SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 18/2286 18. Wahlperiode 2014-10-22 Kleine Anfrage des Abgeordneten Jens-Christian Magnussen (CDU) und Antwort der Landesregierung - Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume Nicht radioaktive Abfälle aus den Schleswig-Holsteinischen Kernkraftwerken Vorbemerkung der Landesregierung Zum besseren Verständnis der Problematik werden den Ausführungen folgende grundsätzliche Anmerkungen zur Freigabe von radioaktiven Stoffen vorangestellt: Abhängig vom Messverfahren, der Messordnung und des Messortes wird man in der Regel überall physikalische, natürliche Radioaktivität messen können. Zur Abgrenzung wurden vom Gesetzgeber Regelungen im Atomgesetz (AtG) und in der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) geschaffen, nach denen (physikalisch) radioaktive Stoffe keine radioaktiven Stoffe im Sinne des Atomgesetzes sind. Stoffe, bei denen ggf. eine messbare , physikalische Aktivität nachweisbar ist, diese allerdings so niedrig ist, dass sie als unbedenklich einzustufen ist, bedürfen demnach keiner Überwachung. Im Zuge der rechtlichen Umsetzung kommt zur Feststellung der Unbedenklichkeit das 10 µSv-Konzept (auch „de minimis-Prinzip“) zur Anwendung (10 µSv = 10-6 Sievert, 10-6 Sv). Zum Vergleich können folgende Beispiele herangezogen werden: Die effektive Jahresdosis aus natürlicher Radioaktivität einer Einzelperson in Deutschland entspricht ca. 2,4 mSv, also dem 240-fachen der gesetzlichen Unbedenklichkeitsgrenze von 10 µSv/a. Ein USA-Flug und retour entspricht ca. 100 – 200 µSv; ein Brustkorb-Röntgenbild ca. 200 µSv und das Rauchen von ca. 20 Zigaretten am Tag: ca. 8800 µSv/Jahr (vgl. Übersicht Drucksache 18/2286 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode Forum Medizin und Energie FME, abrufbar unter: http://www.fme.ch/cms2/). In einem Kernkraftwerk werden z.B. die Stoffe und Gegenstände im Kontrollbereich per se als kontaminiert eingestuft und müssen freigegeben werden, um aus der Atomaufsicht entlassen zu werden. Die Anforderungen, wann ein Stoff als nicht radioaktiv angesehen und freigegeben werden kann, sind in § 29 Absatz 2 StrlSchV geregelt: Es ist die Freigabe zu erteilen, wenn für Einzelpersonen der Bevölkerung nur eine effektive Dosis im Bereich von 10 µSv im Kalenderjahr zu erwarten ist. 1.) Wie gewichtig schätzt die Landesregierung die Bedeutung der Frage der Behandlung (Wiederverwendung oder Deponierung) von nicht radioaktiven Abfällen aus schleswig-holsteinischen Kernkraftwerken im Betrieb bzw. bei der Stilllegung und einem späteren Rückbau solcher Anlagen ein? Die Entlassung radioaktiver Stoffe aus dem Regelungsbereich des Atomrechts im Wege der uneingeschränkten Freigabe (z.B. zur uneingeschränkten Verwendung, Handhabung, Wiederverwendung) und der eingeschränkten Freigabe (z.B. zur Deponierung) ist im Sinne eines möglichst zügigen Abbaus der Kernkraftwerke von großer Bedeutung (zur Kategorisierung siehe auch Antwort zu Frage 4). 2.) Mit welchen Mengen an nicht radioaktiven Abfällen rechnet die Landesregierung ungefähr je beim Abbau der drei schleswig-holsteinischen Kernkraftwerke, Brunsbüttel, Krümmel und Brokdorf? Die Mengen, die bei der eingeschränkten und uneingeschränkten Freigabe im Rahmen der Stilllegung und des Abbaus anfallen, können zum jetzigen Zeitpunkt nur sehr grob abgeschätzt werden. Sie hängen stark ab von dem tatsächlichen, während der Abbaumaßnahmen vorgefundenen Kontaminationsniveau und dem Erfolg der jeweiligen Dekontaminationsmaßnahmen. Bei Siedewasserreaktoren wie sie in Schleswig-Holstein zur Stilllegung anstehen, kann man grob überschlägig mit Gesamtmassen jeweils von etwa 300.000 Tonnen bis etwa 330.000 Tonnen rechnen. Je nachdem, ob ein vollständiger Abbau oder eine Weiternutzung der freigegebenen Gebäude geplant ist, kann mit weniger abzutransportierendem Bauschutt zu rechnen sein. Wenn man das im Abbau befindliche Kernkraftwerk Stade als Beispiel nimmt, kann man als Gesamtmasse für einen Druckwasserreaktor in etwa mit derselben Größenordnung rechnen. Über 95% dieser Gesamtmasse kann i.A. eingeschränkt und uneingeschränkt freigegeben werden; der weitaus größte Teil davon wiederum entfällt auf Gebäude bzw. Beton / Bauschutt. 3.) Wie stehen diese Abfälle mengenmäßig im Verhältnis zu den ebenfalls anfallenden und angefallenen stark sowie schwach- und mittelradioaktiven Abfällen? Auch die Mengen an bei dem Abbau entstehenden radioaktiven Abfällen können Drucksache 18/2286 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode zum jetzigen Zeitpunkt nur sehr grob abgeschätzt werden. Die Erfahrungen zeigen , dass man von ca. 1,5 bis etwa 3 % ausgehen kann. Damit wird der weitaus überwiegende Teil des Materials freigegeben und nicht als radioaktiver Abfall entsorgt. 4.) Welche weitere Behandlung verlangt oder erlaubt das geltende Recht für nicht radioaktive Abfälle (Wiederverwendung bzw. Deponierung)? Welche Klassifizierungen gibt es und wie unterscheiden sich diese konkret? Gemäß § 29 StrlSchV gibt es zwei Freigabearten, die uneingeschränkte Freigabe (von festen und flüssigen Stoffen, Bauschutt und Bodenaushub, Bodenflächen, Gebäuden zur Wieder- und Weiterverwendung) und die sogenannte eingeschränkte Freigabe (feste Stoffe zur Beseitigung auf Deponien, Stoffe zur Beseitigung in Verbrennungsanlagen, Gebäuden zum Abriss, Metallschrott zur Rezyklierung ). In der Strahlenschutzverordnung sind in § 29 StrlSchV sowie in den dazugehörigen Anlagen die an die jeweiligen Freigabepfade zu stellenden, wesentlichen Randbedingungen aufgeführt. Die Freigabe erteilt die zuständige Atomaufsichtsbehörde . Nach Freigabe der Stoffe sind diese (im Sinne des Gesetzes) keine radioaktiven Stoffe mehr und unterliegen daher auch nicht mehr dem Regelungsbereich des Atomrechts. An dessen Stelle tritt das Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht. Besondere Beachtung erfordert die eingeschränkte Freigabe zur Beseitigung auf Deponien oder in Verbrennungsanlagen. Bei der eingeschränkten Freigabe unterliegen die betreffenden Stoffe nach § 29 Absatz 2 StrlSchV einer verbindlichen Zweckbindung (z.B. Freigabe zur Beseitigung auf Deponien, in einer Verbrennungsanlage ). Daher ist vor der Freigabe die Frage zu klären, ob dieser Entsorgungsweg auch aus abfallrechtlicher Sicht gegangen werden kann und eine entsprechende ordnungsgemäße Entsorgung gewährleistet ist. Hierfür ist insbesondere das abfallrechtliche Einvernehmen mit der Abfallbehörde gemäß § 29 Absatz 5 StrlSchV erforderlich. 5.) Wie erfolgt die gesicherte Feststellung, ob ein Abfall nicht radioaktiv ist? Die Feststellung, wann das 10µSv-Konzept eingehalten ist und ein Abfall nicht radioaktiv ist, erfolgt in Schleswig-Holstein anhand von unterschiedlichen, umfangreichen Messungen allen Materials auf Basis eines von der Atomaufsicht erteilten Freigabebescheids gemäß § 29 StrlSchV. Hierin sind Verfahren festgelegt, die anhand eines Freigabeablaufplanes vom Antragsteller abgearbeitet und dokumentiert werden. Unabhängige Sachverständige kontrollieren dies stichprobenhaft . Nachdem eine Charge von freigemessenem und freigebbarem Material zusammengestellt ist, wird die Freigabe bei der Atomaufsicht beantragt. Die zugezogenen unabhängigen Sachverständigen erstellen – i.A. auch auf Basis eigener Messungen – dazu einen Prüfbericht bzw. eine Stellungnahme und leiten diese der Atomaufsicht zu. Dies ist dann die Basis für die Freigabeentscheidung. Nur wenn die Freigabewerte anhand von Messungen als eingehalten bestätigt Drucksache 18/2286 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode werden und alle weiteren Anforderungen erfüllt sind, kann eine Freigabe, mithin die Entlassung als nicht radioaktiver Stoff, erteilt werden. 6.) Ist es richtig, dass nicht radioaktive Abfälle aus Kernkraftwerken in Schles- wig-Holstein nicht erst im Zuge von Stilllegung und Rückbau, sondern auch bereits während des Betriebs anfallen? Worum handelt es sich dabei? Falls nein, wie begründet sich dies? Freizugebende Abfälle fallen auch während des Betriebes von Kernkraftwerken an, insbesondere bei Umbaumaßnahmen (z.B. Bauschutt, Metalle) oder Wartung (z.B. Lampen, Öle). 7.) Welche Informationen hat die Landesregierung, wie ggf. mit Abfällen, die noch im Betrieb anfallen, aktuell umgegangen wird? Zum Verfahren der Freigabe wird auf die Antwort zu Frage 5 verwiesen. Dieses gilt für alle freizugebenden Abfälle. 8.) Dürfen nicht radioaktive Abfälle nur innerhalb desselben Bundeslandes verbracht oder ggf. wieder verwendet werden oder ist eine Verbringung nach außerhalb zulässig? Welches Vorgehen präferiert die Landesregierung ggf.? Es ist nach § 29 Absatz 2 StrlSchV und den Regelungen des Kreislaufwirt- schaftsgesetzes prinzipiell möglich, auch außerhalb von Schleswig-Holstein eingeschränkt freigegebene Materialien, z.B. auf Deponien, zu entsorgen. 9.) Hat die Landesregierung Kenntnis von Problemen der Kernkraftwerksbetreibergesellschaften bei der Behandlung nicht radioaktiver Abfälle aus schleswig -holsteinischen Kernkraftwerken (Wiederverwendung bzw. Deponierung) und wie äußern sich diese konkret? Oder läuft eine Abgabe in der Praxis problemlos? Der in den letzten Jahren beobachtete Anstieg der öffentlichen Sensibilität in Verbindung mit dem Thema Radioaktivität führte auch bei den Entsorgungsunternehmen zu einem Umdenken. Das aus einem Kernkraftwerk stammende, freigegebene Material wird daher nicht mehr in allen Fällen vom Entsorger angenommen . Dieses Phänomen ist deutschlandweit zu beobachten. 10.)Wie schätzt die Landesregierung die Gefährlichkeit von Abfällen aus Kernkraftwerken in Schleswig-Holstein ein, sofern diese als nicht radioaktiv gelten, also nicht zur Verbringung in ein noch zu schaffendes Bundesendlager bereit zu halten sind? Drucksache 18/2286 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode Wenn die Freigabe erteilt ist, d.h. wenn gemäß § 29 Absatz 2 StrlSchV für Einzelpersonen der Bevölkerung nur eine effektive Dosis im Bereich von 10 µSv im Kalenderjahr auftreten kann, ist davon auszugehen, dass von den Abfällen keine Gefahr ausgeht (siehe auch Vorbemerkung). 11.)Was tut die Landesregierung konkret, um mögliche Vorbehalte gegenüber nicht radioaktiven Abfällen abzubauen bei a. Entsorgungsunternehmen, b. privaten Deponiebetreibern, c. Deponiebetreibern in öffentlicher Trägerschaft, d. Kreisen, Städten, Gemeinden und der Bevölkerung insgesamt? Der Rückbau der schleswig-holsteinischen Kernkraftwerke erfordert die Deponierung freigemessener Abfälle. Diese erfordert gesellschaftliche Akzeptanz. Ein wesentlicher Aspekt für die Schaffung und Nutzung von Deponiekapazitäten ist der sachliche Austausch über das Thema Radioaktivität und Freimessungen. Ziel der Bemühungen der Landesregierung ist es, durch Aufklärungsarbeit und Sachinformationen eine auf Freiwilligkeit beruhende Schleswig-Holstein-interne Lösung zu erzielen.