den dort näher bezeichneten Voraussetzungen verwendet werden. Eine Übermittlung vom Netzbetreiber an die Polizei erfolgt erst nach Vorliegen entsprechender richterlicher Beschlüsse. Mit dem Versenden einer „Stillen SMS“ ist kein Eingriff in den Kommunikationsvorgang verbunden. Der Schutzbereich des Artikels 10 Grundgesetz ist somit nicht berührt. Die Maßnahmen kommen insbesondere bei Straftaten der schweren und Organisierten Kriminalität, des Menschenhandels und der Schleusungskriminalität, der Rauschgiftkriminalität und bei besonders herausragenden Raub- und Erpressungsdelikten infrage. § 100g Absatz 4 StPO sieht in Umsetzung von Artikel 10 der Richtlinie 2006/24/EG Regelungen zu statistischen Berichten über die Erhebung von Verkehrsdaten vor. Diese Übersichten sind auf der Internetseite des Bundesamtes für Justiz veröffentlicht. Beigefügt ist die Übersicht für das Jahr 2010. Die Statis- 3 tik zu § 100g StPO ist erstmals für das Jahr 2008 erstellt worden. Darüber hinaus werden keine Statistiken geführt. Die Funkzellenauswertung ist ein Unterfall der in § 100g StPO normierten Erhebung von Verkehrsdaten und wird nicht gesondert in der Statistik erfasst. Vom 1. Januar 2011 bis einschließlich 30. November 2011 wurden von der Polizei des Landes Sachsen-Anhalt 15.007 sogenannte „Stille SMS“ versendet. Zahlenangaben aus früheren Jahren sind nicht möglich, da die zuvor eingesetzte Software keine entsprechende Funktionalität beinhaltet hat. Die pro Anschluss versandten Ortungsimpulse sind abhängig von den Besonderheiten des jeweiligen Ermittlungsverfahrens (u. a. technische, taktische Parameter, Umfang einzelner Ermittlungsschritte, Komplexität des Tatvorwurfs). Insofern lässt die Anzahl der versendeten Ortungsimpulse keinen Rückschluss auf die Anzahl der betroffenen Endgeräte zu. Sie ist aus den o. a. Gründen aber in jedem Fall erheblich geringer. 2. Sofern die Landesregierung keine Statistiken über die Anwendung der Funkzellenauswertung oder das Versenden „Stiller SMS“ führt; bitte zumindest Angaben über die ungefähre Größenordnung ihrer Anwendung in den letzten fünf Jahren machen (etwa 1 bis 10 pro Jahr, 50 bis 100 pro Jahr, über 100 pro Jahr) bzw. wenigstens Angaben zu besonderen Tatkomplexen der Vergangenheit tätigen, anhand derer das Verfahren von polizeilichen Ermittlungen, die Antragsstellung durch die Staatsanwaltschaft , der richterliche Beschluss bis hin zur Ausführung und Auswertung der Funkzellenauswertung durch die Fragestellerin nachvollzogen werden kann? Zur Frage der Anzahl der in Sachsen-Anhalt durchgeführten Funkzellenauswertungen und der versendeten Ortungsimpulse verweise ich auf die Beantwortung zu Frage 1. Das Versenden einer „Stiller SMS“ führte zum Beispiel in der Vergangenheit gemeinsam mit anderen polizeilichen Maßnahmen zur Festnahme eines Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren wegen versuchten Totschlags. In einem anderen Fall konnte ein Beschuldigter zu einer Entführung mittels eines Ortungsimpulses lokalisiert und in der Folge festgenommen werden. Weitere Ermittlungsverfahren, in denen die Funkzellenauswertung und/oder das Versenden „Stiller SMS“ zur Anwendung gekommen sind, beinhalteten Verfahren wegen Mordes, der schweren räuberischen Erpressung, der Fälschung von Zahlungskarten und des gewerbs- und bandenmäßig begangenen Computerbetrugs . Jedoch können diese Maßnahmen immer nur ein Teil der polizeilichen Ermittlungen darstellen. Eine erfolgreiche Aufklärung von Straftaten ist immer ein Ergebnis des Zusammenspiels mehrerer geeigneter, verhältnismäßiger und rechtlich zulässiger Ermittlungsmethoden. 4 3. Wurde die Funkzellenauswertung sowie auch das Versenden „Stiller SMS“ jemals im Phänomenbereich politischer Versammlungen angewandt ? Wenn ja, wo und wann? Die Polizei des Landes Sachsen-Anhalt hat keine entsprechenden Maßnahmen im Zusammenhang mit versammlungsrechtlichen Aktivitäten durchgeführt. 4. Wie wird die weitere Entwicklung der Funkzellenauswertung oder das Versenden „Stiller SMS“ zur polizeilichen Strafverfolgung auf Länderebene , insbesondere innerhalb der Ständigen Konferenz der Innenminister oder ihrer Unterarbeitsgruppen, koordiniert, evaluiert oder projektiert? Bitte mit Angabe, welchem Bundesland dort eine etwaige Federführung obliegt. Die vorgenannten Maßnahmen sind anlassbezogen Gegenstand des Erfahrungsaustausches in den bundesweiten Gremien. Derzeit besteht jedoch kein Auftrag an eine Arbeitsgruppe, entsprechende Maßnahmen auf Länderebene zu koordinieren, projektieren oder evaluieren. 5. Wie wird sich die Landesregierung im Bundesrat positionieren, wenn die Entwicklung strengerer Kriterien für die Anordnung, Durchführung und Protokollierung zukünftiger Maßnahmen zur Funkzellenauswertung oder des Versendens „Stiller SMS“ zur Debatte steht? Die Landesregierung wird aufgrund der Stellungnahmen der Ministerien für Justiz und Gleichstellung sowie für Inneres und Sport entscheiden, ob etwaige einschlägige Gesetzesvorhaben im Bundesrat befürwortet oder abgelehnt werden. Eine abschließende Bewertung der Landesregierung zu dem am 23. September 2011 im Bundesrat beratenen „Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der nichtindividualisierten Verkehrsdatenerhebung“ (BR-Drs. 532/11) der sächsischen Landesregierung ist bislang nicht erfolgt. Mit dem Gesetzentwurf sollen die Voraussetzungen der Datenerhebung durch Funkzellenabfragen zur Aufklärung von Straftaten präzisiert werden. Der Entwurf ist den Fachausschüssen des Bundesrates in Federführung des Rechtsausschusses zugewiesen worden und dort am 28. September 2011 zunächst mit der Begründung vertagt worden, dass es wegen der Reichweite der vorgeschlagenen Änderungen einer genauen Untersuchung ihrer Auswirkungen auf die Ermittlungspraxis bedürfe. Das Ministerium für Justiz und Gleichstellung hat im Einklang mit dem Generalstaatsanwalt in Naumburg gegen die vom Freistaat Sachsen vorgeschlagenen Neuregelungen fachlich Bedenken dahin geäußert , dass die Regelungen sich nicht in das Gefüge der Strafprozessordnung einpassten, einen für die Strafverfolgungsbehörden unvertretbaren Verwaltungsaufwand bedeuteten und überdies bestimmte Straftatbestände, wie etwa der gewerbsmäßige Diebstahl oder der wiederholte Einbruchdiebstahl in Geschäftsräume , unabhängig von Art und Ausmaß des Schadens oder der Rechtsgutgefährdung sowie der konkreten Tatbegehung im Einzelfall, aus dem Anwendungsbereich der Funkzellenabfrage ausnahmslos gestrichen werden sollen.