24.04.2018 Drucksache 6/5626Thüringer LandTag 6. Wahlperiode Druck: Thüringer Landtag, 11. Mai 2018 Streuobstbestände in Thüringen - Teil I Die Kleine Anfrage 2913 vom 26. Februar 2018 hat folgenden Wortlaut: Bundesweit gab es in den vergangenen Jahrzehnten einen massiven Rückgang der Streuobstbestände. Derzeit wird der Bestand auf noch circa 300.000 Hektar geschätzt. Dabei gelten Streuobstbestände als "Hotspots" der biologischen Vielfalt. Für die mitteleuropäische Biodiversität spielen Streuobstbestände mit über 5.000 Tier- und Pflanzenarten sowie über 3.000 Obstsorten eine herausragende Rolle. Neben der Bestandsaufnahme der aktuellen Situation ist es deshalb wichtig, welche Ziele die Landesregierung in der Bestandssicherung und der Entwicklung von Streuobstwiesen verfolgt. Ich frage die Landesregierung: 1. Welche Erkenntnisse über die Anzahl an Hochstamm-Obstbäumen beziehungsweise über die Fläche von Streuobstbeständen (in Hektar) liegen der Landesregierung für Thüringen vor? 2. Gibt es regionale oder lokale Studien über die Flächenentwicklung des Streuobstbaus seit dem Jahr 1990 in Thüringen und wenn ja, mit welchen Ergebnissen? Welche weiteren Daten und Ergebnisse liegen der Landesregierung vor? Welches sind die wesentlichen Gründe für die Entwicklung? 3. Wie viel Hektar Streuobstbestände gibt es in Thüringer Flora-Fauna-Habitat-Gebieten, EU-Vogelschutzgebieten , Naturschutzgebieten und in Landschaftsschutzgebieten beziehungsweise sind in solchen entsprechend unter Schutz gestellt? 4. Wie hat sich seit dem Jahr 2007 im Land die Entwicklung der Streuobstbestände nach Kriterien der Verordnung (EG) Nr. 834/2017 (EU-Öko-Verordnung) entwickelt (bitte tabellarische Auflistung) und wie viel Prozent der Streuobstfläche sowie der Gesamtobstfläche (inklusive Plantagen) entsprach dies? 5. Welche Auffassung vertritt die Landesregierung bezüglich der Entwicklung der Streuobstbestände im Land vor dem Hintergrund der Einstufung mit dem Rote-Liste-Status "1 - 2 = stark gefährdet bis von vollständiger Vernichtung bedroht" in der im Jahr 2017 erschienenen neuen Auflage der Roten Liste gefährdeter Biotoptypen Deutschlands und welche Informationen beziehungsweise Bewertungen aus Thüringen haben zu dieser bundesweiten Bewertung beigetragen? 6. Wie wird das Ziel sowie die Zielerreichung der Nationalen Biodiversitätsstrategie und der Naturschutz- Offensive 2020 für biologische Vielfalt in Thüringen bewertet, den Flächenanteil wertvoller Agrarbiotope wie Streuobstwiesen zwischen den Jahren 2005 und 2015 um mindestens zehn Prozent zu erhöhen? K l e i n e A n f r a g e des Abgeordneten Kobelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und A n t w o r t des Thüringer Ministeriums für Infrastruktur und Landwirtschaft 2 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/5626 7. Welche eigenen Ziele setzt sich die Landesregierung bezüglich der Entwicklung des Streuobstbestands im Land? 8. Wie viele Tier- (insbesondere Vogel- und Insektenarten), Pflanzen- und Pilzarten konnten in den Streuobstbeständen des Landes bisher nachgewiesen werden und welche Erhebungen sind der Landesregierung bekannt? Wie viele Arten sind in Anhang II und IV der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie oder Anhang I der Vogelschutzrichtlinie aufgeführt? Das Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft hat die Kleine Anfrage namens der Landesre gierung mit Schreiben vom 23. April 2018 wie folgt beantwortet: Zu 1.: Über die Anzahl an Hochstamm-Obstbäumen in Thüringen liegen der Landesregierung keine Daten vor. Die Fläche von in Thüringen durch die Biotopkartierung erfassten Streuobstwiesen (mit jeweils mehr als zehn Bäumen) beträgt nach Lauser