10.11.2015 Drucksache 6/1276Thüringer LandTag 6. Wahlperiode Druck: Thüringer Landtag, 18. November 2015 Erkenntnisse zur Bürgerwehr Gerstungen Die Kleine Anfrage 503 vom 1. September 2015 hat folgenden Wortlaut: Laut Medienberichten* ist in Gerstungen im Wartburgkreis eine sogenannte Bürgerwehr aktiv. Die Facebookseite der Bürgerwehr habe zum Zeitpunkt der Berichterstattung 2.700 Mitglieder geführt. Aktionen der Bürgerwehr sollen dabei zum Beispiel sogenanntes "Streife fahren" und anschließende Warnungen vor nach Ansicht der Bürgerwehr "verdächtigen Personen" gewesen sein. Ich frage die Landesregierung: 1. Welche Erkenntnisse liegen der Landesregierung hinsichtlich Organisation, personeller Stärke, Zusammensetzung , Herkunft, Anführerschaft, Motivation und Gesinnung, durchgeführter Aktionen, öffentlicher medialer Aktivitäten (Nutzung Internet, soziale Netzwerke) sowie Straf- oder Ordnungswidrigkeitsverfahren von Mitgliedern der Bürgerwehr Gerstungen vor? 2. Wie bewertet die Landesregierung die vorliegenden Erkenntnisse und welche Maßnahmen sind bzw. sollen diesbezüglich eingeleitet werden? 3. Welche Erkenntnisse liegen der Landesregierung über die Teilnahme von als rechtsextrem eingeschätzten Personen an der Bürgerwehr in Gerstungen und Umgebung vor? 4. Liegen der Landesregierung Erkenntnisse über Verbindungen von Mitgliedern der Bürgerwehr zur NPD oder anderer rechtsextremer Parteien oder Organisationen vor? Wenn ja, welcher Art, mit welchen regionalen Bezügen und wie werden diese gegebenenfalls eingeschätzt? 5. Liegen der Landesregierung Erkenntnisse zu Verbindungen oder Aktivitäten der im Raum Gerstungen aktiven sogenannten Nationalen Jugend vor und wie schätzt sie dies gegebenenfalls ein? 6. Gab oder gibt es Formen der Zusammenarbeit zwischen Mitgliedern der Bürgerwehr und der Polizeidienststellen ? Falls ja, wie stellen sich diese dar? 7. Haben sich auch außerhalb der Gemeinde Gerstungen in Thüringen sogenannte Bürgerwehren gegründet (falls ja, bitte nach Gemeinden aufgliedern)? 8. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung über diese anderen sogenannten Bürgerwehren in Thüringen ? K l e i n e A n f r a g e des Abgeordneten Walk (CDU) und A n t w o r t des Thüringer Ministeriums für Inneres und Kommunales 2 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/1276 Das Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage namens der Lan desregierung mit Schreiben vom 9. November 2015 wie folgt beantwortet: Zu 1.: Bei der sogenannten "Bürgerwehr Untersuhl, Gerstungen und Umgebung" handelt es sich um eine im Juni 2015 über das soziale Netzwerk Facebook bekannt gewordene Gruppe mit aktuell ca. 2.600 Facebook -Mitgliedern. Bei der Gruppe sind gegenwärtig keine nach außen hin sichtbaren Indizien für das Vorliegen einer Vereinigung nach Vereinsrecht erkennbar. Es geht um das Zusammenwirken von Einzelpersonen , welche sich über Facebook zu den Vorkommnissen in Gerstungen und Umgebung (nach objektiver und subjektiver Wahrnehmung der Häufung von Wohnungs- und Hauseinbrüchen) austauschen und einander Hinweise geben. Es ist ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen innerhalb der Einträge der Nutzergruppe anhängig. Der Landesregierung liegen Erkenntnisse vor, dass ein Teil der Mitglieder, insbesondere auch einer der Mitbegründer der Gruppe, in der Vergangenheit wegen verschiedener Straftaten, u. a. politisch motivierter Straftaten - Rechts, in Erscheinung getreten sind. In ihrer Gesamtheit ist die sogenannte "Bürgerwehr Untersuhl, Gerstungen und Umgebung" kein Beobachtungsobjekt des Amtes für Verfassungsschutz. Zu 2.: Im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung haben alle Deutschen das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden (Artikel 9 Grundgesetz); jedoch dürfen sich Vereinigungen nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten oder den Strafgesetzen zuwiderlaufen. Das Gewaltmonopol des Rechtsstaates darf nicht angetastet werden. Von der Thüringer Polizei wurden zum Schutz und zur Sicherheit der Bürger umgehend nach Bekanntwerden der "Bürgerwehr Untersuhl, Gerstungen und Umgebung" umfangreiche Maßnahmen eingeleitet, wie: • Erhöhung der sichtbaren Präsenz im Nahbereich durch Kräfte der Polizeiinspektion Eisenach, • Einsatz von Zivilstreifen zu Schwerpunktzeiten, • Einsatz des Kontaktbereichsdienstes Gerstungen sowie des Polizeipostens Berka/Werra in Schwerpunktdiensten mit angepasster Dienstzeitverlagerung, • tägliche Kontaktaufnahme mit der Gemeinschaftsunterkunft Gerstungen durch den Kontaktbereichsdienst, • lageangepasste Bestreifung der Gemeinschaftsunterkunft Gerstungen sowie Kontaktaufnahme mit dem Wachpersonal außerhalb der Regeldienstarbeitszeit durch die Polizeiinspektion Eisenach, • tägliche Lageauswertung, • Informationsaustausch mit der Gemeinde Gerstungen, • Durchführung einer Präventionsveranstaltung zum Thema "Einbruchsschutz". Zu 3.: Einer der Mitbegründer war in der Vergangenheit im rechtsextremistischen Spektrum in der Region aktiv, ist jedoch in den letzten Jahren in diesem Zusammenhang nicht mehr öffentlich aktiv in Erscheinung getreten. Darüber hinaus liegen keine Erkenntnisse über eine aktive Beteiligung von Rechtsextremisten an der "Bürgerwehr " vor. Die Motivation zur Gründung der Gruppe, gerade im Hinblick auf die Verdächtigung von Asylbewerbern , entspricht allerdings den im rechtsextremistischen Spektrum gängigen Argumentationen. Hier könnte deshalb ein Anknüpfungspunkt für Rechtsextremisten vorliegen. Tatsächlich befinden sich auch einige Rechtsextremisten unter den Mitgliedern der Facebook-Gruppe "Bürgerwehr Untersuhl, Gerstungen und Umgebung". Zu ihnen gehören bekannte NPD-Funktionäre aus dem Eisenach-Wartburgkreis. Es liegen jedoch keine Erkenntnisse darüber vor, dass die Aktivitäten über deren Mitgliedschaft in der FacebookGruppe hinausgehen. Zu 4: Hierzu liegen keine belastbaren Erkenntnisse vor. Es ist bekannt, dass in einigen Fällen Beiträge der Bürgerwehr auf Internetseiten der NPD abgebildet wurden. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 3 verwiesen. 3 Drucksache 6/1276Thüringer Landtag - 6. Wahlperiode Zu 5.: Gesicherte Erkenntnisse über eine Mitarbeit von Angehörigen der "Nationalen Jugend (NJ)" Eisenach-Wartburgkreis in der Facebook-Gruppe "Bürgerwehr Untersuhl, Gerstungen und Umgebung" liegen nicht vor. Veröffentlichungen auf ihrem Facebook-Profil deuten jedoch auf eine mögliche Mitarbeit hin. So verlinkte die "NJ Eisenach-Wartburgkreis" einen Beitrag der "Thüringischen Landeszeitung" zur Gründung einer "Bürgerwehr" in Gerstungen auf ihrer Facebook-Seite. Auch wurde dort ein Foto mit der Überschrift "Aktiv in Gerstungen, aktiv gegen Asylbetrüger" veröffentlicht. Es handelt sich um eine Nachtaufnahme , auf der lediglich Schemen von vier Personen zu erkennen sind. Dies könnte auf eine Beteiligung von "NJ-Mitgliedern" an den "Streifengängen" der "Bürgerwehr" hinweisen. Zu 6.: nein Zu 7.: Der Landesregierung liegen zusätzlich Informationen zu den nachfolgend aufgeführten Gruppierungen vor, die sich selbst als "Bürgerwehr" bezeichnen bzw. bei denen ein vergleichbares Selbstverständnis anzunehmen ist: • "Anti-Einbruchgruppe Hildburghausen" Nach aktuellem Erkenntnisstand ist der Facebook-Account dieser "Bürgerwehr" jedoch nicht mehr im sozialen Netzwerk vorhanden. • "Deutsches Polizei Hilfswerk" (DPHW) Das DPHW gab am 29. Juni 2013 auf dessen Internetpräsenz seine vermutliche Auflösung bekannt. Seither waren in Thüringen keine Aktivitäten mehr zu verzeichnen. • "Bürgerwehr Tiefenort" (Wartburgkreis) Hierbei handelt es sich um eine geschlossene Facebook-Gruppe, deren Begründer unter dem Pseudonym "Desda Wegen" auftritt. • "Bürgerwehr" Arnstadt Die "Bürgerwehr" ist bisher nur durch ein Auftreten bei einer Streife im Wohngebiet Rabenhold belegt. Es liegt ein Hinweis auf eine Facebook-Gruppe "Stadtwache Arnstadt" vor. • "Bürgerwehr" Tabarz Die Aktivitäten und Teilnehmer sind örtlich begrenzt. Nach Angaben der Vereinigung führt sie "Streifenfahrten " durch. • "Bürgerwehr Paffschwende" Sie ist der Landesregierung lediglich durch einen Zeitungsartikel in der Thüringer Allgemeinen vom 14. Juli 2015 bekannt. Zu 8.: Im Oktober 2014 hatten Mitglieder der "Anti-Einbruchgruppe Hildburghausen" mit 13 Fahrzeugen versucht, vermeintliche rumänische Einbrecher zu stellen. Bei der Verfolgungsjagd kam es zu mehreren Unfällen. Gegen drei mutmaßliche Mitglieder der Gruppe wurde zwischenzeitlich Anklage wegen Nötigung, Gefährdung des Straßenverkehrs und in einem Fall wegen versuchter Körperverletzung vor dem Amtsgericht Hildburghausen erhoben. Gegen eine weitere Person hat die Staatanwaltschaft Meiningen einen Strafbefehl wegen Nötigung beantragt. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 7 verwiesen. Dr. Poppenhäger Minister Endnote: * Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/thueringen-eine-buergerwehr-macht-angst-1.2590241 vom 1. August 2015.