SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 19/179 19. Wahlperiode 25.09.2017 Kleine Anfrage des Abgeordneten Stefan Weber (SPD) und Antwort der Landesregierung - Ministerium für Justiz, Europa, Verbraucherschutz und Gleichstellung Haftentweichungen in Schleswig-Holstein Vorbemerkung des Fragestellers: Am 22. August 2017 ist einem Strafgefangenen der Justizvollzugsanstalt Lübeck während eines begleiteten Ausganges die Flucht gelungen. Er saß seit 2011 wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung im Gefängnis in Lübeck. Er war zu neun Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden . Der Gefangene hatte nach Angaben der JVA seit September 2015 bereits fünfmal unter Aufsicht das Gefängnis verlassen dürfen, ohne dass es zu Problemen gekommen war. Vorbemerkung der Landesregierung: Der Strafgefangene befand sich im Rahmen einer Ausführung nach § 54 Abs. 1 LSt- VollzG SH außerhalb der JVA Lübeck. Es handelte sich nicht um einen Begleitausgang nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 LStVollzG SH. 1. Wie viele Haftausführungen gemäß § 54 Abs. 1 ff. Landesstrafvollzuggesetz- Schleswig-Holstein (LStVollzG SH) gab es in den Jahren 2012-2016 in Begleitung einer von der Anstalt zugelassenen Person (Begleitausgang), in den Justizvollzugsanstalten (JVA) Schleswig-Holsteins, und zwar in der JVA Itzehoe, Flensburg, Kiel, Lübeck, Schleswig? Bitte einzeln für jede JVA auflisten. Antwort: Ausführungen nach § 54 Abs. 1 ff LStVollzG SH werden seit dem 01.09.2016 Drucksache 19/179 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 2 durchgeführt. Die in den Jahren zuvor durchgeführten Ausführungen richteten sich nach §§ 11 Abs. 1 Nr. 2, 12, 35 StVollzG (Bund). Die Justizvollzugsanstalten führen in Basis-Web, einem EDV-Programm zur Gefangenenverwaltung, eine Statistik über die Anzahl der Ausführungen. Eine Differenzierung, welche Sicherungsmaßnahmen bei den Ausführungen angeordnet waren und welche Personen die ständige und unmittelbare Beaufsichtigung durchgeführt haben, enthält die Statistik in Basis-Web nicht und kann daher nicht mitgeteilt werden. Die Überprüfung einer jeden Ausführungsanordnung in jeder Gefangenenpersonalakte müsste händisch erfolgen und kann in der für die Beantwortung zur Verfügung stehenden Frist nicht erhoben werden. Die Statistiken „Ausführungsdaten“ in Basis-Web der Jahre 2012 – 2014 sind aus datenschutzrechtlichen Gründen bereits gelöscht. Folglich beschränkt sich die Antwort auf die Anzahl der Ausführungen in den Jahren 2015 und 2016. JVA 2015 2016 Itzehoe 8 2 Schleswig 104 198 Flensburg 10 5 Neumünster 143 152 Lübeck 225 293 Kiel 12 21 Gesamt 502 671 In 2015 wurden 502 Ausführungen und in 2016 wurden 671 Ausführungen durchgeführt. 2. Welche Gründe gab es in den Jahren 2012-2016 für Haftausführungen von Strafgefangenen in den JVA Itzehoe, Flensburg, Kiel, Lübeck, Schleswig? Bitte die Gründe einzeln für jede Haftanstalt auflisten. Antwort: Die Gründe einer Ausführung ergeben sich aus den einschlägigen Paragraphen des LStVollzG SH, s. Antwort 1. Die gesetzlichen Grundlagen gelten für alle Anstalten gleichermaßen. Demnach können Justizvollzugsanstalten Ausführungen im Einzelfall zur Vorbereitung von Lockerungen, zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit und aus wichtigem Anlass durchführen. 3. Wie viele Entweichungen gab es in den Jahren 2012-2016 bei Haftausführungen von Strafgefangenen in den JVA Itzehoe, Flensburg, Kiel, Lübeck, Schleswig? Bitte einzeln für jede JVA auflisten. Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/179 3 Antwort: Aufgrund der unter 1. dargestellten Gründe kann diese Frage nur für die Jahre 2015 und 2016 beantwortet werden: In 2015 ist es bei einer von insgesamt 502 Ausführungen zu einer Entweichung gekommen und zwar bei einer Ausführung der JVA Kiel. In 2016 ist es bei keiner von insgesamt 671 Ausführungen zu einer Entweichung gekommen. 