30.03.2015 Drucksache 6/460Thüringer LandTag 6. Wahlperiode Druck: Thüringer Landtag, 15. April 2015 Äußerungen des Chefs der Thüringer Staatskanzlei zur SPD-KPD-Regierung in Thüringen vom Oktober/November 1923 Die Kleine Anfrage 156 vom 5. Februar 2015 hat folgenden Wortlaut: In einem Fragebogen der Thüringer Allgemeine antwortete der Chef der Thüringer Staatskanzlei, Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff, am 31. Januar 2015 auf die Frage, welches Ereignis in Thüringens Geschichte er gern miterlebt hätte, wie folgt: "Als Staatskanzleichef würde ich natürlich gern einmal schauen, wie die zwei Wochen der SPD-KPD-Regierung verliefen, bevor diese demokratisch gewählte Regierung 1923 durch die sogenannte Reichsexekution aus dem Amt vertrieben wurde. Mit Heinrich Brandler gab es ja zeitgleich im benachbarten Sachsen auch einen linken Staatskanzleichef." Die Antwort lässt aus Sicht des Fragestellers eine positiv-aufgeschlossene Haltung des Chefs der Thüringer Staatskanzlei gegenüber dieser kurzen historischen Episode Thüringer Regierungs- und Parlamentsgeschichte und ein Bedauern über deren Ende vermuten. Einer Episode, die für das Land Thüringen, die Weimarer Republik und die Geschichte der Arbeiterbewegung von größerer Bedeutung war. Die erwähnte Regierung kam am 16. Oktober 1923 durch den Eintritt kommunistischer Minister in das von August Frölich (SPD) geleitete Staatsministerium zustande und endete am 12. November 1923 durch deren Austritt, nachdem die Reichswehr zwischen dem 6. und 8. November einmarschiert und ein Militärbefehlshaber die Exekutivgewalt übernommen hatte. Zum Zeithintergrund gehört der Höhe- und Wendepunkt der Hyperinflation und bürgerkriegsartige, gegen die Weimarer Republik gerichtete Unruhen, an denen extrem rechte und extrem linke Kräfte Anteil hatten. Ich frage die Landesregierung: 1. Sieht die Landesregierung in der erwähnten SPD-KPD-Regierung in Thüringen positive und beispielgebende Ansatzpunkte für die politisch-historische Erziehung zur Demokratie im Sinne der freiheitlichen demokratischen Grundordnung? 2. Sofern die Frage bejaht wird: Um welche Ansatzpunkte handelt es sich? 3. Sofern die Frage verneint wird: Warum ist die SPD-KPD-Regierung von 1923 in Thüringen ungeeignet, die Identifikation mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu fördern? 4. Teilt die Landesregierung die zeitgeschichtliche Einschätzung, dass der Eintritt der KPD in die Landesregierungen von Sachsen und Thüringen in einem engen Zusammenhang mit dem Beschluss des K l e i n e A n f r a g e des Abgeordneten Wirkner (CDU) und A n t w o r t der Thüringer Staatskanzlei 2 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/460 Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale von Ende September 1923 stand, in Deutschland einen allgemeinen Aufstand zu initiieren? 5. Teilt die Landesregierung folgende mit Beendigung dieser Regierung am 12. November 1923 geäußerte Einschätzung des Bezirksvorstands der SPD Groß-Thüringen: "Die Kommunisten sind mit dem festen Vorsatz in die Regierung eingetreten, die Republik zu zertrümmern ... Wenn die KPD sagt: Einheitsfront, will sie putschen."? 6. Beabsichtigt die Landesregierung der SPD-KPD-Regierung in Thüringen vom Oktober/November 1923 Raum in den Lehrplänen an Thüringer Schulen oder in der Arbeit der Landeszentrale für politische Bildung zu geben? Der Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Staatskanzlei hat die Kleine Anfrage namens der Lan desre gierung mit Schreiben vom 30. März 2015 wie folgt beantwortet: Vorbemerkung: Die Äußerung des Chefs der Staatskanzlei in der Thüringer Allgemeinen vom 31. Januar 2015 zur Frage, welches Ereignis in Thüringens Geschichte er gern miterlebt hätte, bekundete das Interesse, sich ein eigenes Bild über diesen Zeitabschnitt zu machen. Dieser Zeitabschnitt beginnt nicht erst mit der Bildung der SPD-KPD-Regierung, also dem zweiten Kabinett des Ministerpräsidenten August Frölich (SPD), sondern kann bereits auf die im Juli 1919 erfolgte Gründung des Staatsrates von Thüringen als dem gemeinschaftlichen Vollzugsorgan der sieben