03.05.2016 Drucksache 6/2109Thüringer LandTag 6. Wahlperiode Druck: Thüringer Landtag, 23. Mai 2016 Schulpflichtige Flüchtlingskinder mit Behinderungen und Lernbeeinträchtigungen in Thüringen Die Kleine Anfrage 974 vom 17. März 2016 hat folgenden Wortlaut: In Deutschland haben alle Kinder und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter ein Recht auf Bildung. Mit dem Zustrom von Flüchtlingen steht das Bildungssystem auch in Thüringen vor einer großen Herausforderung und Verantwortung. Neben der nötigen Sprachförderung in Deutsch ist in man chen Fällen aufgrund einer Behinderung weiterer Förderbedarf für Flüchtlingskinder vorhanden. Ob ein Schulkind dahin gehend Förderbedarf hat, wird generell durch sonderpädagogische Diagnostik und ein gesondertes Gutachten zum Beschulungsbedarf festgestellt. Problematisch stellt sich aber die Erfassung von Flüchtlingskindern mit Förderbedarf dar. Auch bei ihnen müssen Be hinderungen in den Bereichen Hören, Sehen, Sprache, körperliche und motorische Entwicklung, sozial-emotionale Entwicklung, geistige Entwicklung und Lernentwicklung diagnostiziert werden. Nur so kann Flüchtlingskindern eine optimale Förderung an den regulären Schulen beziehungsweise der Besuch einer Schule mit entsprechendem Förderschwerpunkt ermöglicht werden. Ich frage die Landesregierung: 1. Wie stellt sich die Situation von behinderten und lernbeeinträchtigten Flüchtlingskindern in Thüringen dar bezüglich a) der Unterbringung? b) der ärztlichen Versorgung? c) der Unterbringung in Kindertagesstätten? d) des Schulbesuchs? 2. Teilt die Landesregierung die Einschätzung, dass betroffene Flüchtlingskinder eine Förderdiagnostik bekommen sollten, um die bestmöglichen Chancen auf Schulbildung zu be kommen? 3. Welche Probleme und Herausforderungen sieht die Landesregierung bei der sonderpädagogischen Diagnostik von Flüchtlingskindern im Gegensatz zu deutschen Kindern? 4. Gibt es an Thüringer Schulen bereits Flüchtlingskinder mit Förderdiagnose? Wenn ja, wie viele davon besuchen eine reguläre Schule und wie viele eine Förderschule? K l e i n e A n f r a g e der Abgeordneten Meißner (CDU) und A n t w o r t des Thüringer Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport 2 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/2109 5. Welche Möglichkeiten sieht die Landesregierung, die Förderdiagnostik von schulpflichtigen Flüchtlingskindern zu erleichtern? 6. Sieht die Landesregierung die Notwendigkeit von mehr Fachpersonal in den Schulen auf grund von Flüchtlingskindern mit Förderbedarf (Sozialpädagogen, Schulpsychologen, För derschullehrer)? Das Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport hat die Kleine Anfrage namens der Lan desregierung mit Schreiben vom 2. Mai 2016 wie folgt beantwortet: Zu 1.: a) Asylbewerber werden in den Thüringer Landkreisen und kreisfreien Städten nach Maßgabe der Thüringer Gemeinschaftsunterkunfts- und Sozialbetreuungsverordnung (ThürGUSVO) untergebracht und betreut. Die Kommunen, die bereits Kinder und Jugendliche mit Behinderung oder Lernbeeinträchtigung zugewiesen bekommen haben, versuchen im Rahmen des gesetzlich Möglichen, eine angemessene, behindertengerechte und barrierefreie Unterbringung sowie eine altersgerechte und individuelle Förderung zu gewährleisten. Nach Mitteilung des Landesverwaltungsamtes werden behinderte oder lernbeeinträchtigte Flüchtlingskinder in den Landkreisen und kreisfreien Städten nach Möglichkeit mit ihren Familien in entsprechenden Einzelunterkünften untergebracht. b) Die ärztliche Versorgung erfolgt gemäß §§ 4, 6 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Nach Mitteilung des Landesverwaltungsamtes wird die erforderliche medizinische Versorgung der Asylbewerber in den Kommunen gewährleistet. Probleme hätten sich teilweise aufgrund der mangelnden Versorgung mit spezialisierten fachärztlichen Leistungen im ländlichen Raum und