et al. (2015) ≈ 11.500 Hektar. Dabei ist allerdings zu beachten, dass diese Zahl auf Erhebungen im Rahmen der Offenland-, Dorf- und Waldbiotopkartierung im Zeitraum 1996 bis 2012 beruht und keinen gesicherten aktuellen Stand darstellt. Neuere Zahlen werden sich sukzessive aus dem 2017 bis 2019 in vier Landkreisen (Nordhausen, Greiz, Ilm-Kreis, Hildburghausen) begonnenen Aktualisierungsdurchgang der Offenlandbiotopkartierung ergeben. Derzeit liegen daraus aber noch keine auswertbaren Ergebnisse vor. Zu 2.: Folgende lokalen Studien über die Entwicklung des Streuobstbaues in Thüringen wurden erarbeitet: Projektgruppe PRUNUS (1998): Bedeutung und Zukunft des Streuobst-Anbaus im Gleistal. Modellstudie für die Region Jena. Schmitt, T. (2000): Analyse und Bewertung des Streuobstbestandes mit nachfolgender Ableitung von notwendigen Pflegemaßnahmen sowie Ansätze zu Ernte und Vermarktungsstrategien in einem Beispielgebiet. (Diplomarbeit Fachhochschule Erfurt) Der erste integrierte Umweltbericht für das länderübergreifende UNESCO-Biosphärenreferat Rhön enthält auch Ergebnisse von Untersuchungen zu den Streuobstbeständen.* Allerdings sind dessen Aussagen zu den Veränderungen im Thüringer Anteil nur wenig detailliert. Diese Studien haben mehrere grundsätzliche Probleme für die Erhaltung der Streuobstwiesen identifiziert. Die Streuobstwiesen sind danach vor allem durch zwei Faktoren gefährdet. Wegen der fehlenden Nachpflanzung und Pflege kommt es vielfach zu einer Überalterung des Baumstandes. Dieser führt in absehbarer Zeit zu einem Absterben der Bäume und damit dem Verlust des Streuobstwiesencharakters. Ein erheblicher Anteil der Streuobstwiesen weist demnach schon einen zu lückigen Baumbestand auf. Der zweitwichtigste Faktor ist die fehlende Bewirtschaftung des Unterwuchses, in den meisten Fällen Wiesen. Dadurch kommt es im Laufe der Jahre zu einer Verbuschung und schließlich zu einem Überwachsen der Obstbäume durch andere Gehölze. Auch wenn die Obstbäume oft noch lange überleben, geht der Charakter der Streuobstwiese dabei innerhalb weniger Jahre verloren. In den Studien werden für die Untersuchungsgebiete bereits zwischen 25 und fast 40 Prozent der Bestände als mittel bis schwer verbuscht angegeben. Diese Aussagen decken sich mit den ersten Beobachtungen der 2017 begonnen Wiederholung der Offenland-Biotopkartierung. Die wesentliche Ursache für diese Entwicklungen liegt in der meist nicht mehr gegebenen wirtschaftlichen Attraktivität des Streuobstanbaues. Deshalb findet auf vielen Streuobstwiesen keine Nutzung mehr statt. Infolgedessen werden auch keine Unterhaltungs- und Nachpflanzungsmaßnahmen durchgeführt. Dies führt dann zu den oben beschriebenen Problemen. In den Nationalen Naturlandschaften Thüringens ist es durch verschiedenste Regionale Aktivitäten gelungen , diese Entwicklung aufzuhalten. Ein bundesweit bekanntes Beispiel ist die Rhöner Apfelinitiative, die wirtschaftlich erfolgreich Streuobst vermarktet und damit zum Erhalt dieses wichtigen Biotoptyps beigetragen hat. 3 Drucksache 6/5626Thüringer Landtag - 6. Wahlperiode Zu 3.: Nachfolgend werden die Flächen der in einzelnen Schutzgebietskategorien liegenden und kartierten (siehe Antwort zu Frage 1) Streuobstwiesen aufgeführt: Fauna-Flora-Habitat(FFH)-Gebiete: circa 1.400 Hektar Vogelschutzgebiete: circa 1.500 Hektar Naturschutzgebiete: circa 600 Hektar Landschaftsschutzgebiete: circa 1.800 Hektar Hinweis: Ein Teil der aufgeführten Flächen gehört gleichzeitig mehreren Schutzgebietskategorien an, so dass die Gesamtsumme der in Schutzgebieten liegenden Streuobstwiesen kleiner ist als die Summe der vorstehenden Einzelwerte. Zu 4.: Flächenentwicklung Streuobstbestände: Nach