thüringischen Staaten, der die Gründung des Landes Thüringen vorbereitete , datiert werden, spätestens jedoch auf die Landtagswahl vom 11. September 1921, in deren Folge eine Minderheitsregierung aus SPD und USPD gebildet wurde, die von der KPD toleriert wurde. Sofern in den nachfolgenden Fragen 1 bis 5 ausdrücklich nach Einschätzungen und Bewertungen der Landesregierung zu historischen Ereignissen gefragt ist, ist darauf hinzuweisen, dass dies nicht zu den Aufgaben der Landesregierung gehört. Die erfragten Bewertungen und Einschätzungen waren und werden nicht Gegenstand der Willens- und Meinungsbildung der Thüringer Landesregierung. Zu 1. bis 3.: Die Fragen 1 bis 3 werden im Zusammenhang beantwortet. Die Thüringer SPD-USPD-Regierung von 1921, toleriert durch die KPD, formulierte in ihrem Regierungsprogramm Positionen, die sich sowohl an die Reichsregierung richteten, als auch landespolitische Ziele umfassten. Dazu gehörten u. a. die sofortige Aufhebung des von Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP) verhängten Ausnahmezustands, in Folge dessen die Reichswehr mit der vollziehenden Gewalt beliehen wurde. Stattdessen strebte die Regierung Frölich die Demokratisierung der Reichswehr - also in der Konsequenz die verspätete Schaffung eines republikloyalen Militärwesens - und die Einführung der Absetzbarkeit von Richtern an. Neben einem Sozialisierungsgesetz wurde eine gerechtere Steuergesetzgebung verlangt . Auf Landesebene sollte die Demokratisierung von Verwaltung und Justiz durchgesetzt werden, in dem u. a. für hohe Ämter nur Beamte und Richter mit einer zweifelsfrei republikanischen Haltung vorgesehen werden sollten. Darüber hinaus wurde eine umfassende Bildungsreform vorgesehen, darunter die Einführung einer Gemeinschaftsschule. Eine im Auftrag der Thüringer Staatskanzlei bereits 2007 veröffentlichte Darstellung der Thüringer Regierungschefs von 1920 bis 2003 formuliert für das erste Kabinett Frölich: "Eine der wichtigsten Errungenschaften , die weit über ihre Amtszeit hinaus Bestand haben sollte, war die zum 1. Oktober 1922 eingeführte neue Kreiseinteilung Thüringens. Mit ihr konnten die letzten kleinstaatlichen territorialen Hemmnisse beseitigt werden." Sicherlich kann auch das im August 1923 beschlossene Gesetz über die Beseitigung des Züchtigungsrechts in den Schulen als ein wesentlicher Fortschritt im Bildungswesen betrachtet werden. Im September 1923 entzogen die Wehrkreis-Kommandeure den Landesregierungen von Sachsen und Thüringen unter Berufung auf die Vollmachten der Reichsregierung wichtige Befugnisse. Die vor diesem Hintergrund im Oktober 1923 durch Eintritt der drei KPD-Minister Albin Tenner (Wirtschaft), Prof. Dr. Karl Korsch (Justiz) sowie Dr. Theodor Neubauer (Staatsrat für Gotha) gebildete SPD-KPD-Regierung hatte, wie in der bereits zitierten Darstellung der Regierungstätigkeit von August Frölich ausgeführt wird, "kaum noch rea- 3 Drucksache 6/460Thüringer Landtag - 6. Wahlperiode le politische Gestaltungsspielräume, denn die Konflikte mit der Reichsregierung, die eine Machtbeteiligung der Kommunisten kategorisch ablehnte, sollten bald eskalieren. Daran konnten auch mehrere Beschwichtigungsversuche Frölichs gegenüber dem Reichskanzler nichts ändern". Wenn im Sinne der Vorbemerkung ein Bezug auf ein konkretes historisches Ereignis oder einen Abschnitt der Thüringer Landesgeschichte vorgenommen wird, dann kann dies sowohl mit dem Interesse einer nicht wertenden Betrachtung der Fakten als auch mit dem Ziel, Schlussfolgerungen für die Erziehung zur Demokratie im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu ziehen, geschehen. Zu 4. bis 6.: Die Fragen 4 bis 6 werden im Zusammenhang beantwortet. In einer Analyse des Scheiterns der Weimarer Republik formulierte der Historiker Heinrich August Winkler : "Wenige Historiker werden heute noch bestreiten, dass das hohe Maß an Kontinuität zwischen kaiserlichem Obrigkeitsstaat und demokratischer Republik zu den historischen Vorbelastungen Weimars gehört … Die Republik musste folglich mit einem staatlichen Apparat leben, in dem die überzeugten Republikaner bis zuletzt