24.03.2016 Drucksache 6/1942Thüringer LandTag 6. Wahlperiode Druck: Thüringer Landtag, 13. April 2016 Auswirkungen der Industrie 4.0 auf den Thüringer Arbeitsmarkt Die Kleine Anfrage 849 vom 2. Februar 2016 hat folgenden Wortlaut: Laut dem Internetauftritt des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft steht der Begriff Industrie 4.0 für die vierte industrielle Revolution, in deren Verlauf die klassische Produktion mit dem Internet zusammenwächst. Einer BITKOM-Studie zufolge kann der Prozess in sechs volkswirtschaftlich zentralen Branchen, darunter Maschinen- und Anlagenbau, Elektrotechnik und chemische Industrie, bis zum Jahr 2025 für Produktivitätssteigerungen von 78,5 Milliarden Euro sorgen. Laut einer aktuellen Veröffentlichung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wird die Industrie 4.0 zu einer beschleunigten Entwicklung des Strukturwandels hin zu Dienstleistungen führen. Weiter heißt es dort: "IT-Berufe und Lehrende Berufe profitieren, Berufe des Verarbeitenden Gewerbes und hier vor allem die Maschinen und Anlagen steuernden und wartenden Berufe sind dagegen vom Personalabbau am stärksten betroffen. Die Nachfrage nach höher Qualifizierten nimmt zu Lasten von Personen mit Berufsabschluss sowie ohne abgeschlossene Berufsausbildung zu. Der Bedarf an Berufen mit hohem Routine-Anteil geht zurück." Ich frage die Landesregierung: 1. Wie bewertet die Landesregierung die Chancen und Risiken der Industrie 4.0 und wie begründet sie dies? 2. Von welchen Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau in Thüringen geht die Landesregierung aus? In welchen konkreten Branchen rechnet die Landesregierung mit einem Beschäftigungsrückgang und in welchen Branchen mit einem Beschäftigungszuwachs? 3. Wie wird sich die qualifikationsspezifische Arbeitslosenquote in Thüringen voraussichtlich entwickeln? 4. Welche Mittel nutzt die Landesregierung, um die voraussichtlichen Auswirkungen der Industrie 4.0 zu prognostizieren? 5. Wie bewertet die Landesregierung die Entwicklungen vor dem Hintergrund des nahenden Fachkräftebeziehungsweise Facharbeitermangels und wie begründet sie ihre Aussage? 6. Inwiefern kann die Entwicklung der Industrie 4.0 nach Ansicht der Landesregierung eine Gefahr für die berufliche Integration von Asylbewerbern darstellen? K l e i n e A n f r a g e des Abgeordneten Henke (AfD) und A n t w o r t des Thüringer Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie 2 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/1942 7. Wie wird die Landesregierung die Auswirkungen der Entwicklungen steuern und insbesondere Geringqualifizierte vor der drohenden Arbeitslosigkeit schützen? Das Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie hat die Kleine Anfrage namens der Lan desre gierung mit Schreiben vom 23. März 2016 wie folgt beantwortet: Zu 1.: Unter dem Begriff Industrie 4.0 wird gemeinhin die laufende Digitalisierung von Produktionsprozessen und Wertschöpfungsketten im produzierenden Gewerbe verstanden. Die Chancen für die Thüringer Industrie bestehen grundsätzlich in der Partizipation am prognostizierten Wachstum infolge der durchgängigen Digitalisierung industrieller Wertschöpfung (zum Beispiel schätzt Roland Berger Strategy Consultants, RBSC, dieses bis 2025 in Deutschland auf cirka 425 Milliarden Euro), in der Generierung von Wettbewerbsvorteilen und der Erreichung einer höheren Wettbewerbsfähigkeit. Auf Thüringen bezogene mögliche weitere Chancen liegen darin, den strukturellen Nachteil der Kleinteiligkeit in einen Vorteil umzuwandeln, wenn es dem Thüringer Mittelstand gelingt, sich stärker zu vernetzen, zum Beispiel über neue Organisationsformen, wie kooperative Wertschöpfungsmodelle und internetbasierte Plattformen. Eine vom Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft im Dezember 2015 in Auftrag gegebene Studie zu Industrie 4.0 wird darüber hinaus eine SWOT-Analyse* enthalten , in der die Chancen und Risiken dargestellt werden sollen. Unternehmen, die sich der Digitalisierung nicht stellen, laufen langfristig Gefahr, an dieser Entwicklung nicht teilzuhaben und gegebenenfalls auch ihren Wettbewerbsvorteil zu verlieren. Zu 2.: Der Landesregierung liegen bislang keine Erkenntnisse oder belastbare Zahlen vor, die geeignet sind, die unmittelbaren Auswirkungen von "Industrie 4.0" auf den Arbeitsmarkt adäquat abzubilden. Bislang wurden in diesem Zusammenhang keine Daten erhoben. Zu 3.: Eine Prognose zur qualifikationsspezifischen Arbeitslosenquote in Thüringen liegt der Landesregierung nicht vor. Generell ist festzustellen, dass Arbeitslosigkeit unter Akademikern und Facharbeitern beziehungsweise Erwerbspersonen mit mittlerer Qualifikation gering ist, während insbesondere Personen ohne Berufsabschluss davon stark betroffen sind. Dies belegen auch die Zahlen des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus dem Jahr 2013. Demnach lag die Arbeitslosenquote bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen in Deutschland unter Hochschul- beziehungsweise Fachhochschulabsolventen bei 2,5 Prozent, bei Personen mit beruflicher Ausbildung oder Fachschule bei 5,1 Prozent und bei Personen ohne Berufsabschluss bei 20 Prozent. Die Arbeitslosenquote insgesamt lag im Jahr 2013 bei 7,0 Prozent. Das Risiko der Arbeitslosigkeit hängt folglich eng mit der Qualifikation zusammen: je niedriger diese ist, desto schlechter ist die Position auf dem Arbeitsmarkt. Zu 4.: Um für Thüringen belastbare Einschätzungen zum aktuellen Stand und Aussagen zu Entwicklungsperspektiven und notwendige Handlungsbedarfen zu erhalten, hat das Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft im Dezember 2015 den Auftrag zur Erarbeitung einer Studie zu Industrie 4.0 in Thüringen an ein Konsortium, bestehend aus den Fraunhofer Instituten für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) und für System- und Innovationsforschung (ISI) mit Unterauftrag an die drei Thüringer Industrie- und Handelskammern, vergeben. Die Ergebnisse der Studie werden genutzt, um konkrete Maßnahmen zur Unterstützung von Industrie 4.0.-Aktivitäten , auch zum Bereich Arbeit und Bildung, abzuleiten. 3 Drucksache 6/1942Thüringer Landtag - 6. Wahlperiode Zu 5.: Nach den Ergebnissen der aktuellen Fachkräftestudie schätzt die Landesregierung ein, dass die Entwicklung der kommenden Jahre durch einen hohen Ersatz- beziehungsweise Erweiterungsbedarf geprägt sein wird. Bis zum Jahr 2025 wird von einem Bedarf von insgesamt 280.000 Fach- und Arbeitskräften in Thüringen ausgegangen. Insbesondere im verarbeitenden Gewerbe (70.000 Personen), im Bereich der Unternehmensnahen Dienstleistungen (68.800 Personen) sowie im Gesundheits- und Sozialwesen (67.000 Personen) werden zeitnah Arbeitskräfte in erheblicher Größenordnung benötigt. Darüber hinaus geht aus der aktuellen Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit vom November 2015 hervor, dass es in folgenden Berufssegmenten bereits Engpässe an Fachkräften gibt: • Fertigungsberufe (beispielsweise Feinwerk- und Werkzeugtechnik, Metallbau und Schweißtechnik); • fertigungstechnische Berufe (beispielsweise Mechatronik und Automatisierungstechnik, Fahrzeug-, Luft-, Raumfahrt-, Schiffbautechnik); • Bau- und Ausbauberufe (beispielsweise Klempnerei, Sanitär, Heizung, Klimatechnik) und • medizinische und nichtmedizinische Gesundheitsberufe (beispielsweise Human- und Zahnmedizin, Alten - und Krankenpflege Rettungsdienst und Geburtshilfe). Der wirtschaftliche, technologische und qualifikationsspezifische Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt im Sinne von "Industrie 4.0" wird zum einen zu einer verstärkten Nachfrage nach gut qualifizierten Fachkräften für spezialisierte Aufgabenbereiche und in spezifischen Berufsfeldern führen. Zum anderen ist abzusehen , dass dieser Wandel zu Herausforderungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer führen kann, die den veränderten Anforderungen nicht entsprechen. In Thüringen lag der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, laut einer Erhebung der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2012 bei 8,6 Prozent . Dieser war im Vergleich zum bundesdeutschen Durchschnitt (16,5 Prozent) annähernd halb so hoch. Der Anteil der Hochqualifizierten lag mit 12,1 Prozent ähnlich hoch wie der Bundesdurchschnitt (13,1 Prozent ), während der Anteil der Facharbeiter mit 79,3 Prozent in Thüringen stark dominiert (Bundesdurchschnitt 70,2 Prozent). Um den steigenden Fachkräftebedarf vor allem im mittleren Qualifikationssegment zu decken, ist es notwendig , das vorhandene Qualifizierungs-, Aufstiegs- und Fachkräftepotential zu erschließen und auszuschöpfen . Darüber hinaus müssen insbesondere die beruflichen Perspektiven von am Arbeitsmarkt benachteiligten Personengruppen durch Weiterbildung beziehungsweise Nachqualifizierungen nachhaltig verbessert werden. Nur so kann Langzeitarbeitslosigkeit wirksam verhindert beziehungsweise bekämpft werden. Zu 6.: Die Landesregierung verfügt über keine Erkenntnisse darüber, dass eine Gefahr für die Arbeitsmarktintegration von Migranten, geflüchteten Menschen und Asylsuchenden durch die prognostizierten Auswirkungen des wirtschaftlichen und technologischen Strukturwandels auf den Arbeitsmarkt bestehen könnte. Zu 7.: Industrie 4.0 birgt Chancen und Herausforderungen für den thüringischen Arbeitsmarkt. Die Landespolitik ist gefordert, Veränderungen im Anforderungsprofil, die Arbeitgeber an Arbeitnehmer stellen, unter anderem mit neuen Inhalten in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, aber auch der gezielten Schulung in den betroffenen Unternehmen aktiv zu begleiten. Eine aktive Begleitung bedarf zudem der Einbeziehung von Erkenntnissen von Sozialpartnern, Unternehmensverbänden sowie aus Wissenschaft und Forschung, um die einzelnen Unternehmen zu befähigen, adäquat die Aus- und Weiterbildung der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Anforderungen der zukünftigen Arbeitswelt auszurichten. Und es werden Dienstleister gebraucht, welche diese neue Art der Aus- und Weiterbildung gezielt, sowie auf die jeweilige Branche beziehungsweise die konkreten Bedürfnisse bezogen, leisten und unterstützen können. 4 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/1942 Die Landesregierung wird hierzu Handlungsempfehlungen entsprechend der Ergebnisse der vom Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft in Auftrag gegebenen Studie Industrie 4.0 im Bereich Arbeit und Bildung in den weiteren Prozess einspeisen. Daneben hat die Landesregierung bereits - ESF-kofinanzierte - Förderinstrumente zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit sowie zur Fachkräftesicherung und -gewinnung etabliert: 1. Mit der Integrationsrichtlinie werden Möglichkeiten zur Unterstützung der sozialen und beruflichen Integration von Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien, Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen geschaffen. Gefördert werden Projekte zur individuellen Integrationsbegleitung, sozialpädagogisch begleitete Qualifizierungsmaßnahmen sowie berufliche Integrationsprojekte zur Verbesserung der Chancengleichheit und zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. 2. Über die Ausbildungsrichtlinie werden Programme zur Verbesserung der beruflichen Ausbildung mit dem Ziel gefördert, zahlreiche unbesetzte Ausbildungsplätze, die Zahl Jugendlicher ohne Berufsabschluss sowie die hohen Vertragslösungsquoten zu reduzieren. Geförderte überbetriebliche Lehrgänge ergänzen die betriebliche Ausbildung. Leistungsschwächere Jugendliche sowie Migranten und Asylbewerber erhalten durch individuelle Betreuung während der Ausbildung die Chance auf eine erfolgreiche betriebliche Ausbildung. 3. Die Weiterbildungsrichtlinie stellt betriebliche und arbeitsweltbezogene Vorhaben zur Weiterbildung und Nachqualifizierung in den Mittelpunkt der Förderung. Gefördert werden deshalb unter anderem: berufsbegleitende modularisierte Weiterbildungsangebote, zielgruppenspezifische Fort- und Weiterbildungsangebote für Ältere und Geringqualifizierte sowie Fort- und Weiterbildungsvorhaben für sich entwickelnde neue Einsatzfelder. Insbesondere werden Vorhaben gefördert, die das langjährige Erfahrungswissen älterer Beschäftigter unterstützen. 4. Seit 2015 steht mit der Fachkräfterichtlinie ein Instrument zur Verfügung, das Projekte zur Ermittlung von Qualifizierungsbedarfen in Thüringer Unternehmen fördert und Thüringer Unternehmen bei der Sicherung und Gewinnung von Fachkräften unterstützt. Im Fokus stehen dabei unter anderem Vorhaben zu passgenauen Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Beschäftigte, zur Erschließung der Fachkräftepotentiale von Migranten und Asylbewerbern oder zur Etablierung beziehungsweise zum Ausbau von Kooperationsbeziehungen zwischen den Hochschulen und Universitäten und der Thüringer Wirtschaft. Darüber hinaus erweitert die im Oktober 2015 in Kraft getretene Richtlinie zum Öffentlich Geförderten Beschäftigungssektor (ÖGB) die bestehende, ESF-finanzierte und auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtete Förderstruktur. Zusammen mit der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen der Bundesagentur für Arbeit werden bis zu 1.000 gemeinwohlorientierte Arbeitsplätze (bis Sommer 2016) bei Vereinen, Kommunen und sozialen Einrichtungen für langzeitarbeitslose Personen gefördert, die derzeit keine reguläre Beschäftigungsperspektive haben. Die Plätze sind im öffentlichen Interesse und verdrängen keine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ziel ist es, die Beschäftigungsfähigkeit der Teilnehmenden zu stärken. Mit dem Landesprogramm "Arbeit für Thüringen" (LAT) wurde in 2015 eine weitere wichtige Weiterentwicklung des Landesarbeitsmarktprogramms vorgenommen. Mit der ebenfalls im Oktober 2015 in Kraft getretenen Richtlinie LAT wurde ein flexibel einsetzbares Förderangebot geschaffen, dass die Nachhaltigkeit der oben genannten Maßnahmen unterstützt und insbesondere auch die Förderung von Integrationsprojekten für geflüchtete Menschen und Asylsuchende ermöglicht. Hier ist Thüringen Vorreiter im Vergleich mit anderen Bundesländern. Aufgrund der aktuellen Situation wird das Programm vor allem zur Förderung der beruflichen Integration von Asylsuchenden genutzt. Die ersten Projekte starteten bereits Ende 2015. Sie verbinden Integration durch berufliche Bildung und Spracherwerb mit der Heranführung an die örtliche Sozialstruktur. Werner Ministerin Endnote: * Engl. Akronym für Strengths (Stärken), Weaknesses (Schwächen), Opportunities (Chancen) und Threats (Gefahren ); es handelt sich um ein Instrument der Strategischen Planung, die der Positionsbestimmung und der Strategieentwicklung von Unternehmen und anderen Organisationen dient. Auswirkungen der Industrie 4.0 auf den Thüringer Arbeitsmarkt Ich frage die Landesregierung: Zu 1.: Zu 2.: Zu 3.: Zu 4.: Zu 5.: Zu 6.: Zu 7.: Endnote: