29.10.2015 Drucksache 6/1246Thüringer LandTag 6. Wahlperiode Druck: Thüringer Landtag, 11. November 2015 Rehabilitierung und Entschädigung der in der DDR Zwangsausgesiedelten Die Kleine Anfrage 518 vom 10. September 2015 hat folgenden Wortlaut: Der Koalitionsvertrag der Parteien DIE LINKE, der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom November 2014 postuliert: "Die Anerkennung, Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern politischer Verfolgung in der ehemaligen DDR sind wichtige Elemente der histori schen Aufarbeitung der SED-Diktatur." (Koalitionsvertrag , Seite 28). Zur Gruppe der Opfer von SED-Unrecht gehören auch die Menschen, die in der DDR zwangsausgesiedelt wurden. Die Interessen dieser Gruppe wird vom "Bund der in der DDR Zwangsausgesiedelten e. V. (BdZ e. V.)" vertreten, der auf eine Lösung der Problematik drängt. Ich frage die Landesregierung: 1. Wird die Landesregierung daran festhalten, das im Koalitionsvertrag gegebene Ver sprechen, künftig auch die bisher vergessene Opfergruppe der Zwangsausgesiedelten "stärker im Rahmen des SEDUnrechtsbereinigungsgesetzes berücksichtigen" (Koalitionsvertrag, Seite 28 f.) zu wollen? 2. Wie viele Menschen in Thüringen sind dieser Opfergruppe zuzurechnen und damit direkt betroffen? 3. Auf welche finanzielle Gesamtsumme werden sich die jährlichen Ansprüche der betroffenen Opfergruppe in Thüringen belaufen? 4. Welche Maßnahmen plant die Landesregierung zur Umsetzung des im Koalitions vertrag angekündigten Ziels, "eine echte und uneingeschränkte Entschädigungsleistung ohne Bedürftigkeitsregelung zu erreichen " (Koalitionsvertrag, Seite 28)? 5. Beabsichtigt die Landesregierung analog zum Modell einer nichtanrechnungsfähigen Entschädigungszahlung beim sogenannten Heimkinderfonds auch für die Zwangs ausgesiedelten eine entsprechende Entschädigung? Falls nein, warum nicht? 6. Welche Beratungsstrukturen, die ebenfalls im Koalitionsvertrag festgeschrieben wurden, stehen den Betroffenen begleitend zur Verfügung? 7. Wo und in welcher Höhe sollen die eventuell angedachten Entschädigungsleistungen abgebildet werden? Soll ein entsprechender Titel in den Doppelhaushalt 2016/2017 eingearbeitet werden? K l e i n e A n f r a g e des Abgeordneten Wirkner (CDU) und A n t w o r t des Thüringer Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie 2 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/1246 8. Was unternimmt die Landesregierung, um das Wissen und die Erfahrungen der Opfergruppe der Zwangsausgesiedelten als Zeitzeugenquelle für die Nachwelt zu erhalten? Welche Forschungs- bzw. Zeitzeugenprojekte bestehen derzeit in Thürin gen und welche Projekte sind noch geplant? 9. Welche Forschungseinrichtungen bzw. welche Vereinigungen beschäftigen sich aktuell mit der historischen Aufarbeitung dieser Problematik? 10. Wie gestaltete sich bislang die Zusammenarbeit zwischen der Landesregierung und dem Opferverband "Bund der in der DDR Zwangsausgesiedelten e. V. (BdZ e. V.)"? Wie viele Treffen von Vertretern der Landesregierung und dem BdZ e. V. fanden seit Dezember 2014 statt? Das Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie hat die Kleine Anfrage namens der Lan desre gierung mit Schreiben vom 28. Oktober 2015 wie folgt beantwortet: Zu 1.: Ja Zu dem Begriff der "bisher vergessenen Opfergruppe der Zwangsausgesiedelten" ist allerdings darauf hinzuweisen , dass Ansprüche von Zwangsausgesiedelten auf Rehabilitierung und Entschädigung bereits im "Gesetz über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche (Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz - VwRehaG)" geregelt wurden. Das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz war als Artikel 1 des 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes vom 23. Juni 1994 beschlossen worden. Insoweit wird die Bezeichnung "vergessene" Opfergruppe der Behandlung dieser Personen in der Vergangenheit nicht gerecht. In § 1 Abs. 3 VwRehaG sind die Zwangsaussiedlungen aus dem Grenzgebiet der ehemaligen DDR sowie die mit ihnen in Zusammenhang stehenden Eingriffe in Vermögenswerte ausdrücklich als mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbare hoheitliche Maßnahmen anerkannt worden, die auf Antrag aufzuheben sind und Folgeansprüche nach Maßgabe dieses Gesetzes begründen. Folgeansprüche sind für gesundheitliche Schäden, für Eingriffe in Vermögenswerte oder für eine berufliche Benachteiligung vorgesehen (§§ 3 bis 8 VwRehaG). Anträge auf Aufhebung der rechtsstaatswidrigen Zwangsaussiedlungen können gemäß § 9 Abs. 3 VwRehaG noch bis zum 31. Dezember 2019 gestellt werden. Um auch den Zwangsausgesiedelten, die bisher keine der genannten Folgeansprüche geltend machen konnten, eine Entschädigung als Ausgleich für erlittenes Leid und oftmals jahrelang fortwirkendes Unrecht zu gewähren, wurde die Landesregierung mit Beschluss des Thüringer Landtages vom 14. November 1996 (Drucksache 2/1478, Nr. 2) aufgefordert, "eine Stiftung bürgerlichen Rechts zum Zwecke der flexiblen Vergabe von Zuwendungen und Hilfen an Zwangsausgesiedelte zu errichten bzw. die Errichtung einer Stiftung zu unterstützen". In Realisierung dieses Beschlusses wurde am 24. März 1997 die "Stiftung Zwangsausgesiedelten -Hilfe Thüringen" errichtet. Die Aufhebung der Stiftung wurde zum 30. Juni 2000 beschlossen. Die o. a. Ausführungen zeigen, dass diese Stiftung, die die Gruppe der Zwangsausgesiedelten über das vom Bundesgesetzgeber vorgesehene Maß hinaus entschädigt hat, einmalig in der Bundesrepublik Deutschland ist und war. In keinem anderen Bundesland existiert eine vergleichbare Entschädigungsregelung für die Opfer der Zwangsaussiedlungsaktionen. Zu 2.: Zum Stichtag 30. September 2015 liegen in Thüringen 1.120 Anträge auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz wegen einer geltend gemachten Zwangsaussiedlungsmaßnahme vor. (Anmerkungen: Da ein Antrag durch mehrere Personen (z. B. Erbengemeinschaft) gestellt werden kann bzw. eine Person mehrere Anträge wegen geltend gemachter, unterschiedlicher Folgen stellen kann, sind dadurch aber keine automatischen Rückschlüsse auf die Größe dieser Opfergruppe bzw. auf die Anzahl der von Zwangsaussiedlungsmaßnahmen direkt betroffenen Personen möglich). Nach dem Vermögensgesetz und dem Entschädigungsgesetz* wurden in Thüringen im Bereich der Unternehmensrestitution ca. 290 Anträge und im Bereich der Singularrestitution Anträge zu ca. 2.350 Vermögenswerten gestellt. Zu allen Anträgen sind vermögensrechtliche Entscheidungen ergangen. 3 Drucksache 6/1246Thüringer Landtag - 6. Wahlperiode Diese Antragszahl ist allerdings nicht mit der Zahl der von einer Zwangsaussiedlung betroffenen Menschen identisch, da vielfach ganze Familien zwangsausgesiedelt wurden. Zu 3.: Mit der Antragstellung auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung wegen einer geltend gemachten Zwangsaussiedlungsmaßnahme können im Thüringer Landesverwaltungsamt (TLVwA) keinerlei Geldleistungen beantragt werden. Angaben dazu, ob und in welchem Umfange aufgrund von dazu vorgenommenen Rehabilitierungen nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz sodann Geldleistungen im Rahmen von Folgeansprüchen bewirkt wurden, können deshalb nicht erfolgen. Zu 4.: Die Landesregierung prüft die Einleitung eines Bundesratsverfahrens. Es ist vorgesehen, den Sachverhalt hinsichtlich der Opfergruppe der Zwangsausgesiedelten im Rahmen der regelmäßig stattfindenden "IMAG-Aufarbeitung"-Sitzung zu thematisieren bzw. zu erörtern. Die Ergebnisse sollen sodann zunächst im Kreise der ostdeutschen Länder abgestimmt werden. Zu 5.: Derzeit ist keine länderspezifische Regelung vorgesehen. Der Heimkinderfonds ist ein Fonds des Bundes und der Länder. Für einen solchen Fonds für die Zwangsausgesiedelten ist keine Zustimmung erkennbar. Zu 6.: Die Beratungsinitiative Thüringen bietet allen betroffenen Bürgerinnen und Bürgern des Freistaats Thüringen die Möglichkeit, sich wohnortnah zu den Rehabilitierungsmöglichkeiten und die daran geknüpften Unterstützungs - und Ausgleichsleistungen zu informieren. In Trägerschaft des Caritasverbandes für das Bistum Erfurt e. V. und des Bürgerkomitees des Landes Thüringen e. V. arbeiten drei Berater/-innen im Auftrag des Landesbeauftragten des Freistaats Thüringen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (ThLA) vor Ort in Erfurt, Saalfeld und Gera. Darüber hinaus bieten sie in allen Landkreisen und kreisfreien Städten Informations- und Beratungstage an und suchen Betroffene auf eigenen Wunsch auch zu Hause auf. Ein weiteres Tätigkeitsfeld ist die psychosoziale Beratung von ehemals Verfolgten und deren Angehörigen, Hinterbliebenen und sonstigen Bezugspersonen sowie die Begleitung und Vermittlung von Betroffenen an weiterführende medizinisch -therapeutische Fachdienste und betreuende Einrichtungen. Die Beratungsinitiative wird unterstützt durch die Thüringer Staatskanzlei sowie durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin. Die Beratung der Bürger zu den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen (SED-UnBerG) ist eine Hauptaufgabe des ThLA. Er unterstützt Betroffene bei der Suche nach Unterlagen in Archiven und gewährt Unterstützung bei der Antragstellung auf Rehabilitierung nach den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen. Zu 7.: Zur Frage 7 wird auf die Antwort zu Frage 4 verwiesen. Zu 8. und 9.: Seit Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts gehen in Thüringen verschiedene geschichtspolitische Initiativen, Gedenkstätten, Grenzmuseen, Stiftungen und Bildungseinrichtungen den Spuren der Vergangenheit nach und leisten historische Grundlagenarbeit zur jüngeren deutschen Geschichte. Besonders intensiv bearbeitet werden die Themenfelder Grenze und Repressionen, wobei Zeitzeugen und deren Erfahrungen und besonders auch die Gruppe der Zwangsausgesiedelten eine wichtige Rolle spielen. Durch kontinuierliche Förderung dieser Arbeit hat der Freistaat in den zurückliegenden 20 Jahren die Rahmenbedingungen geschaffen, um das Wissen und die Erfahrungen der Opfergruppe der Zwangsausgesiedelten als Zeitzeugenquelle für die Nachwelt zu erhalten. Für die von Thüringen geförderten Grenzmuseen Deutsch-Deutsches Museum Mödlareuth, Grenzlandmuseum Eichsfeld in Teistungen, Grenzlandmuseum Schifflersgrund, Point Alpha Stiftung ist die Thematik der Zwangsaussiedlungen Bestandteil der Arbeit in den Ausstellungen, Besucherinformationen, bei der Arbeit mit Schulgruppen oder in Erzählcafés. Die Grenzmuseen haben zwangsausgesiedelte Familien aus grenznahen Dörfern ermittelt und beziehen diese Gruppe als Zeitzeugen bei Museumsführungen und für Zeitzeugengespräche ein. Die Geschichte dieser Zeitzeugen wird in Zeitzeugeninterviews aufgezeichnet und ist z. B. als Themenkomplex in den Dauerausstellungen der Grenzmuseen Teistungen und Point Alpha zu sehen und auch zu hören. Die Point Alpha Stiftung hat die Geschichte der Zwangsaussiedlungsaktionen im Geisaer Amt von 1952 und 1961 umfangreich dokumentiert und plant dazu im kommenden Jahr ein Medienprojekt. Das Grenzmuseum Schifflersgrund ist zurzeit mit der Erstellung einer Dokumentation befasst. Die Geschichtswerkstatt 4 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/1246 Jena e. V. publiziert in der Zeitschrift "Gerbergasse 18" seit vielen Jahren Artikel zum Thema Zwangsaussiedlung . Auch für die Gedenkstätte Amthordurchgang in Gera gehört die Thematik der Zwangsaussiedlungen zum Gesamtprogramm der Zeitzeugeninterviews. Im Rahmen der "Richtlinie zur Förderung der Forschung" wurden aktuell keine Anträge auf Projektförderung gestellt. Zu 10.: Neben Kontakten und Gesprächen im Rahmen von Fachtagungen gab es ein Arbeitsgespräch beim Thüringer Ministerpräsidenten, an dem zudem die Staatssekretärin für Kultur und Europa teilnahm. Werner Ministerin Endnote: * Betrifft Fälle, in denen, eine Zwangsaussiedlung zur Entziehung von Vermögenswerten geführt hatte und für die nach erfolgter Rehabilitierung ein Antrag auf Rückübertragung oder Entschädigung gestellt wurde.