4. Wie werden Strafgefangene auf eine Ausführung vorbereitet? Antwort: Zunächst erfolgt eine Prüfung, ob ein Grund für eine Ausführung vorliegt und diese unter Abwägung der Risiken für Flucht- und Missbrauchsgefahr verantwortet werden kann. Generell gilt, dass Ausführungen zielorientiert durchgeführt werden, das heißt, sie müssen einen Bezug zur Resozialisierung der Gefangenen haben. Insbesondere folgende Punkte werden mit den Gefangenen vor einer Ausführung abgeklärt: - Der konkrete Zweck der Ausführung. - Der Ort der Ausführung. - Welche Bediensteten begleiten den Gefangenen? - Welche Personen aus dem Umfeld des Gefangenen sind während der Ausführung zugegen? - Welche besonderen Situationen können sich im Laufe der Ausführung ergeben ? - Zeitlicher Rahmen der Ausführung und konkreter Ablauf. - Bekleidung der Gefangenen. - Kosten. Weiter werden den Gefangenen die Verhaltensregeln für eine Ausführung erläutert , insbesondere die ständige und unmittelbare Beaufsichtigung durch die mit der Durchführung beauftragten Begleitpersonen oder auch eine notwendig erscheinende Fesselung. Die Gefangenen werden auch belehrt, dass sie ohne Erlaubnis der Begleitbediensteten keine Gegenstände annehmen und auch nicht in die Anstalt einbringen dürfen. Ihnen wird ferner mitgeteilt, dass die Ausführung abgebrochen werden kann, wenn sie sich nicht regel- und weisungskonform verhalten oder die Umstände von dem vereinbarten Setting abweichen. Rein vorsorglich werden die Gefangenen darauf hingewiesen, dass Fehlverhalten während einer Ausführung in zukünftige Ermessensentscheidungen über Ausführungsanträge einfließt. 5. Aufenthalte außerhalb der Anstalt ohne Aufsicht (Lockerungen) können Gefangenen gemäß § 55 LStVollzG SH gewährt werden, wenn das Verlassen Drucksache 19/179 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 4 der Anstalt für bis zu 24 Stunden in Begleitung von der Anstalt zugelassenen ist. Gab es beim Begleitausgang in den Jahren 2012-2016 Entweichungen, und wenn ja, in welchen Justizvollzugsanstalten Schleswig-Holstein kam es zu dann zu Entweichungen? Bitte dann einzeln auflisten. Antwort: Wenn sich Gefangene im Rahmen eines Ausgangs der Begleitung entziehen und nicht pünktlich in die JVA zurückkehren, handelt es sich um eine Nichtrückkehr und nicht um eine Entweichung. Aufgrund der unter 1. dargestellten Gründe wird diese Frage für die Jahre 2015 und 2016 beantwortet: In 2015 sind alle Gefangenen aus einem begleiteten Ausgang pünktlich in die Anstalt zurückgekehrt. In 2016 haben sich zwei Gefangene bei einem begleiteten Ausgang der Begleitung entzogen. Es handelte sich dabei um einen Strafgefangenen der JVA Neumünster und eine Strafgefangene der JVA Lübeck. 6. Wie viele Vollzugsbeamte begleiten einen Gefangenen während eines Ausganges ? Antwort: Gefangene werden bei einem Ausgang in der Regel nicht begleitet. Bei einem Begleitausgang nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 LStVollzG SH werden Strafgefangene durch eine von der Anstalt zugelassene Person begleitet. 7. Treffen Presseberichte (Hamburger Morgenpost v. 24.08.2017, Kieler Nachrichten v. 24.08.2017) zu, dass der am 22. August 2017 geflohene Gefangene während seines Ausganges lediglich von einem Bediensteten der JVA und einem Seelsorger begleitet wurde? Antwort: Ja. 8. Wenn ja, ist es üblich, dass begleitende Seelsorger hierbei auch Sicherungsaufgaben übernehmen? Antwort: Begleitende Seelsorgerinnen und Seelsorger haben während einer Ausführung die Pflicht, den Gefangenen „ständig und unmittelbar zu beaufsichtigen“, siehe § 54 Abs. 1 LStVollzG SH. Diese Aufgabe obliegt jeder Person, die an einer Ausführung teilnimmt. Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode Drucksache 19/179 5 Weitergehende Sicherungsmaßnahmen dürfen die Seelsorgerin oder der Seelsorger nicht vornehmen. Sie sind nicht berechtigt, hoheitlich zu handeln und nicht verpflichtet, eine unmittelbare Nacheile vorzunehmen. Sollte die oder der Gefangene während der Ausführung Fluchtabsichten äußern oder es Hinweise dazu geben, soll durch Ansprache und durch Verstellen des Fluchtweges dergestalt auf die Gefangene oder den Gefangenen eingewirkt werden, dass sie oder er die Regeln der Ausführung einhält. Daher werden insbesondere solche Personen als Begleitpersonen zugelassen, die einen positiven Einfluss auf die Gefangene oder den Gefangenen haben und alleine durch ihre Anwesenheit die Gefangene oder den Gefangenen unterstützen, bei schwierigen Begegnungen beraten, bei Amtsgängen helfen, von Weisungsverstößen wie etwa gegen das Verbot, während des Ausgangs Alkohol zu konsumieren, und von der Begehung von Straftaten abhalten. Die Rechte der Seelsorgerin oder des Seelsorgers zur Notwehr, zur Nothilfe und das allgemeine Festhalterecht bleiben unberührt. Eine Seelsorgerin oder ein Seelsorger ist nicht verpflichtet, an einer Ausführung teilzunehmen. Die Teilnahme erfolgt freiwillig. 9. Wenn ja, ist das seelsorgerische Personal in den Justizvollzugsanstalten ausgebildet , Gefangene in einer solchen Situation zu überwachen und ggf. an der Flucht zu hindern? Antwort: Bei Ausführungen sind je nach Grad der von der oder dem auszuführenden Gefangenen ausgehenden Gefährdung Sicherungsmaßnahmen nach den Kategorien A bis D anzuordnen, ein entsprechender Katalog an Sicherungsmaßnahmen ist in dem gültigen Erlass vom 11.09.2017, inhaltsgleich mit Erlass vom 23.12.2016 und dem vom 06.05.2013, enthalten. Der vorliegende Fall wurde in Kategorie D eingeordnet, bei der von einer geringen Gefährdung ausgegangen wird, bei welcher eine Begleitung durch zwei Personen ausreicht. Entweder erfolgt die Begleitung durch zwei Bedienstete, je eine oder einer aus dem allgemeinen Vollzugsdienst und eine oder einer aus dem Werkdienst oder die Begleitung erfolgt durch eine oder einen Bediensteten aus dem Allgemeinen Vollzugsdienst oder dem Werkdienst und einer externen Person, die das besondere Vertrauen der Justizvollzugsanstalt genießt. Für die Umsetzung der Verpflichtung, sich ständig in unmittelbarer Nähe eines Gefangenen aufzuhalten, erfolgt eine angemessene und ausführliche schriftliche Belehrung. Das seelsorgerische Personal und alle Externen, die als Begleitperson für eine Ausführung der Kategorie D vorgesehen sind, werden in jedem Einzelfall in ihre Rolle und die damit verbundenen Aufgaben eingewiesen . Dabei wird klargestellt, dass für sie ebenfalls die Pflicht zur ständigen und unmittelbaren Beaufsichtigung der Gefangenen gilt. Drucksache 19/179 Schleswig-Holsteinischer Landtag - 19. Wahlperiode 6 10. Trifft es zu, dass der Gefangene eine Kommunikationspanne zwischen seinen beiden Begleitern zur Flucht genutzt hat? Antwort: Nach den übereinstimmenden Angaben der beiden Begleitpersonen ist der Strafgefangene aus dem Wohnzimmer heraus in den Wohnungsflur getreten, während beide Begleitpersonen den Strafgefangenen reden hörten und ohne die ständige und unmittelbare Beaufsichtigung abzustimmen, noch etwa 2 bis 3 Minuten im Wohnzimmer sitzen blieben. 11. Vertritt die Landesregierung die Auffassung, dass die “ständige und unmittelbare Beaufsichtigung“ von Gefangenen i.S. § 54 Abs. 1 LStrVollzG während eines Ausganges mit den Aufgaben der Gefangenenseelsorge i.S. § 88 LStr- VollzG vereinbar ist und im Einzelfall gleichsam von Bediensteten des Allgemeinen Vollzugsdienstes und Gefangenseelsorgern wahrgenommen werden kann? Antwort: Sobald eine „ständige und unmittelbare Beaufsichtigung“ der Gefangenen im Sinne von § 54 Abs. 1 LStVollzG SH gefordert ist, handelt es sich um eine Ausführung und nicht um einen Ausgang. Die Teilnahme von Seelsorgerinnen und Seelsorgern an Ausführungen ist mit den Aufgaben nach § 88 LStVollzG SH vereinbar. Die Teilnahme an einer Ausführung ist freiwillig.