internen Erhebungen auf Grundlage der Meldungen von Öko-Kontrollstellen für die Anerkennung des ökologischen Anbaus von Obst (siehe Tabelle) waren die Flächen für den ökologischen Obstbau tendenziell rückläufig. Bei den Flächenangaben handelt es sich zu einem Anteil von 45 bis 60 Prozent (jahresabhängig ) um Streuobstbestände. Hierbei werden nur die nach EU-Ökoverordnung zertifizierten Flächen erfasst. Jahr Obst Anzahl Betriebe Fläche Hektar Streuobst circa 50 Prozent 2007 52 348 175 2008 49 316 158 2010 49 282 141 2012 47 255 128 2013 54 298 149 2014 48 288 144 Entsprechend der Baumobsterhebung 2017 wurde in Thüringen auf einer Fläche von insgesamt 1.706 Hektar von 44 Betrieben Baumobst angebaut. Davon bauten zehn Betriebe auf 83 Hektar Baumobst nach ökologischer Anbauweise an (entspricht circa fünf Prozent Anteil beim Baumobst). Zu 5.: Thüringen wurde wie andere Bundesländer vom Bundesamt für Naturschutz bei der Erarbeitung der aktuellen Roten Liste der Biotoptypen Deutschlands beteiligt. In der derzeit geltenden Roten Liste der Biotoptypen Thüringens (van Hengel & Westhus 2011) sind die Streuobstwiesen als "stark gefährdet" eingestuft. Die dieser Einstufung zugrunde liegenden Kenntnisse über die Gefährdung der Streuobstwiesen in Thüringen sind im Rahmen der Beteiligung unter anderem durch Fachgespräche in die bundesweite Einschätzung eingeflossen. Die Gefährdung der Streuobstwiesen ist demnach in einigen anderen Gebieten Deutschlands noch dramatischer als in Thüringen. Zu 6.: Die biologische Vielfalt auf landwirtschaftlich genutzten Flächen ist in den letzten Jahrzehnten deutschlandweit durch veränderte Bewirtschaftungsformen deutlich zurückgegangen. Um diesem Verlust entgegenzuwirken , werden in Thüringen, teilweise kofinanziert über EU-Fonds und mit Bundesmitteln, Vertragsnaturschutzmaßnahmen und Naturschutzprojekte durchgeführt unter anderem mit dem Ziel, den Zustand von Umwelt und Landschaft zu verbessern. Seit 2009 werden in einem bundesweiten Monitoring im Rahmen eines Stichprobenverfahrens Landwirtschaftsflächen und agrarlandschaftstypische Strukturelemente mit Hilfe einer standardisierten Erfassungs- und Bewertungsmethode kartiert. Dabei erfolgen eine Bestimmung des Anteils der Flächen mit hohem Naturwert und eine Einordnung in Qualitätsstufen (Kategorien: I - äußerst hoch, II - sehr hoch, III - mäßig hoch). Der hieraus berechnete Indikator soll dazu beitragen, Aussagen zu Auswirkungen der Landwirtschaft auf die biologische Vielfalt sowie zu Erfolgen bei der Förderung der biologischen Vielfalt in der Agrarlandschaft zu treffen. Bilanziert wird der Anteil der Landwirtschaftsflächen mit hohem Naturwert (High Nature Value Farmland, HNV Farmland-Indikator) an der gesamten Landwirtschaftsfläche . Als Landwirtschaftsflächen mit hohem Naturwert gelten extensiv genutzte, artenreiche Grünland-, Acker-, Streuobst- und Weinbergflächen sowie Brachen. Hinzu kommen strukturreiche Landschaftselemente wie zum Beispiel Hecken, Raine, Feldgehölze und Kleingewässer. 4 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/5626 Als Ziel für die Zunahme des Anteils von Landwirtschaftsflächen mit hohem Naturwert wurde in der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt (NBS, 2007) eine deutschlandweite Steigerung um mindestens zehn Prozentpunkte im Zeitraum von 2005 bis 2015 festgelegt. Die Ergebnisse des bundesweiten Stichproben -Monitorings belegen dagegen auf Bundesebene einen leicht abnehmenden Trend des HNV-Indikators . Der Anteil der HNV-Flächen nahm von 13,1 Prozent im Jahr 2009 auf 11,4 Prozent im Jahr 2017 ab. Im Vergleich dazu liegt der Wert in Thüringen seit 2009 in etwa konstant bei 16,5 Prozent, für Grünland ist