1 SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 18/2147 18. Wahlperiode 2014-07-22 Kleine Anfrage des Abgeordneten Jens-Christian Magnussen (CDU) und Antwort der Landesregierung - Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume Rückstellungen für Kernkraftwerke in Schleswig-Holstein 1. Welche konkreten Anhaltspunkte hat die Landesregierung für die drohende Insolvenz welcher Kernkraftwerksbetreibergesellschaft in Schleswig-Holstein, die eine Bundesratsinitiative zur Sicherung der Rückstellungen erforderlich gemacht haben? Die Insolvenzsicherung der gebildeten Rückstellungen betrifft lediglich einen Aspekt der Bundesratsinitiative, mit der zunächst grundlegend überhaupt mehr Transparenz erreicht und sichergestellt werden soll, dass die Rückstellungen ihrer Höhe nach angemessen sind. Der Landesregierung liegen insoweit aktuell auch keine Anhaltspunkte für die drohende Insolvenz einer Betreibergesellschaft vor. Der jüngst von den Energiekonzernen EnBW, E.ON und RWE lancierte Vorschlag zur Einbringung ihres deutschen Atomgeschäfts in eine öffentlich-rechtliche Stiftung des Bundes zeigt dessen ungeachtet, dass die Betreiber selbst Handlungsbedarf sehen, um die Finanzierung der Stilllegung einschließlich des Rückbaus von Kernkraftwerken und die Entsorgung der radioaktiven Abfälle sicherzustellen. Die Langfristigkeit dieser Aufgabe erfordert auch nach Auffassung der Landesregierung eine Reform des bislang praktizierten Systems der Rückstellungsbildung, nicht zuletzt mit Blick auf die jüngst zu verzeichnenden Gewinneinbrüche der großen deutschen Energieversorger und die Erfahrungen der Finanzkrise, die selbst vermeintlich krisenfeste Großbanken erfasst hat. 2. Falls die Landesregierung über Anhaltspunkte für die drohende Insolvenz einer oder mehrerer Kernkraftwerksbetreibergesellschaften in SchleswigHolstein verfügt: Wieso wurde hierüber nicht vorher oder mindestens parallel zu der Bundesratsinitiative der Schleswig-Holsteinische Landtag informiert? 2 Es geht bei der Bundesratsinitiative gerade darum, auch ohne konkrete Anhaltspunkte für drohende Insolvenz geeignete Vorkehrungen zu treffen, die die Verfügbarkeit der Rückstellungen gewährleisten. Mit solchen Vorkehrungen zu warten, bis konkrete Anhaltspunkte für drohende Insolvenz vorliegen, wäre fahrlässig. 3. Hält die Landesregierung es für angemessen, dass der SchleswigHolsteinische Landtag über die Bundesratsinitiative zu den Rückstellungen bisher ausschließlich über die Medien informiert wurde? Falls ja, wieso? Die Bundesratsinitiative knüpft an einen eigenen Beschluss des SchleswigHolsteinischen Landtages vom 24.04.2013 (LT-Drucksache 18/751 (neu)) an, mit dem dieser gefordert hat, die von den Betreibern gebildeten Rückstellungen für Stilllegung und Entsorgung sollten unter Wahrung angemessener Fristen in einen öffentlich -rechtlichen Fonds verlagert werden, um sie vor dem Insolvenzrisiko zu schützen. Mit Schreiben vom 1. Juli 2014 wurde der Schleswig-Holsteinische Landtag über die Bundesratsinitiative informiert. 4. Wie ist aktuell die Frage der Haftung bei den Kernkraftwerksbetreibergesellschaften in Schleswig-Holstein geregelt? (Bitte einzeln und vollständig erläutern .) Die Frage der Haftung ist zu unterscheiden von der Frage der Rückstellungsbildung für Stilllegung und Entsorgung. Die atomrechtliche Haftung betrifft die Einstandspflicht der Betreibergesellschaften für die von ihren Anlagen verursachten Schäden. Diese ist verschuldensunabhängig (Gefährdungshaftung) und gemäß § 31 Abs. 1 Atomgesetz (AtG) summenmäßig unbegrenzt. Art, Umfang und Höhe der hierfür zu treffenden Vorsorge (Deckungsvorsorge) werden von der Reaktorsicherheitsbehörde gemäß § 13 AtG i.V.m. der Atomrechtlichen Deckungsvorsorge-Verordnung (AtDeckV ) festgesetzt. Inhaber der atomrechtlichen Genehmigungen für die Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel sind einerseits die Kernkraftwerk Brunsbüttel GmbH & Co. oHG und andererseits die Kernkraftwerk Krümmel GmbH & Co. oHG, beide Tochtergesellschaften im Vattenfallkonzern. Atomrechtlich treffen alle Pflichten aus diesen Genehmigungen die jeweilige Gesellschaft. Gleiches gilt bezüglich der nach dem Atomrecht für beide Kernkraftwerke hinsichtlich der Vorsorge für die Erfüllung gesetzlicher Schadensersatzverpflichtungen jeweils festgesetzten Deckungsvorsorge in Höhe der gesetzlich zulässigen Höchstsumme von jeweils 2,5 Mrd. Euro. Der entsprechende Nachweis ist von den Genehmigungsinhaberinnen entsprechend behördlicher Festsetzungen und gesetzlicher Regelungen durch die nach dem Atomausstiegsgesetz im Jahr 2002 zugelassene Kombination von einerseits Versicherungsnachweis und andererseits Solidarvereinbarung der vier Kernkraftwerke betreibenden Energieversorgungsunternehmen erbracht worden. Die Rückstellungen betreffen die handelsrechtliche Pflicht eines Unternehmens, in seiner Bilanz Verbindlichkeiten zu erfassen, die hinsichtlich ihrer Höhe oder des Zeitpunkts ihrer Entstehung ungewiss sind. Wie die Landesregierung bereits zu Frage 2 3 der Kleinen Anfrage Drucksache 17/1961 ausgeführt hat, enthält das Atomgesetz selbst keine ausdrückliche Verpflichtung der Kernkraftwerksbetreiber zur Bildung einer solchen finanziellen Stilllegungsvorsorge. Die Landesregierung hat in ihrer Antwort weiter ausgeführt: „Die Rückstellungsbildung erfolgt vielmehr auf Basis handelsrechtlicher Pflichten; Rechtsgrundlage ist § 249 Abs. 1 des Handelsgesetzbuches (HGB). In steuerrechtlicher Hinsicht richtet sich der Ansatz von Rückstellungen gem. § 5 Absatz 1 EStG nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (vgl. insbesondere §§ 246, 249, 252 HGB). Ferner ist steuerrechtlich zu berücksichtigen, dass Verlustrückstellungen in der Steuerbilanz nicht mehr gebildet werden dürfen (§ 5 Absatz 4a EStG). § 5 Absatz 4b EStG verbietet zudem Rückstellungen für Anschaffungs - bzw. Herstellungskosten. § 6 Absatz 1 Nummer 3a EStG regelt die Rückstellungsbewertung “. 5. Welche Maßnahmen hat die Landesregierung – abgesehen von einer Bundesratsinitiative – zur Sicherung von Rückstellungen 5.1 ergriffen oder 5.2 in Vorbereitung? Andere Maßnahmen als eine Bundesratsinitiative stehen der Landesregierung nicht zur Verfügung. Die Verpflichtung zur Sicherstellung ausreichender finanzieller Mittel zur Erfüllung sämtlicher atomrechtlicher Verpflichtungen obliegt den Betreibern der Kernkraftwerke und nicht der Landesregierung. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen obliegen dem Bundesgesetzgeber. 6. In welcher Form und wie oft werden aktuell Höhe und Vorhandensein der Rückstellungen der Kernkraftwerksbetreiber gegenüber welchen Behörden dokumentiert? Die Rückstellungen der Kernkraftwerksbetreiber werden wie in jedem anderen prüfungspflichtigen Unternehmen in anderen Wirtschaftsbereichen auch zunächst von Wirtschaftsprüfern und nach Erstellung der Steuerbilanz von der zuständigen Finanzbehörde überprüft. 7. Hat die Landesregierung zur Ermittlung von Höhe und Vorhandensein der Rückstellungen der Kernkraftwerksbetreiber auch andere, einfachere Mittel als eine Bundesratsinitiative und welche ggf.? Falls ja, warum wurde dennoch der Weg der Bundesratsinitiative mit entsprechender medialer Begleitung gewählt? Nein. Andere, einfachere Mittel stehen der Landesregierung nicht zur Verfügung. In den „Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 2010 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes Weitere Prüfungsergebnisse“(BT-Drucksache 17/5350, dort Seiten 7/8) heißt es u.a.: 4 „Die Finanzverwaltung soll die Rückstellungen bei den Betriebsprüfungen kontrollieren , damit eine zutreffende Besteuerung der Unternehmen sichergestellt wird. Den Betriebsprüfern fehlt jedoch das technische Fachwissen, um die Rückstellungswerte über eine reine Plausibilitätsprüfung hinaus zu untersuchen. Die Einbeziehung des Bundesamtes für Strahlenschutz oder anderer Fachbehörden als Sachverständige hierfür ist aufgrund des Steuergeheimnisses nicht möglich. Die entscheidenden Gutachten , die der Bildung der Rückstellungen zugrunde lagen, werden wegen fehlender Auskunftsrechte nicht ausgetauscht. Die maßgeblichen Annahmen bei der Bildung der Rückstellungen muss die Betriebsprüfung weitgehend ungeprüft übernehmen. Sowohl zu hohe als auch zu niedrige Rückstellungen bringen erhebliche Risiken für den Haushalt mit sich. Sind die Rückstellungen zu niedrig, wird möglicherweise der Bund in Anspruch genommen. Sind sie zu hoch, führt die steuerliche Begünstigung der Rückstellungen zu Mindereinnahmen. Der Bundesrechnungshof hält eine bessere staatliche Prüfung der Rückstellungen und eine umfassende Information von Parlament und Regierung für geboten. Aus seiner Sicht muss die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Behörden deutlich verbessert und intensiviert werden. Die hierfür erforderlichen Auskunftsrechte sind zu schaffen. Daneben sollte geprüft werden, wie die Empfehlung der Europäischen Kommission umgesetzt werden kann, eine der schon betrauten Stellen mit Fragen der Stilllegungs- und Rückbaukosten zu befassen. Eine eigene Behörde ist hierfür nicht erforderlich.“ Mit diesen Ausführungen des Bundesrechnungshofs stimmt die schleswigholsteinische Landesregierung überein. Entsprechende Maßnahmen wurden auf Bundesebene allerdings bisher nicht getroffen. Daher ist die Bundesratsinitiative erforderlich . 8. Hat sich die Landesregierung vor dem Beschluss über die Bundesratsinitiative bei den Kernkraftwerksbetreibergesellschaften um Auskunft über Höhe und Vorhandensein der Rückstellungen bemüht und? Falls ja, mit welchem Ergebnis? Falls nein, bitte begründen? Die Höhe der Rückstellungen ergibt sich aus den Bilanzen der jeweiligen Unternehmen . Ob die Rückstellungen ausreichend hoch sind und ob sie erforderlichenfalls zur Verfügung stehen, lässt sich nach gegenwärtiger Bundesgesetzeslage nicht ermitteln. 9. In Schleswig-Holstein läuft derzeit nur für das Kernkraftwerk Brunsbüttel ein Verfahren auf Stilllegung und Rückbau – welche Anhaltspunkte hat die Landesregierung dafür, dass die hierfür gebildeten Rückstellungen nicht ausreichend sein oder nicht zur Verfügung stehen könnten? Falls die Landesregierung hierfür Anhaltspunkte hat, welche Schritte wurden mit welchem Ergebnis durch die Landesregierung eingeleitet zur Sicherstellung der Rückstellungen gegenüber 9.1 der Betreibergesellschaft bzw. 9.2 den Eigentümern der Betreibergesellschaft, Vattenfall und E.ON? 5 Die Landesregierung hat in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage Drucksache 17/1961 ausgeführt, sie habe „derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass die Höhe der Rückstellungen für die schleswig-holsteinischen Kernkraftwerke nicht ausreichend sein könnte .“ Hieran hat sich nichts geändert. 10. In den Medien wurde unter Berufung auf den Energiewendeminister das Unternehmen Vattenfall namentlich als von der „Pleite“ gefährdet genannt – welche konkreten Anhaltspunkte hat die Landesregierung für eine drohende oder bevorstehende „Pleite“ von Vattenfall? Zu keinem Zeitpunkt haben Vertreter der Landesregierung Vattenfall als von der „Pleite“ gefährdet bezeichnet. 11. Ist die Gewährleistung der Haftung durch Vattenfall als schwedisches Unternehmen für die in seinem (anteiligen) Besitz in Schleswig-Holstein bestehenden Kernkraftwerke vergleichbar mit beispielsweise dem Unternehmen E.ON? (Bitte begründen.) Wie sich aus dem Bericht des MELUR an den Wirtschaftsausschuss des Landtages zum TOP "Gespräche der Landesregierung im Zusammenhang mit der Änderung der Vattenfall Konzernstruktur" aus Oktober 2012 ergibt, wurde seinerzeit die Vattenfall Europe AG auf die Vattenfall GmbH verschmolzen, wodurch automatisch die Vattenfall GmbH als Rechtsnachfolgerin alle Rechte und Pflichten der Vattenfall Europe AG übernommen hat. Faktisch hat dieser gesellschaftsrechtliche Verschmelzungsprozess zur Folge, dass der im Jahr 2008 erstmals für die Dauer von fünf Jahren geschlossene Beherrschungsvertrag zwischen dem schwedischen Mutterkonzern Vattenfall AB und der deutschen Vattenfall Europe AG und eine daraus resultierende Haftung des schwedischen Mutterkonzerns Vattenfall AB für die in Deutschland betriebenen Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel gesellschaftsrechtlich beendet wurde. Mit anderen Worten: Der schwedische Staatskonzern hat sich damit faktisch aus seiner Rolle als Mithaftender für die Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel zurückgezogen. Im o.g. Bericht für den Wirtschaftsausschuss wurde dargelegt, dass und in welchem Umfang die Reaktorsicherheitsbehörde diesen Vorgang seinerzeit atomrechtlich überprüft hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Verschmelzung nicht gerade eine vertrauensbildende Maßnahme Vattenfalls darstellt und politisch zu missbilligen ist, atomrechtlich hat die Prüfung indes keine Beanstandung ergeben. Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass dieses Thema auch auf Bundesebene Gegenstand parlamentarischer Befassung gewesen ist und die Parlamentarische Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser schon am 27.11.2009 hierzu geantwortet hat: "Würde der Rechtszustand wiederhergestellt, der zwischen der Vattenfall AB und der Vattenfall Europe AG vor Abschluss des Beherrschungsvertrages im Juni 2008 bestand , hätte dies auf die Berechtigung der Vattenfall Europe AG bzw. ihrer Tochtergesellschaften zum Betrieb von Kernkraftwerken in Deutschland keine Auswirkungen .'" 6 Da bei der E.ON SE ein vergleichbarer gesellschaftsrechtlicher Verschmelzungsprozess nicht erfolgt ist, ist die gesellschaftsrechtliche Situation nicht mit dem schwedischen Staatskonzern Vattenfall vergleichbar. 12. Welche Kenntnis hat die Landesregierung hinsichtlich 12.1 der Höhe der in Deutschland gebildeten Rückstellungen für Stilllegung und Rückbau der Kernkraftwerke, 12.2 der voraussichtlichen Kosten für Stilllegung und Rückbau der deutschen Kernkraftwerke, 12.3 der Höhe der gebildeten Rückstellungen für Stilllegung und Rückbau der Kernkraftwerke in Schleswig-Holstein, 12.4 der voraussichtlichen Kosten für Stilllegung und Rückbau der Kernkraftwerke in Schleswig-Holstein? Zu 12.1: Nach Angaben der Bundesregierung haben die Unternehmen zu den Bilanzstichtagen im Jahr 2013 in den Handelsbilanzen nukleare Rückstellungen in Höhe von ca. 36 Milliarden Euro gebildet. Zu 12.3. Aus den Geschäftsberichten der schleswig-holsteinischen Kernkraftwerksbetreibergesellschaften ergeben sich aktuell folgende Rückstellungen: Kernkraftwerk Brunsbüttel: 1,7 Milliarden Euro Kernkraftwerk Krümmel: 1,8 Milliarden Euro Kernkraftwerk Brokdorf: 2,1 Milliarden Euro. Zu 12.2 und 12.4: Die Gesamthöhe der für Stilllegung und Rückbau sowie insbesondere für Entsorgung und Endlagerung zu erwartenden Kosten ist von einer Vielzahl von Einflussfaktoren abhängig, u.a. von unternehmerischen Entscheidungen in Bezug auf Stilllegungsvarianten und von der Auswahl und der Errichtung eines Bundesendlagers. Seriöse Kostenprognosen sind deshalb nicht möglich.