STAATSWI1N1STBRIU1V1 DER JUSTIZ Freistaat SACHSEN Der Staatsminister SÄCHSISCHES STAATSMINISTERIUM DER JUSTIZ Hospitalstraße 7 101097 Dresden Präsidenten des Sächsischen Landtages Herrn Dr. Matthias Rößler Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 01067 Dresden Durchwahl Telefon +49 (0)351 564-1500 Telefax +49 (0)351 564-1509 staatsminister© smj.justiz.sachsen.de* Aktenzeichen (bitte bei Antwort angeben) 1040E-LR-739/15 Dresden, 22. Juli 2015 Kleine Anfrage des Abgeordneten Klaus Bartl, Fraktion DIE LINKE Drs.-Nr.: 6/1974 Thema: Länderübergreifende polizeiliche Gewährleistung einer gerichtlichen Vorführungsanordnung nach § 230 Abs. 2 StPO als milderes Mittel zum Sitzungshaftbefehl nach dem Beschluss des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen vom 26. März 2015 - Vf. 26-IV-14 Sehr geehrter Herr Präsident, den Fragen sind folgende Ausführungen vorangestellt: „Der Sächsische Verfassungsgerichtshof hat am 26. März 2015 auf die Verfassungsbeschwerde des betroffenen Bürgers gegen einen Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 8. April 2014 (1 Ws 96/14) und den Beschluss des Landgerichts Leipzig, vom 9. Januar 2014 (1 Qs 293/22) darauf erkannt, dass beide Beschlüsse dem Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person nach Artikel 16 Abs. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung (SächsVerf) verletzen. Der Betroffene war zu einem bereits im August 2011 anberaumten Verhandlungstermin trotz ordnungsgemäßer Ladung zum Termin vermeintlich unentschuldigt nicht erschienen. Daraufhin hatte das zuständige Amtsgericht einen sogenannten Sitzungshaftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO erlassen. Der Beschwerdeführer wurde am 2. September 2011 in Berlin festgenommen und dem Amtsgericht Tiergarten zur Verkündung des Haftbefehls vorgeführt. Nach Vorführung beim verfahrensführenden Amtsgericht Leipzig am 16. September 2011 und Seite 1 von 8 Hausanschrift: Sächsisches Staatsministerium der Justiz Hospitalstraße 7 01097 Dresden Briefpost über Deutsche Post 01095 Dresden www.justiz.sachsen.de/smj Verkehrsverbindung: Zu erreichen mit Straßenbahnlinien 3, 6, 7, 8,11 Parken und behindertengerechter Zugang über Einfahrt Hospitalstraße 7 ‘Zugang für elektronisch signierte sowie für verschlüsselte elektronische Dokumente nur über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach; nähere Informationen unter www.egvp.de STAATSTVI1N1STER1UM DER JUSTIZ Freistaat SACHSEN anschließender Haftvernehmung ging das Gericht unmittelbar in die Hauptverhandlung über und verurteilte den u.a. wegen gefährlicher Körperverletzung Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zugleich hob das Amtsgericht den Sitzungshaftbefehl auf. Im Kern begründet der Sächsische Verfassungsgerichtshof seine Entscheidung damit, dass das Amtsgericht erkennbar allein deshalb darauf verzichtet hat, als mildere Maßnahme vor dem Erlass des Sicherungshaftbefehls die polizeiliche Zuführung des Angeklagten zum nächsten Verhandlungstermin anzuordnen, weil für die Zuführung diesenfalls wegen der Lage des Wohnorts des Angeklagten die Berliner Polizei zuständig gewesen wäre." Namens und im Auftrag der Sächsischen Staatsregierung beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: Hat die Staatsregierung die besagte Entscheidung des Sächsischen Verfassungs-gerichtshofes vom 26. März 2015 - Vf. 26-IV-14 - bereits dahingehend geprüft, welche Organisationsanforderungen sich hieraus bei der Entwicklung einer Anwendungspraxis des § 230 Abs. 2 StPO gemäß den Forderungen des Verfassungsgerichtshofes durch die Strafgerichte im Freistaat Sachsen ergeben und welche Erkenntnisse hat die Staatsregierung zur derzeitigen Situation der Realisierung von strafgerichtlichen Vorführungsbefehlen nach § 230 Abs. 2 StPO durch die ersuchten Polizeidienststellen