Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 7/2156 29.11.2017 (Ausgegeben am 29.11.2017) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordnete Doreen Hildebrandt (DIE LINKE) Erlass von Strafen in Millionenhöhe Kleine Anfrage - KA 7/1194 Vorbemerkung der Fragestellenden: Nach Medienberichten vom 20. September 2017 hat das Land den Zugbetreibern Strafen für Verspätungen und Zugausfälle in Höhe von 6 Millionen Euro erlassen. Weder Landtag noch NASA-Beirat wurden über diese Entscheidung des Verkehrsministeriums informiert. Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr Vorbemerkung: Aktuell wird der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) in Sachsen-Anhalt über 15 Verkehrsverträge mit verschiedenen Eisenbahnverkehrsunternehmen erbracht. Die Verkehrsverträge sehen u. a. detaillierte Regelungen zur Qualität der zu erbringenden Leistungen sowie der Bewertung bei Nichteinhaltung der vertraglich vereinbarten Qualität vor. Die Anforderungen werden i. d. R. in einem Ausschreibungsverfahren mit einem definierten Ausschreibungsfahrplan sowie definierten Rahmenbedingungen gesetzt. Das Ausschreibungsverfahren für einen Verkehrsvertrag erfolgt i.d.R. ca. drei bis vier Jahre vor Vertragsbeginn. Ein entsprechender Vorlauf ist aufgrund der notwendigen Fahrzeugbeschaffung erforderlich. Die hohen Investitionen in Fahrzeuge erfordern aus wirtschaftlichen Gründen den Abschluss von Verkehrsverträgen mit langen Vertragslaufzeiten , i. d. R. von 12 bis 15 Jahren. Die notwendigen Vorlaufzeiten für die Ausschreibung eines Verkehrsvertrages in Kombination mit den langen Laufzeiten setzen hohe Anforderungen an die Vertrags- 2 gestaltung. Rechtlich gesehen dürfen einem Unternehmen keine unwägbaren Risiken auferlegt werden. Bei derart langen Vertragslaufzeiten ist es jedoch faktisch nicht möglich, alle denkbaren Entwicklungen in Szenarien abzubilden und diese als Kalkulationsgrundlage für die Bieter genau zu beschreiben. Die Verkehrsverträge sehen deshalb ein sogenanntes pflichtgemäßes Ermessen bei der Bewertung von Qualitätsminderleistungen für den Fall des Eintretens komplex veränderter Rahmenbedingungen gegenüber denen der Ausschreibung vor. Eine solche Situation ist für mehrere Verkehrsverträge mit dem Fahrplanwechsel 2015/2016 im Dezember 2015 eingetreten. Seit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2015 ist der SPNV in Sachsen-Anhalt massiv und in einem bisher nie dagewesenen Umfang vom Umbau etlicher großer Eisenbahnknoten (Halle, Leipzig, Dessau, Magdeburg, Köthen) betroffen. Die Umbaumaßnahmen haben das Ziel, die Knoten für die Anforderung der Zukunft zu ertüchtigen und mit moderner Stellwerkstechnik auszurüsten. Aufgrund verschiedener Ursachen konnte die angedachte zeitlich versetzte Durchführung der Bauprojekte nicht realisiert werden, sodass der nunmehr notwendige zeitgleiche Umbau der Knoten zu deutlichen Einschränkungen der Fahrplankapazitäten geführt hat. Einschränkungen in diesem Umfang waren zum Zeitpunkt der Ausschreibung der Verkehrsverträge, der Angebotsabgabe und des nachfolgenden Abschlusses weder für die Verkehrsunternehmen noch für den Aufgabenträger abzusehen. Daher ist die ursprünglich vereinbarte Geschäftsgrundlage durch diese Entwicklung entfallen. Das Land Sachsen-Anhalt und die beteiligten benachbarten Bundesländer reagierten mit veränderten Fahrplankonzepten sowie Leistungstauschen zwischen bestehenden Verträgen, um die negativen Auswirkungen für die Fahrgäste in Grenzen zu halten. Dabei musste und muss auch weiterhin auf eine weitestgehend volle Auslastung der begrenzten Infrastruktur gesetzt werden, um ein Grundangebot im SPNV für die Bevölkerung bereit zu stellen. Die - abweichend vom bezuschlagten Ausschreibungskonzept - gewünschte hohe Kapazitätsauslastung verringert notwendige Puffer für Abweichungen im Betriebsablauf , sodass bereits bei kleinen Betriebsstörungen ein sogenannter Dominoeffekt entsteht und die vertraglich