SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 18/ 4785 18. Wahlperiode 02.11.2016 Kleine Anfrage der Abgeordneten Katja Rathje-Hoffmann (CDU) und Antwort der Landesregierung – Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung Errichtung der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ Vorbemerkung der Fragestellerin: Am 16. Juni 2016 wurde auf der Konferenz der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin der Beschluss zur Errichtung der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ gefasst. Diese soll die Entschädigung von Menschen, die zwischen 1949 und 1975 in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe bzw. Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben, regeln. 1. Wann soll die Stiftung ihre Arbeit aufnehmen und wie ist das Land an der Arbeit der Stiftung beteiligt? Antwort: Eine entsprechende Verwaltungsvereinbarung über die Errichtung eines Hilfesystems für Menschen, die als Kinder oder Jugendliche in den Jahren 1949 bis 1975 (Bundesrepublik Deutschland) bzw. 1949 bis 1990 (DDR) in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in stationären psychiatrischen Einrichtungen Leid und Unrecht erfahren haben, soll möglichst von allen Beteiligten (Bund, Länder, Kirchen) im Dezember 2016 unterzeichnet sein und ab 01.01.2017 soll die Stiftung ihre Arbeit aufnehmen , d.h. ab diesem Zeitpunkt sollen Anmeldungen möglich sein. Im Zeitraum von Januar bis April 2017 sollen in jedem Bundesland die Anlauf- und Beratungsstellen errichtet werden. Das Land Schleswig-Holstein plant eine Anlauf-und Beratungsstelle beim Landesamt Drucksache 18/ 4785 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode 2 für soziale Dienste Schleswig-Holstein in Neumünster, die zum 1. Januar, spätestens jedoch zum 1. April starten soll. Das Land Schleswig-Holstein hat sich durch Beteiligung an einer Unterarbeitsgruppe (Ko-Vorsitz) sowie an Besprechungen Bund-Länder-Kirchen und auch als ASMK- Vorsitzland erheblich an der Ausgestaltung der Stiftung beteiligt. 2. In welcher Höhe ist eine Entschädigung vorgesehen? Ist diese äquivalent zu dem bereits vorhandenen Fonds für Heimerziehung aus dem Jahr 2012? Wenn nein, welche Unterschiede gibt es und warum? Antwort: Die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ sieht für Betroffene aus stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie neben einer Anerkennung des Erlebten durch persönliche Gespräche, einer öffentlichen Anerkennung und einer wissenschaftlichen Aufarbeitung auch finanzielle Hilfen vor. Betroffene sollen eine einmalige Geldleistung von 9.000 Euro zur selbstbestimmten Verwendung und eine einmalige Rentenersatzleistung von bis zu 5.000 Euro erhalten, sofern sie dem Grunde nach sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben, ohne dass dafür Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden. Die Höhe der finanziellen Hilfen orientiert sich an den Leistungen der Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ und "Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990" (im Folgenden: Fonds „Heimerziehung “). Betroffene erhalten von diesen Fonds durchschnittlich materielle Hilfen in Höhe von 10.000 Euro und Rentenersatzleistungen von durchschnittlich 6.000 Euro. Zum Erhalt der materiellen Hilfebedarfe müssen sie darlegen, dass die Leistung geeignet ist, den noch bestehenden Folgeschaden zu mindern. Auch müssen sie für jede einzelne Sachleistung einen Rechnungsbeleg vorlegen, d.h. im Einzelfall viele Rechnungsbelege bis zur Höhe von 10.000 Euro. Legen sie auch im Nachhinein keine Belege vor, kann es zu gerichtlich zu klärenden Rückforderungsansprüchen kommen . Anders als bei den Fonds „Heimerziehung“ sollen Betroffene aufgrund der Besonderheiten der Personenkreise der Menschen mit Behinderungen von der Stiftung pauschale Geldleistungen erhalten. Damit wird das komplizierte Nachweis- und Abrechnungsverfahren zu Gunsten der Betroffenen vermieden und der Zugang zum Hilfesystem niederschwellig. Die Betroffenen können selbstbestimmt entscheiden, wie sie die Hilfen verwenden wollen; eine Kausalitätsprüfung entfällt. Das schnelle und unbürokratische Verfahren führt dazu, dass eine Gleichwertigkeit gegeben ist, auch wenn die durchschnittlichen Beträge der Stiftung um einen geringen Betrag von den durchschnittlichen Beträgen der Fonds „Heimerziehung“ abweichen. Zudem stellt die Beratung in den Anlauf- und Beratungsstellen, die im Umfang bis zu 15 Stunden gewährt werden soll, eine immaterielle Leistung für die Betroffenen dar, die es so bisher nicht gegeben hat. Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode Drucksache 18/4785 3 3. Wie viele Leistungsberechtigte gibt es? Antwort: Die Anzahl der Leistungsberechtigten kann auf Grundlage der Jungmann-Studie näherungsweise angegeben werden. Danach wird bundesweit unter Berücksichtigung der Mortalitätsrate von einer geschätzten Anzahl Betroffener, die Leid und Unrecht erfahren haben, von 80.400 ausgegangen und daraus resultierend eine mögliche Anzahl von Anmeldungen von insgesamt 20.100 (Annahme einer Quote von 25%). 4. Wie werden die in Schleswig-Holstein lebenden Betroffenen erfasst? Geht das Land auch aktiv auf Betroffene zu? Antwort: In Schleswig-Holstein werden derzeit betroffene Personen nicht erfasst. Bereits im Februar 2015 hat das Sozialministerium die ehemalige Landespastorin Petra Thobaben damit beauftragt, als Ansprechpartnerin für Betroffene zu fungieren und aus diesen Gesprächen heraus Strategien zu entwickeln, um den Angehörigen Gehör zu verschaffen. Frau Thobaben hat mit Betroffenen der damaligen Zeit intensive Gespräche über ihr Schicksal geführt. Aus diesen Erfahrungen heraus hat sie Betroffene und Vertreter heutiger Institutionen zu mehreren Salongesprächen eingeladen , an denen auch Ministerin Alheit teilgenommen hat. Derzeit wird geprüft, wie den Belangen der Betroffenen im Lande u.U. auch zusätzlich zu den auf Bundesebene zwischen Bund, Ländern und Kirchen vereinbarten Leistungen entgegen gekommen werden kann. So erwägt das Land zur Begleitung der Umsetzung des zwischen Bund, Länder und Kirchen vereinbarten Prozesses einen Landesbeirat zu berufen. Geprüft wird auch, wo und wie ein Ort der Erinnerung geschaffen werden kann. Darüber hinaus wird Schleswig-Holstein eine Anlauf- und Beratungsstelle einrichten, die beim Landesamt für Soziale Dienste angesiedelt sein wird. Dort können Betroffene über ihre Erfahrungen Gespräche führen, sich beraten lassen und einen Antrag auf die finanziellen Unterstützungsleistungen stellen. Sobald die Stiftung gegründet ist, werden mögliche Betroffene durch Pressemitteilungen und andere Formen der Öffentlichkeitsarbeit auf den Start der Stiftung hingewiesen und können sich dann an die Anlauf- und Beratungsstelle wenden. In Schleswig-Holstein lebenden Betroffenen, die sich an das MSGWG gewandt haben , sind bereits auf die geplante Stiftung hingewiesen worden und darauf, dass es zu einem späteren Zeitpunkt dann eine Anlauf- und Beratungsstelle geben wird, bei der sie sich anmelden können. Auf zukünftige Veröffentlichungen in der Presse wurde verwiesen. Darüber hinaus gibt es beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales bereits seit dem 21.09.2016 eine vorläufige Internetseite zur „Stiftung Anerkennung und Hilfe “ www.stiftung-anerkennung-hilfe.de . Der endgültige Internetauftritt der Stiftung ist derzeit in Planung und wird voraussichtlich im 1. Quartal 2017 online gehen. Das BMAS hat eine erste Auflage eines Infofolders produziert (für Messestand auf der Drucksache 18/ 4785 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 18. Wahlperiode 4 REHA Care und den Inklusionstagen 2016). Eine zweite Auflage mit konkreteren Angaben soll im 1. Quartal 2017 folgen. 5. Ist der Landesregierung bekannt, wie viele Menschen in Schleswig-Holstein zwischen 1949 und 1975 im Rahmen ihrer Zeit in einer stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Psychiatrie Arbeitsdienst geleistet haben? Wie viele ohne dafür finanziell entschädigt worden zu sein? Wenn ja, wie viele? Antwort: Der Landesregierung liegen hierzu keine Zahlen vor. 6. Ist der Landesregierung bekannt, ob es in dieser Zeit Missbrauchs- bzw. Vergewaltigungsvorfälle gab? Wenn ja, wie viele sind bekannt und wie wurde mit den Betroffenen weiter umgegangen? Antwort: Es sind Einzelfälle dadurch bekannt, dass sich die betroffenen Personen mit Schilderungen ihrer Erfahrungen an die Landesregierung oder die ehemalige Landespastorin Frau Thobaben gewandt haben. Den Betroffenen wurde auf ihre Schreiben geantwortet, sie wurden teilweise an Frau Thobaben vermittelt und soweit konkrete Anliegen verfolgt worden sind – etwa auf Akteneinsicht bei der ehemaligen Einrichtung – ist das Ministerium unterstützend tätig geworden. In einem Fall wurde die Schilderung zur strafrechtlichen Prüfung an die Staatsanwaltschaft gegeben; diese musste das eingeleitete Ermittlungsverfahren jedoch wieder einstellen, da sich keine hinreichend konkreten Hinweise auf (noch verfolgbare ) Straftaten ermitteln ließen.