Landtag von Sachsen-Anhalt Drucksache 7/733 13.12.2016 (Ausgegeben am 14.12.2016) Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung Abgeordneter Hagen Kohl (AfD) Vorfeldaufklärung beim Landesverfassungsschutz Kleine Anfrage - KA 7/365 Vorbemerkung des Fragestellenden: Der Landesverfassungsschutz darf im Rahmen der sogenannten Vorfeldaufklärung nicht erst gegen potenzielle Straftäter tätig werden, sondern bereits dann, wenn legale Oppositionsgruppen der Verfassungsfeindschaft verdächtigt werden. Voraussetzung für die Sammlung und Auswertung von Informationen ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (§ 7 Abs. 2 VerfSchG LSA). Aber hinter der Annahme, dass irgendwelche „Tatsachen“ den Verdacht rechtfertigen, es seien „Bestrebungen“ gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in Gange, steckt nichts als eine vage Vermutung (Leggewie und Meier, „Verfassungsschutz“. Über das Ende eines deutschen Sonderweges ). Der Begriff des „Extremismus“ ist gesetzlich nicht definiert. Im Ergebnis ist der Landesverfassungsschutz zu weitreichenden (nachrichtendienstlichen) Maßnahmen befugt, ohne dass überprüfbar ist, ob diese Maßnahmen zulässig sind. Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Inneres und Sport Namens der Landesregierung beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: 1. Nach welchen Kriterien nimmt der Landesverfassungsschutz die Grenzziehung zwischen Extremisten und Demokraten vor, wenn eine Legaldefinition des Begriffs des „Extremismus“ nicht existiert? Der Begriff des „Extremismus“ ist ein gesetzlich nicht definierter Arbeitsbegriff der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt, den sie für Bestrebungen verwendet, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Gemäß § 5 Absatz 1 Satz 1 c) des Gesetzes über den Verfas- 2 sungsschutz im Land Sachsen-Anhalt (VerfSchG-LSA) betrifft dies politisch bestimmte , ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, die darauf gerichtet sind, einen der in § 5 Absatz 2 VerfSchG-LSA genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Dabei ist die bloße Kritik an diesen Verfassungsgrundsätzen noch nicht als Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzuschätzen , wohl aber darüber hinausgehende Aktivitäten zu deren Beseitigung. Entscheidend für die Rechtmäßigkeit des Sammelns und Auswertens von Informationen ist aber nicht, ob die Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen -Anhalt die jeweilige Person oder den jeweiligen Personenzusammenschluss als „extremistisch“ bewertet, sondern gemäß § 7 Absatz 2 VerfSchG- LSA, ob der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne des § 4 Absatz 1 VerfSchG-LSA vorliegen. § 4 Absatz 1 VerfSchG-LSA führt abschließend Bestrebungen und Tätigkeiten auf, zu denen die Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt Informationen zu sammeln und auszuwerten hat: Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, fortwirkende Strukturen und Tätigkeiten der Aufklärungs- und Abwehrdienste der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere des Ministeriums für Staatssicherheit oder des Amtes für Nationale Sicherheit, im Sinne der §§ 94 bis 99, 129, 129 a des Strafgesetzbuches, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht im Geltungsbereich des Grundgesetzes, Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Artikel 9 Absatz 2 des Grundgesetzes), insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker (Artikel 26 Absatz 1 des Grundgesetzes) gerichtet sind. 2. Mit welchen Ermittlungsmethoden stellt der Landesverfassungsschutz das Vorliegen der tatsächlichen Anhaltspunkte fest? Damit die Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt Informationen sammeln und auswerten darf, müssen ihr gemäß § 7 Absatz 2 VerfSchG- LSA tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne des § 4 Absatz 1 VerfSchG-LSA vorliegen. Bloße Mutmaßungen oder Hypothesen , dass solche Bestrebungen oder Tätigkeiten gegeben sein könnten, genügen hierbei nicht. Es bedarf aber auch nicht der Gewissheit der Existenz von Bestrebungen oder Tätigkeiten der genannten Art. Vielmehr müssen Tatsachen 3 vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtung zu dem Verdacht einer Bestrebung oder Tätigkeit im Sinne des § 4 Absatz 1 VerfSchG-LSA führen und deshalb eine weitere Aufklärung erforderlich erscheinen lassen. Ausreichend ist dabei, dass die Gesamtschau aller bekannten Tatsachen auf eine entsprechende Bestrebung oder Tätigkeit hindeutet, mag auch jede Tatsache für sich genommen nicht genügen. Unter einer Tatsache werden konkrete Zustände oder Vorgänge aus der Vergangenheit oder der Gegenwart verstanden, welche dem Beweis zugänglich sind. Das „Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der in vollem Umfang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt. Dies gilt sowohl für die Richtigkeit der verfassungsschutzbehördlichen Tatsachenfeststellung als auch für die Richtigkeit ihrer darauf gegründeten Schlussfolgerungen . Die der Tatsachenfeststellung zugrundeliegenden Informationen erlangt die Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt durchschnittlich zu etwa 80 Prozent aus auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Quellen wie insbesondere Medienberichten und öffentlichen Internetbeiträgen sowie von anderen öffentlichen Stellen. Sofern eine dahingehende Informationserhebung nicht