festgelegte Pünktlichkeit für die betroffenen Unternehmen praktisch nicht erreichbar ist. Für die Unternehmen waren sehr hohe Minderungen bei der Pünktlichkeit die Folge. Zudem haben die Unternehmen neben den Minderungen bei der Pünktlichkeit mit stark erhöhten Aufwendungen für die Planung ständig wechselnder Bauzustände in Verbindung mit erhöhtem Bedarf an Betriebspersonalen zu kämpfen. Die Unternehmen konfrontierten das Land Sachsen-Anhalt und die vertraglich beteiligten Nachbar-Aufgabenträger nach Ablauf des 1. Quartals 2016 mit der zutreffenden Aussage, dass die veränderten Fahrplankonzepte nicht den Ausschreibungsfahrplänen und der bei der Angebotserstellung zugrunde gelegten Betriebssituation - und oft nicht den hergebrachten Regeln für die Konstruktion von Fahrplänen - entsprächen . Die Kalkulation ihrer Angebote konnte die Risiken nicht abbilden, da diese massive Bausituation zum Zeitpunkt der Angebotserstellung nicht bekannt gewesen sei. Die von den Unternehmen kaum beeinflussbare Betriebssituation würde die Un- 3 ternehmen an die Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit bringen. Erste rechtliche Prüfungen wurden seitens der Unternehmen in Auftrag gegeben. Die Aufgabenträger liefen Gefahr, fahrgastfreundliche Konzepte für die kommenden Bauabschnitte nicht mehr durchsetzen zu können. Nach einem intensiven Dialog zwischen allen Beteiligten über mehrere Monate hinweg wurde es seitens des Landes Sachsen-Anhalt und auch anderer Aufgabenträger als notwendig erachtet, in Ausübung des vertraglich vereinbarten pflichtgemäßen Ermessens die zu erhebenden Minderungen für Unpünktlichkeit den aktuellen Verhältnissen interessengerecht anzupassen. Insofern handelt es sich auch nicht um einen Verzicht auf Forderungen, weil ein Anspruch darauf nicht besteht. Zudem ist zu beachten, dass in einem Vertrag der vertragsrechtlich notwendige Pönale-Deckel bereits erreicht war und in einigen anderen Verträgen drohte, erreicht zu werden. Tritt dieser Zustand ein, verlöre das Unternehmen jegliche Motivation, weiter gegen Qualitätseinschränkungen vorzugehen. 1. Auf welcher Ebene liegt die Entscheidungsbefugnis für die Gewährung eines solchen Teilerlasses und wer traf die Entscheidung? Im konkreten Fall handelt es sich nicht um einen Erlass, sondern vielmehr um die vertragliche Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens bei der Anpassung der Bewertung der Pünktlichkeit an komplex geänderte Rahmenbedingungen. Insofern handelt es sich um eine Aufgabe der Vertragsdurchführung, deren Betreuung der NASA GmbH als ausführende Institution des Vertragspartners Land Sachsen-Anhalt obliegt. Die Ausgestaltung der Anpassung der Bewertung der Pünktlichkeit erfolgte für vier betroffene Verträge nach einem langwierigen Analyse- und Abstimmungsverfahren zwischen den beteiligten Aufgabenträgern der Verträge und den Verkehrsunternehmen . Der Verfahrensvorschlag zur Vertragsausgestaltung wurde durch den Aufsichtsrat der NASA GmbH im Januar 2017 beschlossen. 2. Wann wurde der Teilerlass erstmals erwogen und unter Einbeziehung welcher Stellen innerhalb der Landesverwaltung wurde die Entscheidung für den Teilerlass vorbereitet? Die Anpassung der vertraglichen Bewertung bei der Pünktlichkeit war erstmals im Frühjahr 2016 angesichts der massiven Auswirkungen der Baumaßnahmen auf die Pünktlichkeit erwogen worden. Der Entscheidungsprozess wurde zunächst mit allen beteiligten Aufgabenträgern der vier betroffenen Verkehrsverträge diskutiert und vorbereitet. Der Verfahrensvorschlag wurde durch die NASA GmbH mit dem Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr besprochen und schließlich im Januar 2017 durch den Aufsichtsrat der NASA GmbH beschlossen. 4 3. Sind der Landesregierung ähnliche Entscheidungen aus anderen Bundesländern bekannt? Die Regelung der Anpassung der Minderungen auf die veränderten Rahmenbedingungen für das Jahr 2016 haben die mitbeauftragenden Vertragspartner für ihre jeweiligen Leistungen in gleicher Weise getroffen. Die Auswirkungen von Großbaumaßnahmen sind inzwischen auch ein wichtiges bundesweites Thema, da in ganz Deutschland massiv in die Ertüchtigung der über Jahre vernachlässigten Schieneninfrastruktur investiert wird. Die Mittelbereitstellung für entsprechende Investitionen wurde durch den Bund atypisch stark erhöht, sodass die aktuell besonders umfangreiche Bautätigkeit in den kommenden Jahren sehr wahrscheinlich noch weiter ansteigen wird. Die Auswirkungen der Baumaßnahmen sind entsprechend auch in anderen Bundesländern spürbar und ziehen auch dort vielfältige vertragliche Probleme nach sich. Zur Lösung dieser Probleme wurde ein bundesweit agierender „Runder Tisch Bau“ ins Leben gerufen, der verschiedene Arbeitsgruppen umfasst, Vertreter aller Beteiligten zusammenführt und Lösungsempfehlungen erarbeitet. Die Länder, in deren Verantwortung die Ausgestaltung der Verkehrsverträge für den SPNV liegt, sind angehalten , Lösungsansätze auf Grundlage der jeweils vorhandenen Vertragsstruktur zu finden . Die Länder sind zudem angehalten, in Neuausschreibungen den Umgang mit den Auswirkungen von Baumaßnahmen vertraglich gesondert zu regeln. Darüber hinaus wird auf Bundesebene diskutiert, die jetzt zu beobachtenden Erschwernisse in Zukunft dadurch zu vermeiden, dass im Rahmen der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung III gesonderte Mittel für die Aufrechterhaltung der Kapazität während der Bauphasen bereitgestellt werden sollen. 4. Wie hoch wäre die Gesamtstrafe an einbehaltenen Zuschüssen und verhängten Pönalen ohne Teilerlass im Jahr 2016 gewesen? Für ausgefallene Zugleistungen (sogenannte Nichtleistungen) erfolgen keine Zuschusszahlungen . In 2016 wurden für Zugausfälle ca. 3,41 Mio. € Zuschüsse einbehalten . Für Qualitätsschlechtleistungen von erbrachten Zugfahrten werden die Zuschüsse gemindert. In 2016 wurden Zuschussminderungen unter Berücksichtigung der angepassten Pünktlichkeitsbewertung in Höhe von insgesamt 11,4 Mio. € vorgenommen. Von den 11,4 Mio. € entfallen 6,29 Mio. € auf die Bewertung der Pünktlichkeit. Ohne Anpassung der Bewertung der Pünktlichkeit an die geänderten Bedingungen wären die Minderungen für die Pünktlichkeit um 4,56 Mio. € höher ausgefallen (10,85 Mio. € anstatt 6,29 Mio. €). Da bei Nichtanpassung der Bewertung der Pünktlichkeit bei einem betroffenen Verkehrsvertrag die vertragliche Obergrenze von 16 % des Gesamtzuschusses für Minderungen der Qualität (Zumutbarkeitsgrenze) überschritten worden wäre, hätte das 5 Land einen Teil der Qualitätsminderungen dieses Vertrages in Höhe von 2,17 Mio. € nicht geltend machen können. Ohne Anpassung der Bewertung der Pünktlichkeit hätten die Minderungen für Qualitätsdefizite somit bei 13,79 Mio. € in 2016 gelegen. 5. Wie hoch waren die von DB Netz für baubedingte Verspätungsminuten geleisteten Ausgleichszahlungen an die Zugbetreiber im Jahr 2016? Zur Beantwortung der Frage wurden die betroffenen Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) angefragt. Aus den Rückmeldungen der EVU geht Folgendes hervor: Die von der DB Netz AG in 2016 erstatteten Ausgleichszahlungen für Mängel an der Infrastruktur lagen bezogen auf die betroffenen Verkehrsverträge bei einer Größenordnung von ca. 0,5 % bis 2% der gemäß Verkehrsvertrag - vor Ansatz der 50%- Regelung - angefallenen Minderungen aus der Bewertung der Pünktlichkeit. Absolute Beträge lassen sich für das Gebiet Sachsen-Anhalts nicht identifizieren, da sich die Erstattungsbeträge auf das jeweilige Gesamtnetz, d. h. auf alle am jeweiligen Verkehrsvertrag beteiligten Bundesländer, beziehen. Es ist weiterhin darauf hinzuweisen, dass die o. g. Ausgleichszahlungen seitens DB Netz AG nicht nur baubedingte Verspätungen betreffen, sondern auch auf anderen Verspätungsursachen bzw. auf Mängeln an der Infrastruktur beruhen. Eine Differenzierung der Erstattungen nach baubedingten Verspätungen war von den EVU nicht zu leisten.