SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 19/1024 19. Wahlperiode 2018-11-08 Kleine Anfrage der Abgeordneten Martin Habersaat und Dr. Heiner Dunckel (SPD) und Antwort der Landesregierung - Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Menschliche Überreste in öffentlichen Sammlungen 1. Sind nach Kenntnis der Landesregierung in schleswig-holsteinischen Museen, Krankenhäusern und Forschungseinrichtungen vollständige Leichen oder Leichenteile vorhanden, die ohne vorherige Zustimmung des oder der Verstorbenen oder ohne Einverständnis seiner oder ihrer Angehörigen aufbewahrt werden? Antwort: In Museen und Sammlungen in Schleswig-Holstein gibt es Sammlungsteile von menschlichen Überresten. Der Landesregierung liegen hierzu jedoch keine abschließenden Erkenntnisse vor, da es der Verantwortung der Museen oder Sammlungen und ihrer Träger obliegt, die Provenienz der Sammlungsteile zu erforschen. Kenntnisse hat die Landesregierung über Sammlungsbestände des Archäologischen Landesmuseums als Teil der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf. Aus archäologischen Grabungen in Schleswig-Holstein befinden sich dort menschliche Knochen von mindestens 2.000 Individuen, sog. Leichenbrände (calzinierte Knochen) von mindestens 50.000 Individuen sowie 5 Moorleichen . Die Leichenteile stammen aus der Zeit zwischen ca. 3500 v. Chr. bis ca. 1400 2 n. Chr. In der völkerkundlichen Sammlung der Stiftung Landesmuseen gibt es eine Säuglingsmumie, vermutlich Südamerika aus archäologischem Kontext (exakte Herkunft unbekannt), eine männliche Mumie aus Chile, Atacama-Wüste aus archäologischem Kontext sowie eine mumifizierte Kinderhand einer ägyptischen Mumie aus archäologischem Kontext. Zu keinem dieser drei Überreste ist die Provenienz bekannt oder ein kolonialer Bezug erkennbar. In der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel existieren Präparate aus dem Institut für Pathologie aus der Zeit ab 1875 bis in die 1960er Jahre, Präparate aus der Rechtsmedizin (ursprünglich verknüpft mit dem Institut für Pathologie) etwa aus der Zeit 1900 bis in die 1960er Jahre, eine Forschungssammlung weiblicher Becken aus der Kieler Gebäranstalt (Sammlung von G.A. Michaelis und T. Litzmann) aus der Mitte des 19. Jahrhundert sowie eine Sammlung von Gallen- und Blasensteinen aus der Chirurgischen Klinik aus dem späten 19. Jh. und eine nicht identifizierte Mumie aus der Plöner Stadtkirche, die aus dem Institut für Rechtsmedizin übernommen wurde. Pathologische Leichenschauen fanden vermutlich bis zur Mitte des 20. Jh. nach medizinischen Erfordernissen u.U. auch ohne Zustimmung der Hinterbliebenen statt. Gerichtliche innere Leichenschauen wurden für das Deutsche Reich ab 1877 über die Strafprozessordnung, zuvor über die territoriale Strafgesetzgebung, geregelt. Hier war keine Zustimmung der Hinterbliebenen erforderlich. Die Präparate der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung stammen, mit Ausnahme der anonymen Mumie aus Plön, alle von Leichen , die der Universität zur den zur jeweiligen Zeit gültigen gesetzlichen Vorschriften legal zu Forschungszwecken zur Verfügung standen. Die Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung verfolgt einen verantwortungsvollen Umgang mit menschlichen Präparaten. Dieser wird neben der wissenschaftlichen Bedeutung solcher Präparate auch in den Ausstellungen vermittelt. Die Präparate geben einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die Diskussion ethischer Fragen in der Vermittlungsarbeit des Museums. Präparate aus der Zeit des Nationalsozialismus werden von der medizin-pharmaziehistorischen Sammlung grundsätzlich nicht in der Ausstellung präsentiert, auch wenn diese nicht von Hinrichtungsstätten stammen, da nur anatomische, nicht pathologische Institute von den Hinrichtungsstätten beliefert wurden. In der Völkerkundlichen Sammlung der Lübecker Museen befinden sich nach derzeitigem Wissensstand nur zwei Schädel, die für diese Anfrage von Interesse sein Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/1024 3 könnten: Ein Schädel, der 1919 von Paul Hoffman aus Punta Arenas (Chile) dem Museum geschenkt wurde. Die genaue Provenienz wird derzeit untersucht. Da es Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem Genozid an den Feuerlandindianern in der Region kam, ist ein Unrechtskontext nicht unwahrscheinlich. Weiterhin ist ein Schädel zu nennen, der aus dem Gebiet des Kongo stammt und 1913 dem Museum von einer unbekannten Person geschenkt wurde. Auch in dieser Region kam es zu Gewaltexzessen; dem Aussehen und Erhaltungszustand nach handelt es sich bei dem Schädel aber nicht um eine rezent getötete Person, sondern um einen deutlich älteren archäologischen Fund. Das Nordfriesland Museum. Nissenhaus Husum besitzt mehrere Schädel bzw. Schädelfragmente aus der hochmittelalterlichen Rungholt-Zeit sowie einen weiteren, nicht näher bestimmbaren Schädel wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert. Des Weiteren verfügt es über eine Reihe von Knochenfragmenten aus der Rungholt-Zeit. Diese wurde in den letzten Jahren auf ihre DNA hin untersucht mit dem Ergebnis, dass sie alle dem Mittelalter entstammen. In der kolonialen Sammlung befinden sich hingegen keine menschlichen Knochenfragmente. In den vorgenannten Fällen liegt kein Einverständnis der Verstorbenen oder der Angehörigen vor. 2. Sofern die Landesregierung davon keine Kenntnis hat, beabsichtigt sie, sich diese Kenntnisse zu verschaffen? Antwort: Die Erforschung der Provenienz der menschlichen Überreste ist Aufgabe der einzelnen Museen und Sammlungen und ihrer Träger. 3. Ist die Landesregierung der Auffassung, dass solche Leichen bzw. -teile in einem angemessenen Rahmen zu bestatten wären? Falls ja, was wird dafür unternommen ? Antwort: Für alle Sammlungsteile aus menschlichem Ursprung in Museen und Sammlungen ist ein würdiger Umgang sicherzustellen. Ob sich eine Bestattung empfiehlt, ist im Einzelfall abzuwägen und zu entscheiden. Nur im Wissen über den Ursprung der 4 menschlichen Überreste lässt sich ein verantwortungsvoller Umgang realisieren. Daher ist die Aufklärung der Provenienz entscheidend. 4. Sofern es sich um „Sammlungsobjekte“ aus den früheren deutschen Kolonien handelt: Welche Maßnahmen will die Landesregierung ergreifen, um in Absprache mit den Behörden der Herkunftsstaaten eine Rückführung in das Herkunftsland zu ermöglichen? Antwort: Rückgabeforderungen an öffentliche Museen in Schleswig-Holstein existieren nach Kenntnis der Landesregierung nicht. Sollten Sammlungsteile für Rückgaben in Herkunftsländer in Frage kommen, informiert das entsprechende Museum bzw. dessen Träger das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und nimmt Kontakt mit dem Auswärtigen Amt auf, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Der angemessene Umgang mit Sammlungsteilen menschlicher Überreste aus kolonialen Kontexten in deutschen Museen und Sammlungen ist international und auch in Deutschland ein aktuelles und komplexes Thema. Es umfasst eine Vielzahl von wissenschaftlich , rechtlich, politisch und moralisch schwierigen Fragestellungen. Das wissenschaftliche Projekt „Zwischen Kolonialismus und Weltoffenheit - Die ethnografischen Sammlungen schleswig-holsteinischer Museen als Quelle kolonialer Landesgeschichte“ untersucht unter der Trägerschaft des Museumsverbandes Nordfriesland seit 2017 den Bestand von 20 Museen in Schleswig-Holstein. Ziel des vom Bund geförderten Projektes ist die Bestimmung, Erforschung und Digitalisierung ethnografischer Objekte aus der Kolonialzeit in den Museen sowie deren Veröffentlichung . Es ist ein landesweites und länderübergreifendes (Kooperation mit Dänemark ) Vorhaben zur Erschließung bislang unbeachteter kolonialer Quellen materieller Kultur, die sich außerhalb der einzigen ausgewiesenen völkerkundlichen Sammlung in Schleswig-Holstein in Lübeck befinden. Die Rolle der Region im deutschen Kolonialismus soll damit erstmals flächendeckend anhand von materieller Kultur herausgearbeitet werden. Mit der Untersuchung und Digitalisierung werden für die Historiker bislang zugleich unbekannte als auch bisher unzugängliche Quellen erschlossen. Zu den wissenschaftlichen Zielen des Projektes gehört es, die sog. Ethnografika als Quelle kolonialer Landesgeschichte öffentlich zu machen.