die Trendentwicklung leicht positiv. Zu 7.: Bei der Betrachtung des Streuobstbestandes sind insbesondere die flächigen Bestände überwiegend hochstämmiger Obstbäume mit Grünland-Unterwuchs von Relevanz, die gesetzlich geschützte Biotope nach § 18 Thüringer Gesetz für Natur und Landschaft sind. Diese Flächen gilt es zu erhalten und fallweise wiederherzustellen . Dieser Streuobstwiesen-Biotop besitzt als Lebensraum für zahlreiche Tierarten Bedeutung, zum Beispiel für Baumhöhlen bewohnende Vögel des Offenlandes wie Steinkauz und Grünspecht oder für Insekten wie Leiterbock und Pflaumenbock. Zu 8.: Zu den in Streuobstwiesen vorkommenden Tierarten liegen folgende Informationen vor: Das Fachinformationssystem (FIS) Naturschutz der Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie weist für die Streuobstwiesen des Freistaats Thüringen Nachweise von 115 Vogelarten aus. Davon kommen 70 Arten als Brutvögel und regelmäßige Nahrungsgäste in Streuobstwiesen vor. Elf Arten sind im Anhang 1 der Vogelschutzrichtlinie aufgeführt. Dies sind Grauammer, Grauspecht, Heidelerche, Mittelspecht, Raubwürger , Sperbergrasmücke, Steinkauz, Turteltaube, Wachtelkönig, Wendehals und Wiedehopf. Zu den typischen Brutvogelarten in Streuobstwiesen gehören Baumpieper, Feldsperling, Gartenrotschwanz, Blau- und Kohlmeise, Kleinspecht, Grauspecht, Grünspecht, Neuntöter, Wendehals und Steinkauz. Beim in Thüringen vom Aussterben bedrohten Steinkauz liegen von den 631 vorliegenden Nachweisen allein 228 (36,1 Prozent) in Streuobstbeständen. Streuobstwiesen werden ebenfalls von zahlreichen Vogelarten zur Nahrungsbeschaffung aufgesucht. Brutvögel und Nahrungsgäste ernähren sich von den Früchten der Obstbäume selbst, vor allem aber vom Insekten - und Reptilienangebot in reich strukturierten Streuobstwiesen. Dies wiederum lockt Beutegreifer an, die vom Nager- und Vogelvorkommen profitieren. Derzeit gibt es für Streuobstbestände keinen Schwerpunkt für systematische Erfassungen im Rahmen eines Monitorings. Die vorliegenden Artfunde stammen aus den Bearbeitungen von Vogelschutzgebieten mit Streuobstwiesenanteilen, aus Monitoringprojekten zur Erfassung seltener und häufiger Brutvögel, bei denen Streuobstwiesen im Untersuchungsgebiet liegen oder aus zufälligen Freilandbeobachtungen ehrenamtlicher Kartierer. Zur Pflanzen-, Insekten- und Pilzartenvielfalt sind aus Thüringen keine gezielten Studien in Streuobstwiesen bekannt. Die Vielfalt innerhalb dieser drei Artengruppen ist im Wesentlichen an die sich unter den Obstbäumen befindlichen Wiesentypen gebunden. Ein großes Spektrum an Pflanzen-, Insekten- und Pilzarten der frischen bis trockenen sowie mageren bis fetten Wiesen und Weiden sowie der Hochstaudenfluren kann auch in Streuobstwiesen gefunden werden. Im Rahmen der Offenland-Biotopkartierung von 1996 bis 2012 wurden in Streuobstwiesen in Thüringen mehr als 1.000 verschiedene Blütenpflanzen nachgewiesen, ohne dass damit schon Vollständigkeit erreicht sein dürfte. Für keine der in den Anhängen der FFH-Richtlinie enthaltenen Pflanzenarten sind Streuobstwiesen als Standort typisch. Von den Insektenarten der Anhänge II und IV der FFH-Richtlinie kommt der Eremit in Thüringen auch in Streuobstwiesen vor. Weitere für Wiesen typische, in den Anhängen der FFH-Richtlinie aufgeführte Insekten-Arten können auch gelegentlich in diesem Lebensraumtyp beobachtet werden. Zu nennen wären hier zum Beispiel die Ameisenbläulingsarten. Keller Ministerin Endnote: * Siehe: http://biosphaerenreservatrhoen.de/_umweltbericht/html/c9.1_streuobst_in_der_rhon.htm). Streuobstbestände in Thüringen - Teil I Ich frage die Landesregierung: Zu 1.: Zu 2.: Zu 3.: Zu 4.: Zu 5.: Zu 6.: Zu 7.: Zu 8.: Endnote: