STAATSMINISTERIUM DES iNNERN SÄCHSISCHES STAATSMINISTERIUM DES INNERN 01095 Dresden Präsidenten des Sächsischen Landtages Herrn Dr. Matthias Rößler Bernhard-von—Lindenau-Platz 1 01067 Dresden Kleine Anfrage der Abgeordneten Juliane Nagel (DIE LINKE) Drs.-Nr.: 6/18313 Thema: Ankündigung von Abschiebungsterminen bei Dublin-Fällen unter Androhung von Haft Sehr geehrter Herr Präsident, den Fragen sind folgende Ausführungen vorangestellt: „NGOs berichten der Fragestellerin von einem neu aufgetauchten Schreiben der Landesdirektion Sachsen, dass Menschen erhalten, für die die Dublin-lIl-Verordnung greift. Das Schreiben liegt der Fragestellerin vor. Darin wird unter anderem ein konkreter Abschiebetermin angekündigt , die Betroffenen werden aufgefordert, sich vorab ab einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Unterkunft mit Gepäck einer bestimmten Kilogrammzahl aufzuhalten. Weiterhin heißt es in dem Schreiben: ‚Wenn Sie zu dem angekündigten Termin nicht angetroffen werden und Ihre Rückführung aus von Ihnen zu vertretenden Gründen scheitert , werden wir Sie in den Fahndungshilfsmitteln der Polizei zur Festnahme ausschreiben lassen und nach Ihrer Festnahme unverzüglich Uberstellungshaft beantragen.‘ Uberstellungshaft wird durch die Dublin-lll-VO sowie § 2 Abs. 15 AufenthG definiert. Es gelten zunächst die in § 2 Abs. 14 AufenthG genannten Anhaltspunkte als Kriterien für die Annahme einer Fluchtgefahr . Art. 2 Buchstabe n) der Dublin-IlI-VO verlangt darüber hinaus, dass die Fluchtgefahr erheblich sein müsse. Der Begriff der Erheblichkeit ist dabei rein europarechtlich auszulegen, vgl. hierzu LG Traunstein , Beschl. v. 19.10.2015, 4 T 3511/15, insbesondere: ‚Der Begriff der "erheblichen" Fluchtgefahr ist als Begriff des Europarechts autonom auszulegen. Das Vorliegen einer der in § 2 Absatz 14 und 15 AufenthG geregelten Anhaltspunkte stellt |edig|ich ein (erstes) Indiz dafür dar, dass im konkreten Fall eine Fluchtgefahr bestehen könnte. Welches Gewicht diesem Indiz zukommt und ob tatsächlich - ggf. gestützt auf weitere in Absatz 14 und 15 genannte Indizien - vom Bestehen einer Fluchtgefahr ausgegangen werden kann, bedarf der Prüfung im Einzelfall [Hervorhebung durch die Fragestellerin] (vgl. auch Artikel 2 Buchstabe n der Verordnung (EU) Nr. 604/2013). Dabei FreistaatSACHSEN Der Staatsminister Aktenzeichen (bitte bei Antwort angeben) 2-1053/71/164 Dresden, 7. August 2019 Hausanschrift: Sächsisches Staatsministerium des Innern WilheIm-Buck-Str. 2 01097 Dresden Telefon +49 351 564—0 Telefax +49 351 564-3199 www.smi.sachsen.de Verkehrsanbindung: Zu erreichen mit den Straßenbahnlinien 3.6.7.8,13 Besucherparkplätze: Bitte beim Empfang WilheIm-Buck- Str. 2 oder 4 melden. STAATSMiNiSTERiUM DES iNNERN sind auch Umstände zu berücksichtigen, die - trotz Vorliegen der in Absatz 14 und 15 geregelten Anhaltspunkte - gegen die Annahme einer Fluchtgefahr sprechen ! , Die Fragestellerin geht davon aus, dass, dem Wortlaut von Art. 2 Buchstabe n) der Dublin-III-VO (dem Verfahren ‚möglicherweise durch Flucht zu entziehen‘), die Flucht erstens möglich und zweitens, darauf aufbauend, die Fluchtgefahr wahrscheinlich ist. Die Fragestellerin geht im Weiteren davon aus, dass Anträge auf Überstellungshaft durch Landesdirektion beziehungsweise lokale Ausländerbehörden begründet werden.