den damit einhergehenden langen Wartezeiten ergeben. In Thüringen gibt es keine Spezialregelungen zu gesonderten Vorsorgeuntersuchungen für Seiteinsteiger durch den Kinder- und Jugendärztlichen Dienst/ den Kinder- und Jugendzahnärztlichen Dienst (KJÄD/ KJZÄD) des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD). Einheitliche Regelungen für Seiteneinsteigeruntersuchungen des ÖGD existieren auch bundesweit nicht. Für Kinder, welche nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt sind (Grundleistungsempfänger ), gelten für (zahn)ärztliche Leistungen die §§ 4 und 6 AsylbLG. Da im Sinne der Regelungen des § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylbLG den medizinisch gebotenen Vorsorgeuntersuchungen grundsätzlich alle diesem Zweck dienenden Vorsorgeuntersuchungen zuzuordnen sind, haben diese Grundleistungsempfänger auch Anspruch auf die nach den landesspezifischen Regelungen erfolgenden schul(zahn)ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen. Kinder, die nach Deutschland einwandern und in unterschiedlichen Altersstufen auf das Schulsystem treffen, werden somit in die erfolgenden Vorsorgeuntersuchungen des KJÄD/KJZÄD der Thüringer Gesundheitsämter integriert, nicht aber gesondert untersucht. Ab der Einschulungsuntersuchung 2015/2016 wird in Thüringen statistisch erfasst, ob und in welcher Art bei den zur Untersuchung vorstelligen Kindern ein Migrationshintergrund vorliegt (freiwillige Angabe), so dass dann künftig gegebenenfalls statistische Aussagen zu Fördermaßnahmen von Kindern mit Migrationshintergrund möglich sein können. Bei Information der Gesundheitsämter über möglicherweise behinderte Kinder mit Migrationshintergrund, welche bis dato noch an keiner Vorsorgeuntersuchung des ÖGD teilnahmen, werden diese in der Regel in das Gesundheitsamt eingeladen und erhalten bei Bedarf entsprechende Fördermaßnahmen, beispielsweise für Kleinkinder heilpädagogische Frühförderung auf Grundlage von § 6 AsylbLG. Kein integraler Bestandteil der ärztlichen Versorgung ist hingegen die duldungspflichtige Erstuntersuchung nach § 62 AsylG. Diese dient ausschließlich der Feststellung übertragbarer Krankheiten und gewährleistet damit den Infektionsschutz. Dennoch enthält der dafür vom Thüringer Ministerium für Arbeit , Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie erstellte Anamnese- und Untersuchungsbogen ein Feld "Sonstige behandlungsbedürftige Befunde/Empfehlungen", in dem auch andere Krankheiten oder Behinderungen vermerkt werden können. Es besteht also die Möglichkeit, dass auch im Rahmen der Erstuntersuchung Behinderungen festgestellt werden, allerdings können solche Untersuchungen seitens der obersten Landesgesundheitsbehörde nicht auf Grundlage des § 62 Abs. 1 AsylG vorgeschrieben werden , da sie nicht dem eigentlichen Zweck der Untersuchung dienen. Bei der medizinischen Erstuntersuchung in der Erstaufnahmeeinrichtung Gera-Ernsee werden aktuell alle relevanten Daten zum Gesundheitszustand der Flüchtlinge statistisch erfasst. Nach Mitteilung des Landesverwaltungsamtes wird vor der kommunalen Verteilung geprüft, ob die Landkreise und kreisfreien Städte eine behindertengerechte Unterbringung gewährleisten können, wenn diese nach Beurteilung des behandelnden Arztes für betroffene Asylbewerber notwendig ist. 3 Drucksache 6/2109Thüringer Landtag - 6. Wahlperiode c) Bei der Gewährung von Hilfen für Kinder mit Fluchterfahrung und mit körperlicher, geistiger oder (drohender ) seelischer Behinderung in Kindertageseinrichtungen sind zu unterscheiden: 1. Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für Kinder mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung und 2. Leistungen nach dem SGB VIII für Kinder mit (drohender) seelischer Behinderung. 1) Eingliederungshilfe nach SGB XII für Kinder mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung Für die Frage, wann Ausländer in Deutschland Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII erhalten, ist entscheidend, welchen Aufenthaltstitel sie haben. Lediglich Deutschen gleichgestellte Ausländer (Asylberechtigte nach § 2 Abs. 1 Asylgesetz, § 25 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz [Aufenth G] und Konventionsflüchtlinge im Sinne des § 3 Asylverfahrensgesetz, § 25 AufenthG sowie Kontingentflüchtlinge gemäß § 23 Abs. 2 AufenthG sowie heimatlose Ausländer) haben gemäß § 23 Abs. 1, S. 4 SGB XII bei Vorliegen der Voraussetzungen einen Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen nach §§ 53, 54 SGB XII. Für Ausländer mit einem nur vorübergehenden Aufenthaltsstatus, das heißt Ausländer, die mit einem Visum eingereist sind, Ausländer, die nach § 16 AufenthG zum Zwecke der Ausbildung bzw. nach § 23a, § 25 Abs. 3 AufenthG aus völkerrechtlichen, politischen oder humanitären Gründen eine befristete Aufenthaltserlaubnis haben, liegt die Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen im Ermessen des zuständigen Sozialhilfeträgers (§ 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII). Asylbewerber nach dem Asylbewerberleistungsgesetz: Grundsätzlich haben Asylbewerberinnen und Asylbewerber nach § 1 AsylbLG gemäß § 9 AsylbLG keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII und somit auch nicht auf Eingliederungshilfe nach dem SGB XII, sondern erhalten Leistungen (auch eventuelle Eingliederungsleistungen für behinderte Kinder) nach dem Asylbewerberleistungsgesetz . Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 1 AsylbLG, wonach das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden ist, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Die Vorschrift besagt lediglich, dass die Regelungen des SGB XII entsprechend anzuwenden sind, das heißt, soweit Eingliederungshilfeleistungen gewährt werden, sind diese weiterhin Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und nicht nach dem SGB XII. Obwohl Leistungen der gesellschaftlichen Teilhabe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in aller Regel nicht beansprucht werden können, kann im Einzelfall die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe im Sinne des § 54 SGB XII zur Deckung besonderer Bedürfnisse von behinderten Kindern geboten sein. Diese Entscheidung liegt nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 AsylbLG im Ermessen der für das Asylbewerberleistungsgesetz zuständigen Behörde. 2) Leistungen nach dem SGB VIII für Kinder mit (drohender) seelischer Behinderung Die Leistungen nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 AsylbLG sind abzugrenzen von den vorrangigen Kinder - und Jugendhilfeleistungen nach dem SGB VIII (vergleiche insbesondere die §§ 27, 33, 34, 35a, 39, 40, 42, 89d SGB VIII), die auch Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beanspruchen können. Dies ergibt sich insbesondere aus der Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgericht vom 24. Juni 1999, AZ: 5 C 24/98 sowie § 86 Abs. 7 SGB VIII. Die Nachrangvorschrift des § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sowie § 9 AsylbLG schließen die Anwendbarkeit des SGB VIII auf junge asylbegehrende Ausländer nicht aus, da das Asylbewerberleistungsgesetz keine der Gewährung von Jugendhilfe nach dem SGB VIII vergleichbaren Leistungen vorhält. Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII ist daher außerhalb des Asylbewerberleistungsgesetzes von den zuständigen Jugendhilfeträgern als Leistung nach dem SGB VIII zu erbringen. Abweichend davon ist nach § 26 Thüringer Kinder- und Jugendhilfe-Ausführungsgesetz (ThürKJHAG) bei Maßnahmen der Frühförderung für Kinder bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr, längstens bis zum Schuleintritt, unabhängig von der Behinderungsart die Leistung von den örtlichen Trägern der Sozialhilfe in Thüringen zu gewähren. Diese Leistung wird durch die landesrechtliche Zuweisung in § 26 ThürKJHAG in Verbindung mit § 10 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII nicht zur Leistung nach dem SGB XII, sondern bleibt dem Grunde nach ein Jugendhilfeanspruch, so dass der Ausschluss von § 9 Abs. 1 AsylbLG bzw. § 23 Abs. 2 SGB XII hierfür nicht greift. Maßnahmen der Frühförderung für seelisch behinderte Kinder bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr, längstens bis zum Schuleintritt, sind in Thüringen danach von den örtlichen Trägern der Sozialhilfe zu erbringen. d) Auf die Antwort zu Frage 2 wird verwiesen. 4 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/2109 Zu 2.: Ja - werden im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen des ÖGD betroffene Kinder mit Migrationshintergrund erkannt, werden für diese bei Bedarf die erforderlichen diagnostischen und therapeutischen Fördermaßnahmen durch den ÖGD angeraten bzw. eingeleitet. Pädagogische Förderung und damit pädagogische Diagnostik sind immanenter Bestandteil des Lehrens und Lernens an Thüringer Schulen. Zeigen sich bei einem Schüler, unabhängig von seiner Herkunft, erhebliche Lernschwierigkeiten oder Entwicklungsverzögerungen und sind die pädagogischen Möglichkeiten ausgeschöpft , stehen jeder Thüringer Schule Förderschullehrkräfte im Gemeinsamen Unterricht an der Seite. Bei berufsbildenden Schulen und Gymnasien können die zuständigen Netzwerkförderzentren herangezogen werden. Reicht auch diese Unterstützung nicht aus, wird durch die Schule das Verfahren zur Überprüfung sonderpädagogischen Förderbedarfs eingeleitet. Zu 3.: Zur sonderpädagogischen Diagnostik bei nichtdeutschsprachigen Kindern und Jugendlichen stehen in Thüringen nonverbale Testverfahren zur Verfügung, die es ermöglichen, das kognitive Potenzial eines Kindes oder eines Jugendlichen zu erfassen. Normierte Testverfahren sind nur ein Teil der im Rahmen der sonderpädagogischen Diagnostik eingesetzten Methoden und Verfahren. Zu bedenken ist auch, dass unabhängig von der Herkunft der Kinder und Jugendlichen die Ergebnisse beim Einsatz normierter Testverfahren kritisch und niemals losgelöst von den anderen Methoden und Verfahren zu betrachten sind. Neben den normierten Testverfahren werden im Rahmen der sonderpädagogischen Diagnostik noch weitere Methoden eingesetzt, wie z. B. Beobachtungen im schulischen Alltag, die Auswertung von Schülerarbeiten , Gespräche mit den Sorgeberechtigten, den Lehrkräften, Familienbetreuern oder anderen beteiligten Professionen. Häufig ist es notwendig, den Sorgeberechtigten die Notwendigkeit der Einleitung des Überprüfungsverfahrens zu erläutern, den Kindern und Jugendlichen sind in der Testsituation klare Anweisungen zu geben, eine entsprechende Schullaufbahnberatung hat zu erfolgen. Gegebenenfalls sind dabei Sprachbarrieren zu überwinden. Mit Unterstützung der Integrationsbeauftragten in den Landratsämtern können in der Regel Sprachmittlerleistungen durch die entsprechenden Betreuer der Familien organisiert werden. Zu 4.: Da erst ab Schuljahr 2015/2016 Kinder mit Migrationshintergrund statistisch erfasst werden (freiwillige Angabe ) und die Informationen erst nach Ablauf des Schuljahres an die Landesbehörden übermittelt werden, liegen aktuell keine statistischen Auswertungen vor, ob und bei wie vielen Kindern mit Migrationshintergrund Förderbedarf festgestellt und welche entsprechende Fördermaßnahme angeraten wurden. Zu 5.: Im Bereich Schulärztlicher/Schulzahnärztlicher Dienst der Thüringer Gesundheitsämter bedarf es ausreichenden ärztlichen und nichtärztlichen Personals. Verantwortlich sind die Gebietskörperschaften im Rahmen der Selbstverwaltung. Zu 6.: Da der Landesregierung derzeit keine konkreten Zahlen vorliegen (vergleiche Antwort zu Frage 4), können dazu keine Aussagen getroffen werden. Dr. Klaubert Ministerin Ich frage die Landesregierung: Zu 1.: Zu 2.: Zu 3.: Zu 4.: Zu 5.: Zu 6.: