SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 19/1575 19. Wahlperiode 08.07.2019 Kleine Anfrage der Abgeordneten Serpil Midyatli (SPD) und Antwort der Landesregierung – Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren Inklusive Kita 1. Welche Erfahrungen hat die Landesregierung mit dem Modellversuch „Inklusive Kita“ in den vier Regionen Pinneberg, Dithmarschen, Neumünster und Flensburg gemacht? 2. Welche Ergebnisse hat die pädagogische und betriebswirtschaftliche Evaluation erbracht? Antwort zu den Fragen 1 und 2: In den vier Modellregionen sind insgesamt zehn Modell-Kitas überwiegend in 2015 mit jeweils eigenen Modellschwerpunkten in die Erprobungsphase gegangen , um zur Ausgestaltung von inklusiven Bildung beizutragen. Dies geschieht auf zwei Ebenen: Auf der Einrichtungs-Ebene wird die Inklusive Qualität im Praxisfeld Kita weiterentwickelt . Im Bereich der inklusiven Pädagogik wird eine wertschätzende Haltung und der ressourcenorientierte Blick auf das Kind vertieft und die Anerkennung von Vielfältigkeit aufgegriffen. Bei der Etablierung inklusiver Strukturen gilt es Inklusion als Qualitätsdimension konzeptionell zu verankern und die Arbeit in multiprofessionellen Teams zu ermöglichen. Auf der Leistungsträger-Ebene werden insbesondere trägerbezogene Budgets für die Förderung von Kindern mit Behinderung erprobt, die Verfahren zur individuellen Bedarfsfeststellung durch den Träger der Sozial- und Jugendhilfe erleichtert sowie die Gleichbehandlung der Eltern von Kindern mit Drucksache 19/1575 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 2 und ohne Behinderung in Bezug auf Kita-Beiträge und Betreuungsumfang umgesetzt. Die Ergebnisse und die Erfahrungen, die die Landesregierung mit dem Modellprojekt gemacht hat, lassen sich nach dieser vorangestellten Differenzierung folglich unterschieden in einen qualitativ-pädagogischen und einen strukturell-betriebswirtschaftlichen Teil. Qualitativ-pädagogisch kann folgendes festgehalten werden: Bei den Kita-Leitungen und den Teams bestehen trotz vereinzelter Vorbehalte eine große Offenheit und ein ausgeprägtes Engagement, in ihrer Einrichtung Inklusion als Qualitätsdimension einzuführen und weiterzuentwickeln. Die Fachkräfte haben intensiv daran gearbeitet, eine wertschätzende und ressourcenorientierte Haltung gegenüber allen Kindern einzunehmen und Verschiedenheit anzuerkennen. Es wurde vielfach berichtet, dass sich hierdurch positive Impulse für die Beziehung zum Kind und für die Elternarbeit ergeben haben. Budgetorientierte Modelle können den Zugang zur Hilfe tatsächlich verbessern – die Hilfe kann sofort ansetzen und es wird möglich, auf wechselnde Förderbedarfe flexibel zu reagieren. Teaminterne heilpädagogische Kompetenz bietet Vorteile gegenüber einer extern heilpädagogischen Kraft zur ambulanten Förderung von Kindern - zum Beispiel in Form von ambulanten Fachleistungsstunden; heilpädagogische Kompetenz in Form von Coaching innerhalb des Kitateams wirkt qualitativ positiv auf Fachkräfte, Eltern und Kindern und fördert inklusive Strukturen. Durch teaminterne heilpädagogische Ressourcen können Kinder mit besonderen Förderbedarfen von Anfang an besser stabilisiert und in die Gruppe integriert werden, so dass sich problematische Konstellationen für das Kind weniger manifestieren. Die Qualität der Leistung kann sich gegenüber einer punktuellen und in der Regel separat durchgeführten Förderung durch externe Anbieter verbessern: Die Förderung in inklusiven Spiel- und Lernsituationen kann alltagsinkludiert und teilhabeorientiert im Gruppengeschehen stattfinden . Ein fachlicher Austausch im Team zwischen den Professionen und mit den Eltern wird möglich. Als wesentliche Hindernisse für den Inklusionsprozess in den Kitas werden beschrieben: o die Ressourcenzuteilung setzt stets eine an Bedarfen („Defiziten“) orientierte Betrachtung des Kindes voraus; o die Zuständigkeitsaufteilung von Kindern mit und ohne Behinderung zwischen den Leistungssystemen Eingliederungshilfe und Jugendhilfe erschwert den Zugang zur Hilfestellung und fördert stigmatisierende/ separierende Effekte; o das für die Bedarfsfeststellung notwendige Begutachtungsverfahren wird von Eltern und Kindern häufig als belastend empfunden; o das bestehende Kita-System sowie der teilweise Vorherrschende Mangel an heilpädagogischen Fachkräften erschweren inklusive Entwicklungen und allgemein die Betreuung von Kindern mit Behinderung. Strukturell-betriebswirtschaftlich kann folgendes festgehalten werden: Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/ 1575 3 Budgetlösungen sind offenbar maximal inklusiv - sie wirken mehrdimensional und positiv auf Kinder, Qualität, Fachkräfte, Eltern. Unterstützung für alle Kinder , auch ohne einen Anspruch auf Eingliederungshilfe, erfolgt in Budgetmodellen zeitnah, bedarfsorientiert in pädagogischer und zeitlicher Hinsicht sowie ohne Verwaltungsaufwand auf Seiten des Trägers, der Eltern, als auch des öffentlichen Trägers. Budgetlösungen machen die Finanzmittelsituation für alle Beteiligten im System planbarer und wirtschaftlicher. Budgetlösungen können auch positiv auf die personelle Ausstattung der Kita wirken, da planbare Budgets die Möglichkeit von Festanstellungen im heilpädagogischen Bereich eröffnen, was sich günstig auf die Gewinnung von (heilpädagogischen ) Fachkräften auswirkt. Stigmatisierende Effekte treten in budgetorientierten Modellen weniger stark in den Vordergrund, denn die Zuschreibung möglichst großer Defizite ist nicht länger notwendig, um Ressourcen zu sichern. Das kann dem Kind unter Umständen langwierige und belastende Diagnoseverfahren ersparen und zu einer deutlichen Reduzierung des Verfahrensaufwandes führen. Bei Inklusionskonzepten und Verfahren zur Bedarfsfeststellung, bei denen das Begutachtungsverfahren im ersten Schritt heilpädagogisch im Kita-Alltag integriert ist, wurde benannt, dass Stigmatisierungseffekte gut kompensiert wurden. Die Erfahrungen aus den Budgetmodellen weisen darauf hin, dass Eltern von der Antragstellung auf Eingliederungshilfeleistungen absehen, wenn sichergestellt ist, dass die richtigen Förderleistungen beim Kind ankommen. Die Zahl der Anträge ist in den Budgetmodellen deutlich zurückgeblieben bzw. es wurden keine mehr gestellt. Gleichzeitig ist entgegen der Erwartungen zu Beginn des Modellprojektes die Einführung von Elternbeiträgen bei den Eltern selbst auf Akzeptanz gestoßen. Das momentane System lässt nach der Evaluation Anhaltspunkte dafür erkennen , dass die Eingliederungshilfe für Kinder mit speziellen Förderbedarfen, die eigentlich die Anspruchsvoraussetzungen hierfür nicht erfüllen, als Möglichkeit genutzt wird, um wichtige Unterstützungsmöglichkeiten eröffnen zu können (gemeint sind Kinder ohne Behinderung, aber mit „herausforderndem Verhalten “ oder chronisch kranke Kinder). Die Ursache hierfür liegt darin, dass für diese Kinder keine systematischen Unterstützungsleistungen im Regelsystem Kita vorgesehen sind bzw. aufgrund der personellen Ausstattung auch nicht geleistet werden können. Vor diesem Hintergrund werden sie in hohen Anteilen dem Personenkreis der Kinder mit Behinderung zugeordnet, um ergänzende Förderleistungen zu erhalten. Positiv bewertet werden ambulante Fachleistungsstunden. Diese zeigen im Durchschnitt niedrigere Fallkosten und sind eine flexible, bedarfsorientierte Leistung. Gleichzeitig ist über diese Form der Leistungsgewährung auch die Förderung von anspruchsberechtigten Kindern unter drei Jahren in der Kita möglich, während im momentanen System Integrations- und Einzelintegrationsmaßnahmen nur für Kinder über drei Jahren festgelegt sind. Im Zusammenwirken mit einer Flexibilisierung von Gruppenstrukturen in Eigenverantwortung der Kitas kann dies entlastend auf die Fachkräfte wirken, wenn diese zum Beispiel durch mehr Personal oder durch eine sinnvolle, bedarfsgerechte und nicht rein strukturell vorgegebene Gruppenzusammensetzung kompensiert wird. Drucksache 19/1575 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 4 Von den Eltern wurden die Veränderungen in den Modellkitas sehr überwiegend positiv aufgenommen. In den Budgetmodellen mit interner Begutachtung entsteht kein zusätzlicher Aufwand für die Eltern, dies wird als eine Entlastung empfunden . Begrüßt wird ebenfalls, dass kein langwieriges Antragsverfahren mehr nötig ist. Die Beratung der Erzieherinnen und Erzieher durch heilpädagogische Fachkräfte wird als positive Entwicklung hin zu einer Wirksamkeit des gesamten Teams empfunden. Insbesondere begrüßen die Eltern den Perspektivwechsel der Fachkräfte von einer eher defizit- hin zu einer kompetenz- und ressourcenorientierten Sichtweise auf das Kind. Von den beteiligten Fachkräften wurde der gesamtgesellschaftliche Nutzen inklusiven Arbeitens betont. Die gemeinsame Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung insbesondere in flexiblen, weniger stark etikettierenden Strukturen, fördert den Abbau von Vorurteilen und reduziert Diskriminierung. 3. Wie und wann werden die Erfahrungen und Ergebnisse des Modellversuches in die Kita-Landschaft übertragen? Antwort: Die Lenkungsgruppe des Modellprojekts beschäftigt sich seit Anfang des Jahres mit den Ergebnissen und der betriebswirtschaftlichen Evaluation. Im September 2019 soll die Lenkungsgruppe abschließend tagen. Ein dort erstellter Ergebnisbericht soll direkt im Anschluss in den laufenden Kita-Reformprozess einfließen. Dies wird in einer Arbeitsgruppe „Inklusion in der frühkindlichen Bildung und Betreuung “ geschehen, in der neben der Landesregierung (Eingliederungshilfe und Jugendhilfe) auch Vertreterinnen und Vertreter der Kommunalen Landesverbände , der LAG der Wohlfahrtverbände, der Landeselternvertretung, des Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung sowie der Modellprojekte mitwirken werden. Die Arbeitsgruppe wird sich grundlegende und konzeptionell-vorausschauende Gedanken zum Aspekt inklusive Kita in Schleswig-Holstein machen und gemeinsam eine pädagogisch und qualitativ wertvolle und zugleich finanzierbare Lösung einer inklusiven Kita in Schleswig-Holstein erarbeiten. Nach der im Kita-Reformgesetz vorgesehenen Evaluationsphase könnten dann die Erkenntnisse aus beiden Prozessen gesetzgeberisch verarbeitet werden. 4. Soll der Modellversuch fortgesetzt werden? Wenn ja, in welchen Regionen und wie lange? Antwort: Ja, es ist vorgesehen, die Förderung des Modellprojektes in der bestehenden Struktur unter dem Vorbehalt der dafür zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln zunächst fortzusetzen. 5. Ist eine Erweiterung des Modellversuches in andere Regionen geplant? Antwort: Nein. Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/ 1575 5 6. Wie wird der Modellversuch bzw. die Idee einer inklusiven Kita im neuen Kitagesetz berücksichtigt? Antwort: Der Gesetzentwurf enthält den inklusiven Ansatz einer behinderungsunabhängigen Grundförderung für alle Kinder in der Kindertagesbetreuung und ermöglicht neben der besonderen gesetzlichen Regelung für die Regelintegration die Platzzahlreduzierung in allen Altersgruppen. Damit wird nicht nur eine bislang bestehende Regelungslücke für die Krippenbetreuung beseitigt, sondern auch dem konsequent personenzentrierten und bedarfsorientierten Gedanken der Eingliederungshilfe Rechnung getragen, indem Platzzahlreduzierungen dann vorgenommen werden, wenn diese im Einzelfall behinderungsbedingt erforderlich sind. Die heilpädagogischen Angebote in Kindertagesstätten werden ergänzt durch die Leistungen der Frühförderung, so dass Kindern mit Behinderung oder von Behinderung bedrohten Kindern wohnortnahe, bedarfsgerechte Unterstützung und Förderung erhalten. Die Regelungen im Gesetzentwurf stellen sicher, dass die Kindertagesbetreuung für Kinder mit Behinderung infolge der Änderungen bei der Finanzierung der Kindertagesbetreuung , der Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes sowie des auf dieser Grundlage geschlossenen Landesrahmenvertrages Eingliederungshilfe nach In-Kraft-Treten des Gesetzes im Rahmen der Regel -und Einzelintegration umfassend sichergestellt werden. Des Weiteren wird auf die Ausführungen zu Frage 3 verwiesen.