“ Namens und im Auftrag der Sächsischen Staatsregierung beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1: Wie viele Personen unter der ausländerrechtlichen Zuständigkeit welcher Behörden haben die angeführten Schreiben bereits erhalten und seit wann werden sie ausgestellt? Haben dieses Schreiben auch Kinder und Jugendliche I Familien mit Kindern und Jugendlichen erhalten und wenn ja, wie viele unter der ausländerrechtlichen Zuständigkeit welcher Behörden? Terminankündigungen für die Überstellung nach der Dublin-III-Verordnung werden durch die Zentrale Ausländerbehörde Chemnitz seit etwa Anfang dieses Jahres sowohl ‘ an volljährige Alleinreisende als auch an Familien mit Kindern zugestellt. Bei letzteren werden die Schreiben an die Eltern versandt. Von einer weiteren Beantwortung wird abgesehen. Angaben zur Zahl der versandten Schreiben können nicht gemacht werden. Es erfolgt keine diesbezügliche statistische Erfassung, an wie viele Personen die Terminankündigung für die Überstellung nach der Dublin-lll-Verordnung bislang zugestellt wurde. Die zur Beantwortung der Frage notwendigen Erkenntnisse liegen der Staatsregierung nicht unmittelbar vor. Gemäß Artikel 51 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung des Freistaates Sachsen ist die Staatsregierung verpflichtet, Fragen einzelner Abgeordneter oder parlamentarische Anfragen nach bestem Wissen unverzüglich und vollständig zu beantworten. Nach dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue ist jedes Verfassungsorgan verpflichtet, bei der Ausübung seiner Befugnisse den Funktionsbereich zu respektieren, den die hierdurch mit— betroffenen Verfassungsorgane in eigener Verantwortung wahrzunehmen haben. Dieser Grundsatz gilt zwischen der Staatsregierung und dem Parlament sowie seinen ein— zelnen Abgeordneten, so dass das parlamentarische Fragerecht durch die Pflicht der Abgeordneten zur Rücksichtnahme auf die Funktions- und Arbeitsfähigkeit der Staatsregierung begrenzt ist. Die Staatsregierung muss nur das mitteilen, was innerhalb der _ Antwortfrist mit zumutbarem Aufwand in Erfahrung gebracht werden kann. Seite 2 von 4 FreistaatSACHSEN STAATSMiNiSTERiUM DES iNNERN Im vorliegenden Fall wäre durch eine vollständige Beantwortung die Arbeits— und Funktionsfähigkeit der Staatsregierung gefährdet, weil eine elektronische Recherche der erforderlichen Informationen nicht möglich ist. Für eine Auswertung wäre es erforderlich, sowohl die Akten der erfolgreich durchgeführten Überstellungen als auch der gescheiterten Abschiebeversuche durchzusehen. Im 1. und 2. Quartal 2019 wurden allein 134 Dublin—Überstellungen in Zuständigkeit der Zentralen Ausländerbehörde Chemnitz vollzogen. Hinzu kommen noch die bis 30. Juni 2019 gescheiterten 885 Abschiebungsversuche, bei deren statistischer Erfassung nicht zwischen Dublin-Uberstellungen und Abschiebungen unterschieden wird. Die notwendigen Daten können nur durch die händische Auswertung von diesen insgesamt 1.019 Akten erlangt werden. Für das Anfordern, das Suchen, den Transport der Akten sowie die Auswertung und Dokumentation im Sinne der Fragestellung und den Rücktransport wird von einer Bearbeitungszeit von 30 Minuten pro Akte ausgegangen. Ausgehend von einer 40-h-Woche sind daher mehr als drei Mitarbeiter notwendig, um die Frage innerhalb des zur Verfügung stehenden Zeitraums von vier Wochen zu beantworten . Frage 2: Warum wird in dem Schreiben aufgeführt, dass ein Rechtsbehelf gegen das Schreiben nicht möglich sei, aber nicht erwähnt, dass die Betroffenen die Möglichkeit haben, gegen die Unzulässigkeits-Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge Rechtsmittel einzulegen? Sieht die Staatsregierung Ihre lnformationspflicht auf diese Art und Weise als erfüllt an? Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) versieht seine Bescheide mit den entsprechenden Rechtsbehelfsbelehrungen. Eine Rechtsbehelfsbelehrung zu Ent— scheiden des BAMF durch sächsische Behörden wäre nicht zulässig. Bei den Terminankündigungen handelt es sich nicht um anfechtbare Bescheide. Die Adressaten werden |edig|ich darüber informiert, wann sie sich wo einzufinden haben. Frage 3: Haben ausstellende Landesdirektion beziehungsweise gegebenenfalls ausstellende , lokale Ausländerbehörde vorm Versenden der Schreiben geprüft, ob eine erhebliche Fluchtgefahr im Einzelfall vorliegen könnte, sodass ein Antrag auf Überstellungshaft vorm jeweils zuständigen Amtsgericht Aussicht auf, nach Ansicht der abschiebenden Behörden, Erfolg haben könnte oder erfolgt die Versendung der Schreiben pauschal, ohne dass in irgendeiner Weise eine erhebliche Fluchtgefahr und damit eine „erfolgreiche“ Antragstellung auf Überstellungshaft geprüft wurde? Die rechtlichen Voraussetzungen von Maßnahmen werden stets geprüft, wenn diese Maßnahmen ergriffen werden. Seite 3 von 4 FreistaatSACHSEN STAATSMINISTERIUM DES iNNERN Frage 4: Der Wortlaut des Schreibens geht chronologisch zuerst von einer Festnahme aus und erst dann vom Antrag auf Überstellungshaft — entspricht dieses Vorgehen Art. 104 GG? Wie oft wurde in der Vergangenheit bereits so vorgegangen und wie oft war die Antragstellung nicht „erfolgreich“ (bitte aufschlüsseln nach Anzahl der Personenl Anzahl der Personen im Familienverband, ausländerrechtlich zuständige Behörde, entscheidendes Gericht, Dauer der Haft nach Festnahme bis , zur gerichtlichen Entscheidung, Dauer der Überstellungshaft nach gerichtlicher Entscheidung, Zielstaat der Abschiebung)? Das Vorgehen entspricht der gesetzlichen Regelung der §§ 50 Abs. 6 und 62 Aufenthaltsgesetz und steht mit Artikel 104 Grundgesetz im Einklang. Bislang wurden noch keine Überstellungshaftanträge gestellt, die sich auf ein Untertauchen nach einer Terminankündigung beziehen. Frage 5: Welche Maßnahmen hat die Staatsregierung ergriffen, um a) Panik in Sammelunterkünften b) Suiziden, Suizidversuchen, Selbstverletzungen c) sogenannte „Sekundärmigration“ d) Flucht in Obdachlosigkeit und / oder Untergrund vorzubeugen? Erkennt die Staatsregierung weitere, mögliche Folgen, die bei Betroffenen durch Erhalt des Schreibens auftreten können? Es gibt aktuell keine Anhaltspunkte dafür, dass das Schreiben bei den Betroffenen zu den 0. 9. Reaktionen führt, zumal sie bereits durch das BAMF mittels Bescheid über die Ablehnung des Asylantrags in Kenntnis gesetzt worden sind und die zu enNartenden . Konsequenzen, wenn sie die BAMF-Entscheidung ignorieren, kennen. Wird auf eine freiwillige Ausreise verzichtet, müssen die Betroffenen jederzeit mit einer Vollstreckung des BAMF-Bescheides rechnen. Mit dem Schreiben wird eine Konkretisierung des Überstellungstermins vorgenommen. Hierdurch besteht die Möglichkeit für die Betroffenen , sich auf die Abholung vorzubereiten, was gerade bei Familien dem Kindeswohl zuträglicher ist. Damit wird nach hiesiger Einschätzung auch einem Begehren der Nichtregierungsorganisationen Rechnung getragen. Mit fre dlichen Grüßen / . Dr. Roland Wöuer Seite 4 von 4 FreistaatSACHSEN 2019-08-07T09:46:20+0200 pseudo: Elektronisches Dokumentations- und Archivsystem Erstellung des Nachweisdokumentes