mit Sitz in Sachsen zum einen, in anderen Bundesländern zum anderen? Die nach § 36 Abs. 2 S. 1 StPO für die Vollstreckung des gerichtlichen Vorführungsbefehls zuständige Staatsanwaltschaft bedient sich zur Vollstreckung der Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft ihres Bezirkes (§ 152 Abs. 1 GVG). Die Organisation und Realisierung der bundeslandinternen und der bundeslandübergreifenden Vorführungen obliegt den Polizeibehörden der Länder und beruht auf dem allgemeinen Grundsatz gegenseitiger Amtshilfe. Frage 1 Seite 2 von 8 STAATSMINISTERIUM DER JUSTIZ Freistaat SACHSEN Die Realisierung strafgerichtlicher Vorführungsbefehle wird statistisch nicht erfasst. Es wird weder erfasst, in wie vielen Fällen Vorführungsbefehle nach § 230 Abs. 2 StPO erlassen werden, noch in welchen Fällen ein Vorführungsersuchen an welchem Ort erfolgreich umgesetzt wurde. Probleme bei der Realisierung von innersächsischen Vorführungsersuchen durch die sächsischen Polizeidienststellen sind nicht bekannt. Soweit Angeklagte aus anderen Bundesländern vorgeführt wurden, sind der Staatsregierung ebenfalls keine grundsätzlichen oder strukturellen Schwierigkeiten im Bereich der Landespolizeibehörden bekannt. Entsprechend ergibt sich aus der genannten Entscheidung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes kein Handlungsbedarf. Welche Schlussfolgerungen zieht die Staatsregierung aus der in den Entschei-dungsgründen ausgeführten Rechtsauffassung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes, wonach allein aus "unterschiedliche(n) örtliche(n) Zuständigkeiten der Polizei wegen der Lage des Wohnorts des Angeklagten und des Gerichtsorts in verschiedenen Bundesländern" eine 'grundsätzliche' Unmöglichkeit einer direkten Vorführung" des ausgebliebenen Angeklagten zur nächsten Verhandlung nicht abgeleitet werden kann und dass sich "Organisationsmängel" in der länderübergrei-fenden Abstimmung und ggf. Kooperation der Polizeibehörden bei der Realisierung von Zuführungsanordnungen bei Erlass des Haftbefehls nicht zu Lasten des Betroffenen auswirken dürfen (Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, Beschluss vom 26. März 2015 - Vf. 26-IV-14 Randnummer 15) Der Entscheidung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes kann nach Auffassung der Staatsregierung nicht entnommen werden, dass bei der länderübergreifenden Vorführung auf Grund von nach § 230 Abs. 2 StPO erlassenen Vorführungsbefehlen Organisationsmängel bestünden. Der Verfassungsgerichtshof sieht vielmehr in den angefochtenen Entscheidungen der Strafgerichte einen Darlegungsmangel hinsichtlich der Realisierbarkeit der konkreten Vorführung im Kontext einer länderübergreifenden Kooperation von Polizeibehörden. Die Feststellung, dass die länderübergreifende Kooperation mangelhaft organisiert sei, hat der Verfassungsgerichtshof aber ersichtlich nicht getroffen. Schlussfolgerungen im Sinne eines Handlungsbedarfs wurden daher seitens der Staatsregierung angesichts der entschiedenen Einzelfälle aus der Entscheidung nicht gezogen. Frage 2: Seite 3 von 8 STAATS1VI1N1STER1U1VI DER JUSTIZ Freistaat SACHSEN Die sächsischen Staatsanwaltschaften werden auch weiterhin in den Fällen einer bundes-landübergreifenden Vollstreckung einen Antrag auf Erlass eines Vorführungsbefehls stellen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür erfüllt sind. Das Gericht ist hieran gemäß § 206 StPO nicht gebunden. Der zuständige Richter entscheidet hierüber in richterlicher Unabhängigkeit und beurteilt im jeweiligen Einzelfall, ob die Voraussetzungen für einen Vorführungsbefehl oder für einen Sitzungshaftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO gegeben sind. Frage 3: In welcher Weise ist bislang angesichts der vom Sächsischen Verfassungsgerichtshof hervorgehobenen Rechtslage, wonach § 230 Abs. 2 StPO als Mittel zur Sicherstellung der Anwesenheit des ausgebliebenen Angeklagten im neuen Verhandlungstermin in erster Linie die Anordnung der (polizeilichen) Vorführung vorsieht, durch länderübergreifende Absprachen, Abstimmungen, etwaige Kooperationsvereinbarungen der polizeilichen bzw. justiziellen Behörden gesichert, dass entsprechenden vorgreifenden Vorführungsersuchen von Strafgerichten in aller Regel termingerecht entsprochen wird? Länderübergreifende Absprachen, Abstimmungen oder etwaige Kooperationsvereinbarungen der polizeilichen oder justiziellen Behörden zur Realisierung von Vorführungsbefehlen gibt es nicht. Es gilt der allgemeine Grundsatz der gegenseitigen polizeilichen Amtshilfe im Bereich der Strafverfolgungstätigkeit auch im Rahmen des § 230 Abs. 2 StPO. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. Frage 4: Hat die Staatsregierung Erkenntnisse, in wie vielen Fällen jährlich von Strafgerichten im Freistaat Sachsen anberaumte Verhandlungstermine mit teils auch mehreren Angeklagten und einer Vielzahl von Zeugen ausfallen, weil der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht zur Verhandlung erschienen ist und gibt es Erkenntnisse, in wie vielen Fällen jährlich der dann unter Anordnung der polizeilichen Zuführung anberaumte neue Verhandlungstermin wiederum "platzte", weil die polizeiliche Vorführung nicht gelingt bzw. nicht realisiert werden konnte? Seite 4 von 8 STAATSM1N1STER1UM DER JUSTIZ Freistaat SACHSEN Die Frage kann nicht vollständig beantwortet werden. Eine gesonderte statistische Erfassung der erfragten Informationen erfolgt weder bei den Staatsanwaltschaften noch bei den Gerichten. Die vollständige Beantwortung der Frage würde daher die Durchsicht und händische Auswertung der Akten zu allen Strafverfahren, die in einem Jahr durch die sächsischen Gerichte erledigt worden sind, erfordern. Beispielhaft sei erwähnt, dass im Jahr 2014 44.331 Strafverfahren in Sachsen gerichtlich erledigt wurden. Eine solche umfangreiche Auswertung ist im Hinblick auf die große Anzahl der Verfahren innerhalb der Antwortfrist mit zumutbarem Aufwand ohne Verlust der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege nicht zu leisten. Gemäß Artikel 51 Absatz 1 Satz 1 der Verfassung des Freistaates Sachsen ist die Staatsregierung verpflichtet, Fragen einzelner Abgeordneter oder parlamentarische Anfragen nach bestem Wissen unverzüglich und vollständig zu beantworten. Bestem Wissen entspricht die Antwort, wenn das Wissen, das bei der Staatsregierung präsent ist, sowie jene Informationen, die innerhalb der Antwortfrist mit zumutbarem Aufwand zumindest in ihren Geschäftsbereichen eingeholt werden können, mitgeteilt wird (SächsVerfGH, Urteil vom 16. April 1998, Vf. 19-1-97). Vollständig ist die Antwort, wenn alle Informationen, über die die Staatsregierung verfügt oder mit zumutbarem Aufwand verfügen könnte, lückenlos mitgeteilt werden (SächsVerfGH, a. a. O.). Zur Vorbereitung der Beantwortung ist eine umfassende Sachverhaltsermittlung vorzunehmen. Diese Sachverhaltsermittlung ist jedoch im Hinblick auf die zeitlichen Vorgaben der Geschäftsordnung des Sächsischen Landtages beschränkt. Bei der Sachverhaltsermittlung kann daher nicht in jedem Fall das Ausschöpfen jeder denkbaren Erkenntnisquelle verlangt werden (SächsVerfGH, Urteil vom 16. April 1998, a. a. O.). Zur vollständigen Beantwortung der Frage wären - wie oben dargestellt - umfangreiche und zeitaufwendige Recherchen in den Aktenbeständen der sächsischen Gerichte und Staatsanwaltschaften erforderlich. Dabei ist der Zeitaufwand für das Ziehen der Akten aus den Geschäftsstellen und staatsanwaltschaftlichen Archiven, der Aufwand zur Beiziehung versendeter Akten, z. B. von Verteidigern, Gerichten, Sachverständigen und Polizei, das Auswerten der Akten und die schriftliche Dokumentation des gefundenen Ergebnisses zu berücksichtigen. Die Staatsregierung kam daher bei der vorzunehmenden Abwägung Seite 5 von 8 STAATSTVI1NISTER1UTVJ DER JUSTIZ Freistaat SACHSEN zwischen dem parlamentarischen Fragerecht einerseits und der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Staatsregierung sowie der ihr nachgeordneten Ermittlungsbehörden andererseits zu dem Ergebnis, dass eine Beantwortung der Frage auch unter Berücksichtigung des hohen Rangs des parlamentarischen Fragerechts unverhältnismäßig und ohne erhebliche Einschränkung der Strafrechtspflege nicht zu leisten ist. Einen gewissen Anhaltspunkt für die Häufigkeit von ausfallenden Hauptverhandlungen aufgrund unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten kann die statistische Erfassung zu den Vorführungen eines Verfahrensbeteiligten, der nicht in Haft ist, sowie zu den nach § 408a StPO nach Eröffnung des Hauptverfahrens ergangenen Strafbefehlen geben. Es ist dabei jedoch darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich der Vorführung eines sich nicht in Haft befindenden Verfahrensbeteiligten statistisch nicht nur Vorführungen des Angeklagten aufgrund eines Vorführungsbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO erfasst werden, sondern auch Vorführungen nach anderen Vorschriften sowie anderer Verfahrensbeteiligter. Ein Strafbefehlsantrag nach § 408a StPO kann unter den gesetzlichen Voraussetzungen nach Eröffnung des Hauptverfahrens durch die Staatsanwaltschaft gestellt werden, wenn u.a. der Durchführung einer Hauptverhandlung das Ausbleiben oder die Abwesenheit des Angeklagten oder ein anderer wichtiger Grund entgegensteht. Demnach werden statistisch auch Strafbefehle nach § 408a StPO erfasst, die ergangen sind, weil der Durchführung der Hauptverhandlung "ein anderer wichtiger Grund" entgegengestanden hat. Zudem kann der Strafbefehl nach § 408a StPO auch außerhalb der Hauptverhandlung ergehen, so dass in diesen Fällen kein Ausbleiben des Angeklagten in der Verhandlung zugrunde liegen kann. Aus den dargestellten Gründen sind die nachfolgend aufgeführten statistischen Zahlen zur Beantwortung der gestellten Frage nur bedingt aussagekräftig. Seite 6 von 8 STAATSMINISTERIUM DER JUSTIZ k-J..... I Freistaat HP SACHSEIN Jahr 2013: Gericht Vorführung eines Verfahrensbeteiligten, der nicht in Haft ist Strafbefehle nach § 408a StPO (Zuständigkeit nur des Amtsgerichts) Amtsgerichte 219 1.907 Landgericht, 1. Instanz 6 Landgericht, 2. Instanz 12 Jahr 2014: Gericht Vorführung eines Verfahrensbeteiligten, der nicht in Haft ist Strafbefehle nach § 408a StPO (Zuständigkeit nur des Amtsgerichts) Amtsgerichte 519 1.976 Landgericht, 1. Instanz 36 Landgericht, 2. Instanz 17 5. In welcher Weise wird bislang das Scheitern vom verfahrensführenden Richter ordnungsgemäß vorbereiteter gerichtlicher Hauptverhandlungen in Strafsachen wegen des unentschuldigten Ausbleibens von Angeklagten oder ggf. auch unverzichtbarer Zeugen bei der Bewertung der Verfahrenserledigungen durch die Gerichte berücksichtigt? Wenn der Hauptverhandlung für längere Zeit die Abwesenheit des Angeschuldigten oder ein anderes in seiner Person liegendes Hindernis entgegensteht, kann das zuständige Gericht das Verfahren nach § 205 Satz 1 StPO vorläufig einstellen. Statistisch Seite 7 von 8 STAATSMINISTERIUM DER JUSTIZ Freistaat SACHSEN abgeschlossen wird das entsprechende Strafverfahren mit dem Vorliegen des Einstellungsbeschlusses. Wann ein Beschluss nach § 205 Satz 1 StPO gefasst wird, steht im richterlichen Ermessen im Rahmen der Unabhängigkeit. Die statistische Erfassung einer Verfahrensbeendigung folgt damit der jeweiligen Entscheidung des Gerichts nach Art und Rechtsgrundlage. Eine eigenständige Bewertung im Sinne der Fragestellung findet nicht statt. Mit freundlichen Grüßen Seite 8 von 8