SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 18/2711 18. Wahlperiode 25.02.2105 Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Patrick Breyer (PIRATEN) und Antwort der Landesregierung – Ministerin für Justiz, Kultur und Europa Radikalisierung während und nach der Strafhaft 1. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung über die Radikalisierung von Personen während oder nach ihrem Aufenthalt in Justizvollzugsanstalten ? Der Verfassungsschutzbehörde liegen in den beobachteten Extremismusbereichen in Schleswig-Holstein keine Erkenntnisse über die Radikalisierung von Personen während der Strafhaft vor. Ebenso wenig verfügt die Verfassungsschutzbehörde über Erkenntnisse, wonach sich eine Radikalisierung ehemaliger Strafgefangener in Schleswig-Holstein nach deren Entlassung vollzogen hat. 2. Welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung gegen die Radikalisierung von Personen während oder nach ihrem Aufenthalt in Justizvollzugsanstalten ? Die Verfassungsschutzbehörde leistet in Zusammenarbeit mit dem LKA und dem Ministerium für Justiz, Kultur und Europa des Landes Schleswig-Holstein einen Beitrag zur Sensibilisierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Justizvollzugsanstalten auf den Gebieten des Islamismus und des Rechtsextremismus . Diese werden hinsichtlich des jeweiligen Phänomenbereichs sensibilisiert und anlassbezogen über aktuelle Entwicklungen im Bereich des Islamistischen Terrorismus und des Rechtsextremismus aufgeklärt. Dadurch soll erreicht werden, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Justizvollzugsan- Drucksache 18/2711 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode 2 stalten Radikalisierungsprozesse frühzeitig erkennen und geeignete Maßnahmen ergreifen können. 3. Gibt es ein Deradikalisierungsprogramm in Schleswig-Holstein? Wenn nein, warum nicht? Ab dem 1. April 2015 wird das „Landesprogramm zur Vorbeugung und Bekämpfung von religiös motiviertem Extremismus in Schleswig-Holstein“ durch die Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. umgesetzt. Der Salafismus gilt derzeit als die dynamischste und am schnellsten wachsende islamistische Bewegung. Aktuell wird in Schleswig-Holstein von etwa 230 Aktivisten ausgegangen, bundesweit von etwa 6.000, mit steigender Tendenz. In Schleswig-Holstein sind in der Vergangenheit 24 Personen (Stand: 10.11.2014) zumeist aus dem salafistischen Spektrum in Richtung Syrien als derzeitig aktuellem Jihad-Schauplatz ausgereist. Fünf dieser Ausgereisten wurden dort mutmaßlich getötet. Auffallend ist, dass Salafisten beim Anwerben von Jugendlichen versuchen, auf existierende Diskriminierungen und Benachteiligungen von Muslimen in unserer Gesellschaft hinzuweisen und diese zuzuspitzen. Diskriminierung und Ausgrenzung verunsichern muslimische Jugendliche, die scheinbar bei den Salafisten Gleichgesinnte treffen. Nicht selten handelt es sich um zum Islam konvertierte Jugendliche und Heranwachsende, die sich in Deutschland und weltweit als Muslime diskriminiert fühlen und deshalb ihr Heimatland mit der Absicht verlassen, sich in einem „gerechten Krieg“ zum Terrorkämpfer ausbilden zu lassen, um später zurückzukehren und die Interessen ihrer Organisation gewaltsam durchzusetzen. Diese Rückkehrer stellen eine potentielle Gefahr für die innere Sicherheit dar, da sie sich weiter radikalisiert haben könnten und die Motive ihrer Rückkehr unklar sind. Vor diesem Hintergrund hat das Schleswig-Holsteinische Innenministerium zahlreiche Gespräche u.a. mit Vertretern muslimischer Organisationen (DITIB, Türkische Gemeinde), Ufuq (Verein für politische Bildung), des Beratungsnetzwerkes VAJA/kitab in Bremen, des Beratungsnetzwerkes gegen Rechtsextremismus in Schleswig-Holstein, des Hessischen Kompetenzzentrums gegen Extremismus sowie mit Islamwissenschaftlerinnen und Islamwissenschaftlern geführt, um Möglichkeiten für die erfolgreiche Einrichtung eines umfassenden Präventionsansatzes gegen Salafismus in Schleswig-Holstein auszuloten . In diese Überlegungen wurden auch Konzepte aus anderen Bundesländern bzw. von Bund-Länder-Arbeitsgruppen sowie Sachstandsberichte z.B. des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) einbezogen. Das Konzept hat im Wesentlichen folgende Ziele: • Beratung von betroffenen Angehörigen von radikalisierten Personen • Vermittlung von Hintergrundwissen über Salafismus, seine Inhalte, Strukturen und Rekrutierungsstrategien • Verhinderung und Unterbrechung von Radikalisierung durch Beratung und Unterbreitung von Hilfsangeboten Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode Drucksache 18/2711 3 • Ratsuchende sollen in die Lage versetzt werden, salafistische Bedrohungen zu erkennen, einzuschätzen und Probleme eigenständig zu lösen • Betroffene Institutionen vernetzen und fachlichen Austausch fördern 4. Kommt das Deradikalisierungsprogramm des Violence Prevention Network in Schleswig-Holstein zum Einsatz? Wenn nein, warum nicht? Das Programm Violence Prevention Network (VPN) ist bisher nicht im schleswig -holsteinischen Justizvollzug eingeführt worden, da die Auffassung bestand , dass mit den hier vorhandenen unterschiedlichen und differenzierten Behandlungsmaßnahmen ausreichend viele Reaktionsmöglichkeiten vorhanden sind. Die in der Antwort zu der Frage 6 angesprochene Länderumfrage im Bereich des Justizvollzuges wird nach Vorliegen der Ergebnisse ausgewertet werden. Danach wird entschieden werden, ob weitere Maßnahmen erforderlich sind. 5. Sind Deradikalisierungsmaßnahmen aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds förderfähig und, wenn ja, ist die Nutzung dieser Mittel zu diesem Zweck geplant? Der Europäische Sozialfond ist ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, das Projekte zugunsten von Beschäftigung, Bildung und sozialer Integration unterstützt . Die für die Umsetzung durch das Operationelle Programm erforderliche sog. Partnerschaftsvereinbarung zwischen Deutschland und der Europäischen Kommission nennt keine Maßnahmen zur Deradikalisierung. Daher sehen weder die laufenden ESF-Bundesprogramme noch das schleswig-holsteinische ESF-Landesprogramm Arbeit eine Förderung von Deradikalisierungsmaßnahmen vor. 6. Welche Deradikalisierungsprogramme und -maßnahmen für die Zielgruppen des politischen und religiösen Extremismus innerhalb und außerhalb des Justizvollzugs werden in anderen Bundesländern angeboten? Eine von der Innenministerkonferenz im Dezember 2013 eingesetzte BundLänder -Arbeitsgruppe zur Einrichtung eines länderübergreifenden Präventionsnetzwerks Salafismus hat in ihrem Abschlussbericht vom 15.09.2014 zahlreiche Initiativen auf Ebene des Bundes und der Länder aufgeführt. Als spezifische Maßnahmen zur Salafismusprävention können die nachfolgend beschriebenen Projekte genannt werden: Seit dem 01.01.2012 ist im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die „Beratungsstelle Radikalisierung“ eingerichtet, an die sich alle Personen wenden können, die sich um die Radikalisierung eines Angehörigen oder Bekannten sorgen und zu diesem Themenbereich Fragen haben. Die „Beratungsstelle Radikalisierung“ steht in engem Kontakt zu verschiedenen Beratungseinrich- Drucksache 18/2711 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode 4 tungen und kennt Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner sowie Netzwerke für die spezielle Thematik in allen Bereichen. Sie bietet konkrete Hilfe, indem sie - eine erste Anlaufstelle darstellt, häufige Fragen beantwortet und über die Problematik im Rahmen eines ersten Überblicks aufklärt, - online und im persönlichen Gespräch erste Informationen über Hilfsangebo- te bereitstellt, - im Einzelfall persönliche Beratung und Betreuung durch eine geeignete Stelle anbietet und vermittelt, - den direkten Kontakt zu Spezialisten in allen Bereichen herstellt und - Kontakt zu anderen Betroffenen in ähnlicher Situation und/oder Selbsthil- feinitiativen vermittelt. In Nordrhein-Westfalen wurde im März 2014 das Pilotprojekt „Wegweiser“ - Präventionsprogramm gegen gewaltbereiten Salafismus“ gestartet. Wegweiser ist ein umfassendes Präventionsprogramm gegen gewaltbereiten Salafismus auf kommunaler Ebene. Zur Umsetzung finanziert das Land NRW jeder teilnehmenden Kommune eine Personalstelle in Höhe von 80.000 €/Jahr. Das Programm ist bei der Verfassungsschutzbehörde des Landes angesiedelt und wird von dort aus koordiniert. In Hessen ist unter dem Dach des im Mai 2013 eingerichteten und im Innenministerium angesiedelten Hessischen Kompetenzzentrums gegen Extremismus, das sämtliche landesweiten Initiativen von Prävention und Intervention gegen Extremismus erfasst und koordiniert, Mitte des Jahres 2014 ein Präventionsnetzwerk gegen Salafismus gestartet worden. Im Mittelpunkt des Präventionsnetzwerks stehen eine zentrale Beratungsstelle und ein Fachbeirat. An die zentrale Beratungsstelle ist der Verein „Violence Prevention Network“ (VPN) angebunden. Sie ist für ganz Hessen zuständig. Zu den Aufgaben gehören allgemeine und spezifische Präventionsmaßnahmen sowie Interventionsmaßnahmen . Für den Bereich des Justizvollzuges ist zu berichten, dass derzeit im Rahmen einer von Baden-Württemberg initiierten Länderumfrage der aktuelle Stand zum Thema Radikalisierung von Gefangenen in den Vollzugsanstalten der Länder erfragt wird. Unter anderem werden die Länder gebeten, über entsprechende Maßnahmen zu berichten. Mit Ergebnissen wird Ende März zu rechnen sein.