SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 18/4262 18. Wahlperiode 10.06.16 Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Patrick Breyer (PIRATEN) und Antwort der Landesregierung – Ministerium für Justiz, Kultur und Europa Radikalisierung während und nach der Strafhaft (Nachfrage zu Drucksache 18/2711) 1. Welche Erkenntnisse gibt es zur Anzahl der Strafgefangenen mit islamistischen Einstellungen oder Bestrebungen? Derzeit befinden sich landesweit drei Gefangene in Haft, die sich dem Islamismus zugehörig fühlen: zwei männliche Gefangene in der JVA Lübeck und ein Jugendlicher in der JA Schleswig. 2. Wie steht die Landesregierung zu dem Ansatz Hessens, bei Anhaltspunkten für eine Radikalisierung Gefangener eine getrennte Unterbringung von vergleichbaren oder gefährdeten Strafgefangenen vorzunehmen (Umdruck 18/5933)? Bei Anhaltspunkten für eine Radikalisierung von Gefangenen ist eine Unterbringung in von vergleichbaren oder gefährdeten Gefangenen getrennten Abteilungen grundsätzlich sinnvoll. Die Art der Unterbringung ist nach Prüfung des konkreten Einzelfalls zu entscheiden. Ebenfalls wird im Einzelfall entschieden, ob besondere Sicherungsmaßnahmen anzuordnen sind. Drucksache 18/4262 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode 2 3. Das Deradikalisierungsprogramm des Violence Prevention Network wurde im Rahmen eines Projekts "Gesellschaftliche Reintegration durch das Herstellen von individueller Beschäftigungsfähigkeit bei extremistisch gefährdeten, gewaltaffinen jungen Menschen" aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds gefördert. Wäre ein vergleichbares Programm in schleswig-holsteinischen Justizvollzugsanstalten aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds förderfähig? Wenn ja, ist die Nutzung dieser Mittel zu diesem Zweck geplant? Die Förderfähigkeit eines vergleichbaren Projektes aus dem ESF wäre für Schleswig-Holstein allein aufgrund der geringen Fallzahlen (vgl. Frage 1) anzuzweifeln. Derzeit bestünde evtl. eine Fördermöglichkeit im Rahmen des Arbeitsprogramms „Justiz“ der Europäischen Kommission, jedoch gibt es auch hier eine Mindestantragssumme in Höhe von 75.000 €. Bei den jetzigen Fallzahlen werden bestehende Mechanismen für ausreichend erachtet. 4. Was ist das Ergebnis der von Baden-Württemberg initiierten Länderumfrage zum Thema Radikalisierung von Gefangenen in den Vollzugsanstalten der Länder? Die Auswertung der Länderumfrage, an der sich neben Schleswig-Holstein neun weitere Länder beteiligt haben, hat ergeben, dass es zum Zeitpunkt der Abfrage nur vereinzelt Anhaltspunkte für Radikalisierungstendenzen oder islamistisch-salafistische Netzwerke im deutschen Justizvollzug gegeben hat. Die Fallzahlen weichen sehr voneinander ab (Bayern 21 Gefangene, Berlin 12, Niedersachsen 4, Rheinland-Pfalz, Bremen, Saarland 1, Mecklenburg- Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg 0), dementsprechend ist die Ausgestaltung der Maßnahmen auch sehr unterschiedlich: Zum Teil soll der Radikalisierung von Gefangenen hauptsächlich durch die Einrichtung einer muslimischen Seelsorge entgegenwirkt werden (Bremen, Niedersachsen), zum Teil existieren spezielle Programme, insbesondere im Bereich des Jugendstrafvollzugs, die auf eine Behandlung extremistischer Straftäter abzielen (Bayern, Berlin, Brandenburg, Niedersachsen). Die Länder Berlin, Brandenburg und Niedersachsen arbeiten diesbezüglich mit Violence Prevention Network e.V. zusammen bzw. streben eine solche Zusammenarbeit an. An einem Programm des Bundes nimmt Bremen durch das Distanzierungsprojekt „Demokratie leben!“ teil. Im Übrigen wird auf die Sensibilisierung und Fortbildung der Bediensteten der Justizvollzugsanstalten zu diesem Thema gesetzt. Zudem findet in fast allen befragten Bundesländern ein enger Austausch bzw. eine Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden, der Staatsanwaltschaft und dem Verfassungsschutz statt. 5. Welche Deradikalisierungsprogramme und -maßnahmen für die Zielgruppen des politischen und religiösen Extremismus innerhalb des Justizvollzugs werden in anderen Bundesländern angeboten? Über die zur Frage 4 genannten Programme und Maßnahmen hinaus sind folgende Initiativen bekannt: Drucksache 18/4262 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode 3 In Hamburg besteht das Angebot des Rats der islamischen Gemeinschaften in Hamburg (Schura) zur Gesprächsführung mit muslimischen Gefangenen. Ein ausgesuchtes Betreuerteam aus ca. fünf Imamen soll offene Gesprächsrunden und bei Bedarf auch Einzelgespräche mit muslimischen Gefangenen anbieten. Im Rahmen des Aussteigerprogramms des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen entwickeln die Ausstiegsbegleiter zusammen mit den Betroffenen ein individuell passendes Konzept und helfen bei der Umsetzung nach der Haftentlassung. Darüber hinaus bestehen folgende Aussteigerprogramme (nicht speziell für den Justizvollzug): Bundesamt für Verfassungsschutz: „HATIF – Heraus aus islamistischem Terrorismus und Fanatismus“, Hessen: Beratungsstelle „Religiöse Toleranz statt Extremismus“, Hamburg: „Legato – systemische Ausstiegsberatung- Fachstelle für religiös begründete Radikalisierung“. 6. Wie steht die Landesregierung zum Ansatz Hessens, ein Netzwerk Deradikalisierung im Strafvollzug zu bilden (Umdruck 18/5933)? Die Einrichtung eines Netzwerkes nach Hessischem Vorbild (zehn zusätzliche Stellen und 200.000 € Sachmittel) inklusive einer Stabsstelle, bestehend aus einer Referatsleitung, einer Sachbearbeitung und einem Islamwissenschaftler, ist aufgrund der niedrigen Fallzahlen zum jetzigen Zeitpunkt unrealistisch. Grundsätzlich sind sowohl die Bildung eines Expertenpools als auch der Vernetzungsgedanke positiv zu bewerten. Der Austausch im Bereich der Vollzugseinrichtungen, Ministerium, LKA und Verfassungsschutz funktioniert in Schleswig-Holstein sehr gut. Für die Bediensteten des Vollzuges werden regelmäßig Fortbildungen angeboten, um für den Phänomenbereich zu sensibilisieren und für entsprechende Beobachtungen zu schulen.