SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 18/ 4201 18. Wahlperiode 27.05.2016 Kleine Anfrage des Abgeordneten Wolfgang Kubicki (FDP) und Antwort der Landesregierung – Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung Reformbedarf am SGB VIII 1. Inwiefern unterscheiden sich die von der Landesregierung gemachten Vorschläge zur Reform des SGB VIII von den Beschlüssen der Jugend- und Familienministerkonferenz zur gesetzlichen Weiterentwicklung zur Stärkung der Handlungsmöglichkeiten der Aufsicht nach §§ 45 ff. SGB VIII? Antwort: Gar nicht. Die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) hat auf ihrer Sitzung am 21./22. Mai 2015 die von der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesjugendund Familienbehörden (AGJF) eingesetzte länderoffene Arbeitsgruppe „Weiterentwicklung der §§ 45 ff. SGB VIII“ gebeten, bis Ende 2015 Vorschläge für eine gesetzliche Weiterentwicklung zur Stärkung der Handlungsmöglichkeiten der Aufsicht nach §§ 45 ff. SGB VIII vorzulegen. Das MSGWG hat auf Fachebene die Arbeitsgruppe zur Weiterentwicklung der §§ 45ff SGB VIII im Zeitraum Juni 2015 bis Dezember 2015 intensiv begleitet und zentrale Aspekte erarbeitet und eingebracht. Aus den Diskussionen in der Arbeitsgruppe zu diesen Themen resultierten schlussendlich Änderungsvorschläge unter maßgeblicher Beteiligung von Schleswig-Holstein zu - § 45 Abs. 2 – Einfügung des Tatbestandsmerkmals der Zuverlässigkeit - § 45 Abs. 6 und Abs. 7 – Anpassung der Widerrufs- und Rücknahmemöglichkeiten an die Voraussetzungen zur Erteilung einer Betriebserlaubnis (Ziel: strukturelle Kindeswohlgewährleistung) - § 46 Abs. 1 – Möglichkeit nicht-anlassbezogener Prüfungen - § 47 Abs. 3 SGB VIII – Neufassung der Dokumentationspflichten der Träger Drucksache 18/ 4201 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode 2 Die vorliegenden Ergebnisse der Arbeitsgruppe zu diesen Punkten basieren auf den Vorschlägen Schleswig-Holsteins und spiegeln somit die Änderungsbedarfe an entscheidenden Punkten im SGB VIII aus Sicht des MSGWG wider. Insgesamt sind aus Sicht des MSGWG die Ergebnisse der Arbeitsgruppe geeignet und erforderlich, um die Heimaufsicht nach dem SGB VIII neu auszugestalten und dennoch den Grundsatz der Trägerhoheit und die Zusammenarbeit der Träger der Jugendhilfe zu wahren und zu fördern. Das MSGWG hat sich dafür eingesetzt und wird dies im Bund auch weiter tun, die einstimmig im JFMK-Umlaufbeschluss 1/2016 niedergelegten Ergebnisse schnellstmöglich umzusetzen. Ziel ist es, die Handlungsmöglichkeiten der Heimaufsicht nach dem SGB VIII sowohl hinsichtlich der Aufsichtals auch der Beratungsfunktion zu stärken. 2. Wie ist der konkrete Zeitplan zur Umsetzung der Reformvorschläge? Antwort: Das BMFSFJ war bei den Sitzungen der Arbeitsgruppe ebenfalls vertreten. Das Bundesministerium hat mitgeteilt, die Ergebnisse der Arbeitsgruppe in ein Gesamtverfahren zur Novellierung des SGB VIII einzubinden. Dieser Gesamtprozess zur Reform des SGB VIII unter Einbeziehung der weiteren Bestandteile - Umsetzung der „inklusiven Lösung“ - Weiterentwicklung „HzE“ - Stärkung von Pflegekindern und ihren Familien wird aktuell durch das Bundesministerium koordiniert. An den hierzu anberaumten Sitzungen auf AL- und St-Ebene ist das MSGWG beteiligt. Nach den bisherigen Planungen des BMFSFJ soll noch vor der Sommerpause ein Referentenentwurf zur Reform des SGB VIII vorgelegt werden. Die Umsetzung des Gesamtprozesses soll noch in der laufenden Legislaturperiode im Bund erfolgen. Schleswig-Holstein setzt sich zudem auf allen Ebenen nachdrücklich dafür ein, dass – falls sich herausstellen sollte, dass dies für eine Umsetzung in dieser Legislaturperiode erforderlich ist – die Reform der §§ 45 ff. SGB VIII vorgezogen wird. 3. Liegen der Landesregierung Erkenntnisse vor, ob einem Träger bereits nach geltendem Recht die Betriebserlaubnis wegen Unzuverlässigkeit entzogen werden kann? Wenn ja, welche? Antwort: Das Landesjugendamt vertritt in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung und in Übereinstimmung mit den Arbeitsergebnissen der Arbeitsgruppe zur Weiterentwicklung der §§ 45ff SGB VIII die Auffassung, dass das Erfordernis der Zuverlässigkeit nicht nur als "ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal" im SGB VIII zu verankern ist. Hierzu hat Staatssekretärin Langner bereits am 17. März 2016 im Sozialausschuss berichtet und ausführlich Stellung genommen. Die rechtliche Situation ist juristisch auch der Anlage zum JFMK-Umlaufbeschluss 1/2016 auf S. 9/10 unter Bezugnahme auch auf obergerichtliche Rechtsprechung zu entnehmen: Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode Drucksache 18/4201 3 "Nach der Rechtsprechung (OVG Hamburg, Beschluss v. 14. Dezember 2012 – 4 Bs 248/12 –; Sächsisches OVG, Urteil v. 08. Mai 2015 – 1 A 238/13) besteht eine Gefährdung des Kindeswohls nicht schon dann, wenn (nur) nachträglich die Voraussetzungen für die Erteilung der Betriebserlaubnis entfallen sind. Vielmehr knüpfe der Gesetzgeber an den Begriff der Kindeswohlgefährdung des § 1666 BGB an. Während für die Versagung der Betriebserlaubnis genüge, dass unter dem Blickwinkel einer Gefahrenvorsorge Bedenken dahingehend bestünden, dass in der Einrichtung das Wohl von Kindern und Jugendlichen Schaden nehmen könnte, sei für die spätere Aufhebung eine konkrete Gefahr für das Kindeswohl zu fordern. Diese setze voraus , dass aufgrund von Tatsachen im Einzelfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit bestünde, dass das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes Schaden nehmen werde." Diese obergerichtliche Rechtsprechung ist zu berücksichtigen. Einzelne erstinstanzliche Entscheidungen (VG Saarlouis, Urteil v. 11.05.2012, 3 K 231/11) und einzelne Kommentierungen zum SGB VIII, die das Merkmal der „Unzuverlässigkeit“ unter bestimmten Voraussetzungen als Anknüpfungspunkt für einen Widerruf oder eine Rücknahme einer Betriebserlaubnis akzeptieren, geben der Heimaufsicht nicht die notwendige Rechtsgrundlage, um in dem nach dem Ergebnis der vorgenannten Arbeitsgruppe zur Weiterentwicklung der §§ 45 ff. SGB VIII für erforderlich gehaltenen Ausmaß tätig werden zu können (vgl. Auffassung des OVG Hamburg). Die explizite Normierung des Tatbestandsmerkmals ist daher konsequent und erforderlich. Nach der gegenwärtigen Gesetzeslage ist es aus Sicht der Heimaufsicht (nur) möglich, eine Betriebserlaubnis zu widerrufen bzw. zurückzunehmen, falls die einer etwaigen Unzuverlässigkeit zugrunde liegenden Tatsachen für sich genommen oder im Zusammenspiel mit anderen Umständen eine Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 45 SGB VIII darstellen. 4. Liegen der Landesregierung Erkenntnisse vor, ob einem Träger bereits nach geltendem Recht die Betriebserlaubnis entzogen werden kann, wenn die strukturellen Voraussetzung für die Gewährleistung des Kindeswohl nicht mehr gegeben sind? Wenn ja, welche? Antwort: Ja. Die Landesregierung vertritt die Auffassung, dass erhebliche strukturelle Mängel zur Feststellung einer akuten Kindeswohlgefährdung führen können. Als erhebliche strukturelle Mängel sind insbesondere dauerhafte und nachhaltige Unterschreitungen der Fachkräfteerfordernisse und die dadurch resultierende mangelnde Aufsichtsführung über Betreute zu nennen. In diesem Sinne wird auch die Heimaufsicht des Landesjugendamtes praktisch tätig. Strukturelle Mängel führten beispielsweise im März 2016 zur Schließung einer Jugendhilfeeinrichtung in Flensburg. Im Übrigen sind Entscheidungen über das Vorliegen konkret kindeswohlgefährdender Umstände, die Widerruf und Rücknahme von Betriebserlaubnissen begründen können, im Einzelfall unter Berücksichtigung der Konzeption der Einrichtung und der Zielgruppe der Betreuten zu treffen. 5. Kann das Landesjugendamt nach derzeitiger Rechtslage auch unangemeldete Kontrollbesuche durchführen? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen und wie viele Kontrollen waren im Jahr 2015 und bislang im Jahr 2016 unangemeldet? Drucksache 18/ 4201 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode 4 6. Kann das Landesjugendamt nach derzeitiger Rechtslage auch anlasslos unangemeldete Kontrollbesuche durchführen? Wenn nein, warum nicht und ist die Landesregierung der Ansicht, dass anlasslose unangemeldete Kontrollbesuche mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sind? Antwort: Die Fragen 5 und 6 werden aufgrund des engen Sachzusammenhanges gemeinsam beantwortet. Das Landesjugendamt kann nach geltender Rechtslage und unter Beachtung der Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 SGB VIII (nach den Erfordernissen des Einzelfalls) auch unangemeldete örtliche Prüfungen durchführen. Unangemeldete sofortige örtliche Prüfungen sind zulässig und werden durch das LJA praktiziert, soweit bereits nach erster Einschätzung aufgrund der erhobenen Vorwürfe, eine unmittelbare Überprüfung notwendig ist. Ferner werden Prüfungen vor Ort unangemeldet durchgeführt , wenn und soweit zu erwarten ist, dass anderenfalls die Gegebenheiten nicht adäquat überprüft werden können. Dabei sind jedoch die Vorgaben des § 46 Abs. 1 SGB VIII zur Beteiligung des örtlich zuständigen Jugendamtes und ggfs. des zentralen Trägers der freien Jugendhilfe zu beachten. Die Auslegung des Merkmals „nach den Erfordernissen des Einzelfalls“ ist indes rechtlich strittig. Anlässe für örtliche Prüfungen sind in Rechtsprechung und Praxis ausdifferenziert worden. Insbesondere können Beschwerden, Eingaben und besondere Vorkommnisse in jedem Fall als Anlass für örtliche Prüfungen ausreichend sein. Für anlasslose unangemeldete Prüfungen besteht insofern nach Auffassung der Heimaufsicht derzeit keine ausreichende Rechtsgrundlage. Die Auslegung der „Erfordernisse des Einzelfalles“ und die daraufhin angestoßenen Maßnahmen jedoch erfolgen im MSGWG und dem Landesjugendamt unter weitreichender Ausnutzung der gegebenen Ermessensspielräume. Mit den nunmehr geplanten Änderungen des SGB VIII soll die Rechtslage dahingehend klargestellt werden, dass örtliche Prüfungen auch unabhängig von einem konkreten Prüfungsanlass „jederzeit“ zulässig sind. Besuche und Überprüfungen von Einrichtungen werden erst seit April 2015 im Heimverzeichnis erfasst. Die Frage nach der Anzahl der unangemeldeten Prüfungen in den Jahren 2015 und 2016 kann deshalb nur für den Zeitraum April 2015 bis Anfang Mai 2016 beantwortet werden. Vom 1. April 2015 bis zum 31. Dezember 2015 wurden 15 und vom 1. Januar 2016 bis zum 18. Mai 2016 drei unangemeldete örtliche Prüfungen durchgeführt. Örtliche Prüfungen, die nur sehr kurzfristig (ein bis zwei Stunden vorab) angekündigt wurden, sind dabei nicht als unangemeldete örtliche Prüfungen erfasst. 7. Gibt es im Umgang mit noch nicht bewiesenen Missständen nach derzeitiger Rechtslage angesichts des besonderen Schutzbedürfnisses von Kindern reduzierte Beweisanforderungen oder Beweiserleichterungen zugunsten der institutionalisierten Aufsicht? Wenn ja, welche? Wenn nein, ist die Landesregierung der Auffassung, dass entsprechende Beweiserleichterungen notwendig sind? Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode Drucksache 18/4201 5 Antwort: Nein. Beweiserleichterungen sind aus Sicht der Landesregierung und der Arbeitsgemeinschaft zur Reform der §§ 45 ff. SGB VIII auch nicht erforderlich, da der in dieser Arbeitsgemeinschaft auf Vorschlag von Schleswig-Holstein beschlossene Änderungsentwurf für die §§ 45 ff. SGB VIII die nach geltender Rechtslage unzureichenden Handlungsmöglichkeiten der Heimaufsicht umfassend und zielführend verbessern wird.