nur eine kleine Minderheit bildeten. Die radikale Linke zog aus den Vorbelastungen der Vergangenheit einen Schluss, der in sich konsequent erschien: Es war der frontale Kampf gegen die 'Bourgeoisie ' und in seiner Konsequenz das, was Sozialdemokraten und gemäßigte Unabhängige vermeiden wollten , der Bürgerkrieg … Wie immer er ausgegangen wäre, eine parlamentarische Demokratie konnte sein Ergebnis nach menschlichem Ermessen nicht sein … [Denn] die Errichtung einer 'Diktatur des Proletariats', auch wenn unter der Formel 'Alle Macht den Räten' propagiert wurde, hätte nicht einen Gewinn, sondern einen drastischen Verlust an Freiheit bedeutet … Die Entscheidung für die parlamentarische Demokratie war die Entscheidung gegen den Bürgerkrieg und, marxistisch gesprochen, für den Klassenkompromiss." Die realitätsfernen, extremistischen Aufstandspläne von Teilen der KPD-Führung, die u. a. durch das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) gestützt und befördert wurden, bezogen auch die Landesregierungen von SPD und KPD in Sachsen und Thüringen mit ein. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass der EKKI-Vorsitzende Gregorij Sinowjew, der einige Jahre später im Auftrage Stalins ermordet wurde , kritisch gegenüber denjenigen KPD-Teilen, die sich gegen Aufstandspläne gewandt hatten, formulierte: "Wir hier in Moskau … fassten den Eintritt der Kommunisten in die sächsische Regierung nur als ein militärisch -strategisches Manöver auf. Ihr habt ihn in einen politischen Block mit den linken Sozialdemokraten umgewandelt, der euch die Hände band." Zumindest zu diesem Zeitpunkt bestand innerhalb der KPD noch eine tatsächliche Kontroverse über den politischen Kurs, der eben auch eine Ablehnung von Putsch- und Aufstandsplänen beinhaltete und die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie im Gestaltungsrahmen der parlamentarischen Demokratie vorsah. Der kurzzeitige Staatskanzleichef in der sächsischen Regierung Zeigner und Parteivorsitzende der KPD von 1921 bis 1923, Heinrich Brandler, wurde u. a. wegen seiner ablehnenden Haltung zum Oktoberputsch aus der KPD ausgeschlossen. Insoweit zeigt sich auch an diesem Beispiel, dass Geschichtsprozesse in modernen, komplexen Gesellschaften aufgrund der Vielzahl von Milieus, Klassen, Akteuren und Interessen eine enorme Vielfalt unterschiedlicher Erfahrungen, differierender Erwartungen und deshalb verschieden akzentuierter, zum Teil konkurrierender Geschichtsbilder hervorbringen, die als eine Begleiterscheinung pluralistischer Verhältnisse zu akzeptieren sind und deren Nebeneinander zu begrüßen ist. Die Geschichtsforschung hat deshalb ein kritisches Instrumentarium für eine differenzierte Auseinandersetzung mit Geschichte als Teil der politischen Bildung entwickelt, der sich Institutionen der schulischen und politischen Bildung seit langer Zeit selbstverständlich bedienen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang - neben den bisher schon vielfältigen Veranstaltungen und Publikationen der Landeszentrale für Politische Bildung zum hier erörterten Themenkreis - insbesondere auf die Lehrpläne im Fach Geschichte der Thüringer Regelschulen und Gymnasien. Dort ist in den Klassenstufen 9/10 "Die Weimarer Republik - Chancen und Belastungen der ersten Demokratie in Deutschland" als obligatorischer Lernbereich ausgewiesen, der Raum gibt für die Behandlung der damaligen Umbruchprozesse wie auch der Kontinuitätslinien und insbesondere auch der Gründe für das Scheitern der Republik. 4 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/460 Quelle: - Winkler, Heinrich August 1991: Musste Weimar scheitern? Das Ende der ersten Republik und die Kon- tinuität der deutschen Geschichte, in: Schriften des Historischen Kollegs, hrsgg. von der Stiftung Historisches Kolleg, München - Regierungsprogramm vom 20. September 1921, in: Sozialdemokratie und Regierung in Thüringen, September 1921 bis Juni 1923, hgg. von der VSPD, Bezirksverband Großthüringen, Jena - Wahl, Volker et al 2007, Thüringer Regierungschefs 1920 bis 2003, hrsgg. von der Thüringer Staatskanzlei , Erfurt Prof. Dr. Hoff Minister