Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 7/3536 26.10.2018 Hinweis: Die Drucksache steht vollständig digital im Internet/Intranet zur Verfügung. Bei Bedarf kann Einsichtnahme in der Bibliothek des Landtages von Sachsen-Anhalt erfolgen oder die gedruckte Form abgefordert werden. (Ausgegeben am 29.10.2018) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordneter Sebastian Striegel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Abschiebungen nach Bulgarien Kleine Anfrage - KA 7/2018 Vorbemerkung des Fragestellenden: Mit Urteil vom 29. Januar 2018 (Az.: 10 LB 82/17) hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die Beklagte (das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - BAMF) verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Bulgarien besteht. Nach Auffassung des Gerichts sehen sich die anerkannten Schutzberechtigten, die sich in einer gravierenden Mangel- und Notsituation befinden und von staatlicher Unterstützung vollständig abhängig sind, in Bulgarien letztlich staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt. In dieser Notsituation drohe ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Artikels 3 EMRK unterworfen zu werden. Das Verwaltungsgericht Magdeburg kam in seinem Urteil vom 13. Februar 2018 (Az.: 1A190/16MD) zu dem gleichen Schluss. Die Gerichte stützten ihre Entscheidung im Wesentlichen auf drei Aspekte: a) Anerkannten Schutzberechtigten drohe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Bulgarien Obdachlosigkeit, weil sie in der Regel faktisch keinen Zugang zu Wohnraum hätten. b) Anerkannte Schutzberechtigte hätten zudem große Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu erlangen, um die für Wohnraum und den übrigen Lebensbedarf benötigten Mittel zu erwirtschaften. 2 c) Die erheblichen Probleme bei der Erlangung einer Unterkunft und einer den Lebensbedarf deckenden Beschäftigung bergen die Gefahr der Verelendung, da auch kein Zugang zu Sozialhilfe bestehe. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision beim Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen (Beschluss vom 20. August 2018, Az. 1 B 18.18). Es begründet seine Entscheidung damit, dass alle Rechtsfragen , die mit einer Abschiebung in Bulgarien anerkannter Flüchtlinge nach Bulgarien im Zusammenhang stehen, bereits durch europäische Rechtsprechung inhaltlich geklärt seien. Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport hat daraufhin in einem Erlass vom 5. September 2018 die Ausländerbehörden angewiesen, Abschiebungen von in Bulgarien anerkannten Flüchtlingen nach Bulgarien bis auf weiteres nicht durchzuführen. In Sachsen-Anhalt gibt es einen solchen Erlass nicht. Schutzsuchende müssen sich ihr Recht erneut vor den Verwaltungsgerichten erstreiten. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg nimmt explizit Bezug auf das Urteil des OVG Lüneburg und andere Verwaltungsgerichtsurteile. Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Inneres und Sport 1. Wie viele Personen wurden in den Jahren seit 2013 aus Sachsen-Anhalt nach Bulgarien abgeschoben? Bitte nach Jahren, Alter zum Zeitpunkt der Abschiebung (unter 6 Jahren, 6 bis 18 Jahre, 19 bis 27 Jahre, 28 bis 66 Jahre, älter als 67 Jahre) und Aufenthaltsdauer in Sachsen-Anhalt aufschlüsseln . Jahr gesamt davon unter 6 Jahre davon 6 bis 18 Jahre davon 19 bis 27 Jahre davon 28 bis 66 Jahre davon älter als 67 Jahre 2013 0 - - - - - 2014 0 - - - - - 2015 4 - 1 2 1 - 2016 9 - - 8 1 - 2017 18 - 2 11 5 - 2018* 9 1 - 4 4 - * Stand 30. September 2018 Die Aufenthaltsdauer der Personen wurde nicht statistisch erfasst. Für die Jahre 2015 bis 2018 müsste eine einzelfallbezogene Auswertung geschlossener Akten erfolgen, zu der sich die Ausländerbehörden und das Zentrale Rückkehrmanagement des Landesverwaltungsamtes innerhalb der für die Beantwortung von Kleinen Anfragen zur Verfügung stehenden Zeit bei fortlaufender Aufgabenerledigung nicht in der Lage sahen. 3 2. Auf welcher Rechtsgrundlage erfolgten die Abschiebungen? Bitte nach Rechtsgrundlagen aufschlüsseln. Jahr Überstellung nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO Überstellung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG 2015 3 1 2016 6 3 2017 1 17 2018* 1 8 * Stand 30. September 2018 3. Wie viele der o. g. Abschiebungsfälle betrafen besonders schutzbedürftige Personen im Sinne der EU-Aufnahmerichtlinie (d. h. Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, LSBTTI, Opfer von Menschenhandel , Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen, Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexualisierter Gewalt erlitten haben, wie z. B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien, Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten? Bitte einzeln aufschlüsseln . Die erfragten Daten werden statistisch nicht erfasst. Für die Jahre 2015 bis 2018 müsste eine einzelfallbezogene Auswertung geschlossener Akten erfolgen , zu der sich die Ausländerbehörden und das Zentrale Rückkehrmanagement des Landes innerhalb der für die Beantwortung von Kleinen Anfragen zur Verfügung stehenden Zeit bei fortlaufender Aufgabenerledigung nicht in der Lage sahen. 4. Welche Staatsangehörigkeit hatten die o. g. abgeschobenen Personen? Herkunftsland Anzahl Afghanistan 6 Iran 1 Irak 1 Kamerun 1 Syrien 31 5. Hält es die Landesregierung angesichts der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg und des Bundesverwaltungsgerichts zu in Bulgarien als schutzberechtigt anerkannten Personen derzeit für rechtlich zulässig und zumutbar, Abschiebungen a. von alleinreisenden Personen, b. von Personen mit besonderer Schutzbedürftigkeit nach Bulgarien durchzuführen? 4 Die zitierte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg stützt das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz auf die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eintretenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention /Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Zu dieser Überzeugung gelangte das Gericht auf Grund einer aktuellen Gesamtwürdigung der zur jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen . Hierzu bediente sich das Gericht in wesentlichen Teilen einer Expertise der Rechtsanwältin Valeria Ilareva, PhD, vom 7. April 2017 und der Auskunft des Auswärtigen Amts an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht vom 18. Juli 2017. In seiner wertenden Beurteilung gelangte es zu dem Schluss, dass Schutzberechtigte in Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit und große Schwierigkeiten bei der Arbeitsstellensuche zu erwarten hätten und daraus resultierend die Gefahr einer Verelendung vorliege. Gestützt auf die vorgenannten Erkenntnisquellen gelangt das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt mit Beschluss vom 22. August 2018 (Az. 3 L 50/17) zu einer anderen Einschätzung und hält Abschiebungen nach Bulgarien grundsätzlich für möglich. Ausgenommen davon sind vulnerable Personen. Die vom Anfragesteller zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 20. August 2018, Az. 1 B 18.18) bringt nur zum Ausdruck, dass die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, vom Europäischen Gerichtshof und vom Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich entwickelte Rechtsprechung auch auf anerkannte Flüchtlinge übertragbar ist. Gleichzeitig bestätigt das Gericht die Erforderlichkeit einer einzelfallbezogenen Prüfung unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei unterliegen die vom Berufungsgericht festgestellten Aufnahmebedingungen für nach Bulgarien zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte der tatrichterlichen Tatsachenwürdigung und -bewertung. Letztendlich ist also gestützt auf die verfügbaren Erkenntnisquellen im jeweiligen Einzelfall eine Bewertung vorzunehmen. Anlass zu einer Verallgemeinerung im Sinne eines Abschiebungsverbots nach Bulgarien besteht aufgrund der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt und des Bundesverwaltungsgerichts nicht. Insofern können Abschiebungen von anerkannten Schutzberechtigten rechtmäßig und zumutbar sein. Für vulnerable Personen ist in jedem Fall eine Einzelfallprüfung erforderlich . 6. Hat das Ministerium für Inneres und Sport als Fachaufsicht die kommunalen Ausländerbehörden im Nachgang des Urteils des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 29. Januar 2018 und des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. August 2018 auf die Problematik hingewiesen und dahingehend sensibilisiert? Das Ministerium für Inneres und Sport hat die Rechtsprechung mit dem Zentralen Rückkehrmanagement des Landesverwaltungsamtes als oberer Behörde und Fachaufsicht über die Ausländerbehörden ausgewertet. 5 7. Wie verhindert die Landesregierung aktuell Verletzungen von Artikel 3 EMRK bei Abschiebungen nach Bulgarien? Die Gerichtsurteile beziehen sich auf die Frage, ob zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse vorliegen. Hier liegt die alleinige Prüfungshoheit beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Die Ausländerbehörden sind an die Entscheidungen des BAMF gebunden. 8. Wie viele nach Bulgarien ausreisepflichtige Personen leben zurzeit in Sachsen-Anhalt? Welchen Status haben diese? Welche Rechtsgrundlagen hat die jeweilige Ausreisepflicht? Bitte nach einzelnen Gründen aufschlüsseln . Wie viele dieser Personen sind besonders schutzbedürftig im Sinne der Fragestellung der Frage Nr. 3? Hierzu liegen keine umfassenden statistischen Angaben vor. Im Ausländerzentralregister sind Personen nach Staatsangehörigkeiten erfasst und nicht nach Zielland der Abschiebungsandrohung bei Ausreisepflicht. Im Ausländerzentralregister sind mit Stand 31. August 2018 fünf Erwachsene (drei Männer, zwei Frauen) mit der Staatsangehörigkeit Bulgarien als ausreisepflichtig verzeichnet. Dem Zentralen Rückkehrmanagement liegen keine Rückführungsaufträge diese Personen betreffend vor. Zurzeit hat das Zentrale Rückkehrmanagement des Landesverwaltungsamtes drei Rückführungsaufträge für Erwachsene (zwei Männer, eine Frau) in Bearbeitung zur Überstellung nach Bulgarien auf Grundlage von Art. 13 Abs. 1 Dublin III-Verordnung, und elf Rückführungsaufträge (sieben Männer, zwei Frauen, ein Minderjähriger, eine Minderjährige) zur Überstellung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 Asylgesetz. 9. Hält es die Landesregierung nach den Ausführungen des OVG Lüneburg in o. g. Urteil und des Bundesverwaltungsgerichts im o. g. Beschluss für angemessen und zulässig, weiterhin Abschiebungen von in Bulgarien international Schutzberechtigten durchzuführen? Hält es die Landesregierung für angemessen, die Entscheidung über Abschiebungen nach Bulgarien den jeweils zuständigen Ausländerbehörden zu überlassen, ohne ihnen Vorgaben oder Hinweise zu dieser Rechtsprechung zu geben? Bitte gesondert beantworten zu Konstellationen von Einzelpersonen sowie besonders Schutzbedürftigen im Sinne der Fragestellung der Frage 3.2. Auf die Antwort auf Frage 7 wird verwiesen. 10. Wird das Ministerium für Inneres und Sport - analog zum genannten Erlass aus Niedersachsen - die Ausländerbehörden anweisen, Abschiebungen von in Bulgarien anerkannten Flüchtlingen nach Bulgarien bis auf weiteres nicht durchzuführen? Nein. Hinsichtlich vulnerabler Personen wird das Ministerium für Inneres und Sport das Landesverwaltungsamt im Hinblick auf eine erforderliche Einzelfallprüfung in Kürze sensibilisieren.