möglich ist oder keinen Erfolg verspricht, werden unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der jeweiligen gesetzlichen Voraussetzungen nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt. Nur durchschnittlich etwa 20 Prozent ihrer Informationen generiert die Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt unter Verwendung nachrichtendienstlicher Mittel, insbesondere durch den Einsatz von Vertrauensleuten und Gewährspersonen, Observation, Bild- und Tonaufzeichnungen und die Verwendung von Tarnpapieren und Tarnkennzeichen sowie Maßnahmen nach dem Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) und nach § 17a VerfSchG-LSA. 3. Werden bei der Feststellung des Vorliegens tatsächlicher Anhaltspunkte Daten erhoben, verarbeitet und genutzt? Wenn ja, was passiert mit diesen Daten? Sofern der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne des § 4 Absatz 1 VerfSchG-LSA vorliegen, sammelt sie gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag diesbezüglich Informationen einschließlich personenbezogener Daten und wertet diese aus. Neben der Verwendung für ihre eigene Aufgabenerfüllung stellt die Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt die von ihr gesammelten Informationen unter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben der Landesregierung, dem Landtag, anderen öffentlichen Stellen und der Öffentlichkeit zur Verfügung. Die nach § 9 Absatz 1 VerfSchG-LSA in Dateien gespeicherten personenbezogenen Daten hat die Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt spätestens dann zu löschen, wenn diese für die Erfüllung ihrer Aufgaben nicht mehr erforderlich sind (§ 11 Absatz 2 Satz 1 VerfSchG-LSA). In diesem Fall sind auch die zur betreffenden Person geführten Akten zu vernichten (§ 11 Ab- 4 satz 2 Satz 2 VerfSchG-LSA). Personenbezogene Daten in Akten hat die Verfassungsschutzbehörde spätestens dann zu löschen, wenn die gesamte betreffende Akte zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht mehr erforderlich ist, und in diesem Fall auch die Akte zu vernichten, die solche personenbezogenen Daten enthält (§ 12 Absatz 3 Satz 1 und 2 VerfSchG-LSA). Personenbezogene Daten oder Akten sind vorübergehend von einer Löschung oder Vernichtung ausgenommen , sofern Grund zur Annahme besteht, dass die Löschung oder Vernichtung schutzwürdige Interessen der betroffenen Person verletzen würde (§§ 11 Absatz 2 Satz 3, 12 Absatz 2 Satz 1 VerfSchG-LSA) oder solange eine fristgerechte Entscheidung des Landesarchivs Sachsen-Anhalt gemäß § 9a Absatz 4 Archivgesetz Sachsen-Anhalt (ArchG LSA) über die Archivwürdigkeit aussteht (§ 9a Absatz 2 Satz 1 ArchG LSA). Wird die Archivwürdigkeit verneint oder wird innerhalb von zwölf Monaten eine Entscheidung nicht getroffen, so kann die Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt die betreffenden personenbezogenen Daten löschen oder die betreffenden Akten nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen vernichten (§ 9a Absatz 4 ArchG LSA). Wird die Archivwürdigkeit bejaht, so müssen die betreffenden Unterlagen vom Landesarchiv Sachsen-Anhalt übernommen werden. 4. Wer veranlasst (z. B. durch Weisung), dass bestimmte Personen/Organisationen hinsichtlich der Klärung, ob tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen , überprüft werden? Liegen der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne des § 4 Absatz 1 VerfSchG-LSA vor, so entscheidet die Leitung der Verfassungsschutzabteilung des Ministeriums für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt über das Sammeln und Auswerten von Informationen zu der betreffenden Bestrebung oder Tätigkeit. Diese Entscheidung umfasst auch das Sammeln und Auswerten von Informationen zu Personen und Personenzusammenschlüssen, zu denen tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, dass diese der betreffenden Bestrebung oder Tätigkeit zuzurechnen sind. Sofern der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt zu Personen oder Personenzusammenschlüssen keine tatsächlichen Anhaltspunkte darüber vorliegen, dass diese einer Bestrebung oder Tätigkeit im Sinne des § 4 Absatz 1 VerfSchG-LSA zuzurechnen sind, ist ihr gemäß § 7 Absatz 2 Verf- SchG-LSA ein Sammeln und Auswerten von Informationen zu diesen Personen oder Personenzusammenschlüssen verwehrt. Ein anlassloses Überprüfen von Personen oder Personenzusammenschlüssen auf tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne des § 4 Absatz 1 VerfSchG-LSA ist damit von Gesetzes wegen ausgeschlossen. 5. Unterliegt die Klärung, ob tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen, einer zeitlichen Beschränkung? Die Prüfung der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt, ob tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne des § 4 Absatz 1 VerfSchG-LSA vorliegen, unterliegt keiner gesetzlichen oder unterge- 5 setzlichen Frist, sondern ist ein fortlaufender Prozess. Dies zeigt sich insbesondere an § 11 Absatz 3 VerfSchG-LSA, wonach die Verfassungsschutzbehörde bei der Einzelfallbearbeitung und binnen der dort aufgeführten Fristen verpflichtet ist, zu prüfen, ob die von ihr gespeicherten personenbezogenen Daten zu berichtigen oder zu löschen sind. Ein Löschen dieser Daten hat gemäß § 11 Absatz 2 Satz 1 VerfSchG-LSA insbesondere dann zu erfolgen, wenn ihre Kenntnis für die Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde nicht mehr erforderlich ist.