07.09.2018 Drucksache 6/6154Thüringer LandTag 6. Wahlperiode Druck: Thüringer Landtag, 24. September 2018 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Freistaat Thüringen Die Kleine Anfrage 3202 vom 18. Juli 2018 hat folgenden Wortlaut: Die Anzahl der sich im Freistaat Thüringen aufhaltenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Vor dem Hintergrund, dass die lnobhutnahme, Integration und Be treuung eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings bundesweit durchschnittlich jährliche Kosten in Höhe von 50.000 Euro verursacht, bedeutet die steigende Anzahl für den Freistaat Thüringen zugleich auch eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung. Ob es sich bei den betroffenen Personen jedoch auch tatsächlich um Minderjährige handelt, kann in Ermangelung einer sicheren Methode zur Altersfeststellung nicht zweifels frei festgestellt werden. Denn obwohl Untersuchungen in anderen europäischen Ländern ergaben, dass über 75 Prozent der Migranten, die sich als Minderjährige ausgegeben hatten, in Wirklichkeit bereits voll jährig waren, besteht hierzulande keine bundesweit geltende gesetzliche Regelung, nach welcher sich ein angeblich minderjähriger Migrant zwingend einer ärztlichen Untersuchung unterziehen müsste. Ich frage die Landesregierung: 1. Welche Daten erfasst die Landesregierung hinsichtlich der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die sich gegenwärtig im Freistaat Thüringen aufhalten? 2. Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge halten sich gegenwärtig nach Kenntnis der Landesre gierung im Freistaat Thüringen auf (bitte nach registriertem Lebensalter, Geschlecht, Religionszugehö rigkeit, Staatsangehörigkeit, Herkunftsland und Aufenthaltsstatus aufschlüsseln)? 3. Wie hat sich die Anzahl der sich im Freistaat Thüringen aufhaltenden unbegleiteten minderjährigen Flücht linge innerhalb der letzten sechs Jahre entwickelt (bitte analog Frage 2 aufschlüsseln)? 4. In wie vielen Fällen wurde es unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Freistaat Thüringen inner halb der letzten sechs Jahre gestattet ihre Familienangehörigen nach Thüringen zu holen und wie viele Familienangehörige konnten auf diese Weise in den Freistaat Thüringen gelangen (bitte nach Jahres scheiben aufschlüsseln)? 5. Wie viele von den sich im Freistaat Thüringen aufhaltenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sind straffällig geworden (bitte analog Frage 2 aufschlüsseln)? 6. Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wurden aus dem Freistaat Thüringen innerhalb der letz ten sechs Jahre abgeschoben (bitte nach Jahresscheiben aufschlüsseln)? K l e i n e A n f r a g e des Abgeordneten Möller (AfD) und A n t w o r t des Thüringer Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport 2 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/6154 7. Wie hoch sind die jährlichen Kosten inklusive der Erstattungszahlungen an Landkreise, kreisfreie Städ te und Gemeinden, die dem Freistaat Thüringen insgesamt durch die Inobhutnahme, Integration und Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen innerhalb der letzten sechs Jahre entstanden sind (bitte nach Jahresscheiben aufschlüsseln)? 8. Wie hoch sind die monatlichen Kosten, die dem Freistaat Thüringen durch die lnobhutnahme, Integrati on und Betreuung durchschnittlich für einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling entstehen? 9. Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge besuchen gegenwärtig eine Schule im Freistaat Thürin gen (bitte analog Frage 2 und zusätzlich nach der jeweiligen Schulart aufschlüsseln)? 10. Bei wie vielen von den sich im Freistaat Thüringen aufhaltenden unbegleiteten minderjährigen Flücht lingen wurde innerhalb der letzten sechs Jahre eine Altersfeststellung durchgeführt (bitte analog Frage 2 aufschlüsseln)? 11. Bei wie vielen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen hat sich im Freistaat Thüringen nach Durchfüh rung einer ärztlichen Untersuchung innerhalb der letzten sechs Jahre herausgestellt, dass sie in Wirk lichkeit älter sind, als sie es ursprünglich angegeben haben (bitte analog Frage 2 und dem tatsächlich ermittelten Alter aufschlüsseln)? 12. Welche Kriterien wenden die Jugendämter im Freistaat Thüringen zur Altersfeststellung im Rahmen der "qualifizierten lnaugenscheinnahme" im Sinne des § 42f Abs. 1 Satz 1 zweite Alternative des Achten Bu ches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) an? 13. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit für die Jugendämter im Freistaat Thüringen ein "Zweifelsfall" im Sinne des § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII gegeben ist? Das Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport hat die Kleine Anfrage namens der Lan desre gierung mit Schreiben vom 6. September 2018 wie folgt beantwortet: Zu 1.: Von der Landesmeldestelle Thüringen werden die unbegleiteten minderjährigen Ausländer (UMA) mit fol genden Daten registriert: Name, Vorname, Geburtsdatum, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Herkunftsland, Nationalität/Ethnie, Re ligion, Familienstand, Sprache, Tag der vorläufigen Inobhutnahme, Fluchtgemeinschaften/Verbünde/Ge schwister, Besonderheiten, aufnehmendes Jugendamt, abgebendes Jugendamt, Ausschlussdatum, Ein gang Erstmitteilung, Folgeeinrichtung nach Clearing, veränderte Personendaten, weiterführende Hilfen nach § 41 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Zu 2.: Zum Stichtag 31. Juli 2018 haben die Thüringer Jugendämter 968 UMA dem Bundesverwaltungsamt (BVA) gemeldet. Die Landesmeldestelle UMA erfasst alle in Frage 1 beschriebenen Daten sobald ein UMA entweder seitens des BVA dem Land Thüringen zugewiesen wird oder durch ein Thüringer Jugendamt nach § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut genommen wird. Anschließend befinden sich die UMA im eigenen Wirkungskreis der je weiligen Gebietskörperschaft und die Jugendämter sind lediglich verpflichtet, abgängige UMA der Lan desmeldestelle zu melden. Es lässt sich ab diesem Zeitpunkt nur die tatsächliche Anzahl der tagaktuell in Thüringen befindlichen UMA durch die Landesmeldestelle feststellen. Über die weiteren Hilfeformen, Bele gungsorte (auch außerhalb Thüringens), die Jahrgänge, Staatsangehörigkeiten, Geschlecht, Aufenthalts status et cetera der UMA können nur die jeweils zuständigen Gebietskörperschaften Auskunft erteilen. Einen Aufenthaltsstatus erhalten UMA erst nach der Registrierung der Landesmeldestelle und Prüfung der Personenangaben in den Gebietskörperschaften. Die in den folgenden Übersichten dargestellten Daten enthalten deshalb alle seit dem 1. November 2015 erfassten UMA und lassen keine Rückschlüsse über die aktuell in Thüringen befindlichen UMA zu, da dies in der Verantwortung der Gebietskörperschaften liegt. 3 Drucksache 6/6154Thüringer Landtag - 6. Wahlperiode erfasste UMA in Thüringen gesamt davon männlich davon weiblich 2.550 2.256 294 UMA Zuweisungen aus anderen Bundesländern seit 01.02.2016 1.398 Von Thüringer Jugendämtern gemeldete vorläufige Inobhutnahmen seit 01.05.2017 137 Geburtsjahr Personen Vom Hundert 1997 und älter 48 1,88 1998 315 12,35 1999 855 33,53 2000 628 24,63 2001 342 13,41 2002 154 6,04 2003 72 2,82 2004 33 1,29 2005 30 1,18 2006 und jünger 72 2,82 davon 6jährige und jünger 16 0,63 ohne genaues Geburtsjahr 1 0,04 Staatsangehörigkeit Personen Vom Hundert afghanisch 996 39,06 syrisch 428 16,78 irakisch 131 5,14 eritreisch 292 11,45 somalisch 188 7,37 äthiopisch 71 2,78 iranisch 26 1,02 guineisch 116 4,55 pakistanisch 16 0,63 marokkanisch 37 1,45 Weitere Staatsangehörigkeiten 228 8,94 unbekannt/ohne Angabe 21 0,82 Religionszugehörigkeit Personen Vom Hundert Islam (verschiedene) 1.799 70,55 Christen (verschiedene) 264 10,35 Jesiden 32 1,25 Ahmadiyya 4 0,16 Buddhist 2 0,08 Jesuiten 1 0,04 Sikh 4 0,16 ZarathustraAnhänger 1 0,04 unbekannt/ungeklärt 443 17,37 Zu 3.: Die Entwicklung der UMA-Fallzahlen seit dem 1. November 2015 in Thüringen ist der Anlage 1 zu entneh men. Zum Stichtag 31. Dezember 2013 waren 13 UMA, zum Stichtag 31. Dezember 2014 waren 53 UMA, 4 Thüringer Landtag - 6. WahlperiodeDrucksache 6/6154 zum Stichtag 31. Dezember 2015 waren 978 UMA, zum Stichtag 31. Dezember 2016 waren 1.505 UMA und zum Stichtag 31. Dezember 2017 waren 1.252 UMA in Thüringen untergebracht. Bezüglich der Auf schlüsselung wird auf die Antwort zu Frage 2 verwiesen. Zu 4.: Statistische Angaben entsprechend der Fragestellung liegen der Landesmeldestelle nicht vor. Zu 5.: Es liegen der Landesmeldestelle keine statistischen Angaben im Sinne der Fragestellung vor. Zu 6.: In Thüringen wurden in den vergangenen sechs Jahren keine UMA abgeschoben. Zu 7.: Die Kosten für die Inobhutnahme, Integration und Betreuung von UMA sind der nachfolgenden Übersicht zu entnehmen: Jahr Ausgaben in Euro 2013 4.446.406,00 2014 2.587.953,00 2015 2.227.830,24 2016 70.733.624,68 2017 71.200.706,68 2018 Haushaltsansatz: 72.833.400,00 Die Kostensteigerung von 2015 auf 2016 resultiert zum einen aus dem Zuwachs der Flüchtlingszahlen in 2015 und 2016 generell und zum anderen aus der geänderten Verteilpraxis von UMA mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Ju gendlicher zum 1. November 2015. Seit 1. November 2015 beinhalten die Ausgaben eine tägliche Verwal tungskostenpauschale die pro UMA in Höhe von 15,35 Euro gezahlt wird. Zu 8.: Die Versorgung, Unterbringung und Betreuung eines UMA nach § 89d SGB VIII kostet monatlich durch schnittlich 3.399 Euro (Stand: 1.08.2018) inklusive einer Verwaltungskostenpauschale. Zu 9.: Der Landesregierung liegen dazu keine Angaben vor. In der Schulstatistik wird nicht zwischen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und schulpflichtigen Flüchtlingen unterschieden. Es werden hier Schüler mit Migrationshintergrund statistisch erfasst. Zu 10.: Das Jugendamt hat im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme bei jeder ausländischen Person die Minder jährigkeit nach § 42f SGB VIII festzustellen. Zu 11.: Abfragen bei den Thüringer Jugendämtern haben Folgendes ergeben: Jahr angeordnete ärztliche Untersuchungen Feststellung Volljährigkeit 12/2014 k. A. k. A. 0110/2015 k. A. k. A. 1112/2015 0 0 12/2016 0 0 12/2017 9 9 08/2018 6 3 5 Drucksache 6/6154Thüringer Landtag - 6. Wahlperiode Zu 12.: Die Jugendämter werden regelmäßig auf die Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Min derjährigen, die in der 122. Arbeitstagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter vom 26. bis 28. April 2017 beschlossen wurden (insbesondere auf Anlage 4) sowie auf die Handlungsempfehlun gen zur Alterseinschätzung des Bundesfachverbandes für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BUMF) verwiesen. Es wird auf die Anlage 2 und 3 verwiesen Zu 13.: Ein "'Zweifelsfall'" im Sinne von § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII liegt entsprechend dann vor, wenn nicht mit Si cherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig (zum Beispiel: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 5.4.2017, Az. 12 BV 17.185). Holter Minister Anlagen* * Hinweis: Auf den Abdruck der Anlagen wurde verzichtet. Ein Exemplar mit Anlagen erhielten jeweils die Fraktionen und die Landtagsbibliothek. Des Weiteren können sie im Abgeordneteninformationssystem unter der oben genannten Druck sachennummer sowie im Internet unter der Adresse: www.parldok.thueringen.de eingesehen werden. UMA Übersichten für Thüringen und im Bund – Stand: 31. Juli 2018 a) Zuweisungen nach Thüringen seit 1.11.2015 b) UMA Gesamtzahlen seit 1.11.2015 c) UMA Entwicklungen im Bund seit April 2016 Kolbinger Schreibmaschinentext Anlage 1 Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen Verteilungsverfahren, Maßnahmen der Jugendhilfe und Clearingverfahren – 2. aktualisierte Fassung 2017 – beschlossen auf der 122. Arbeitstagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter vom 26. bis 28. April 2017 in Saarbrücken Kolbinger Schreibmaschinentext Anlage 2 2 Gliederung 1. Einleitung ............................................................................................................ 7 2. Begriffsdefinitionen .............................................................................................. 8 2.1 Unbegleitete ausländische Minderjährige ............................................................. 8 2.2 Definition „unbegleitet“ ......................................................................................... 8 2.2.1 Definition „minderjährig“ ...................................................................................... 8 2.2.2 Definition „ausländisch“ ....................................................................................... 9 2.3 Erstaufnahme- und Zuweisungsjugendämter ....................................................... 9 3. Rechtliche Grundlagen im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Ausländern .......................................................................................................... 9 3.1 Internationales Recht ........................................................................................... 9 3.1.1 UN-Kinderrechtskonvention................................................................................10 3.1.2 KSÜ und Brüssel IIa-Verordnung .......................................................................10 3.1.3 Dublin III-Verordnung .........................................................................................10 3.1.4 EU-Aufnahmerichtlinie ........................................................................................11 3.1.5 EU-Qualifikationsrichtlinie ..................................................................................11 3.2 Deutsches Recht ................................................................................................ 11 3.2.1 Kinder- und Jugendhilferecht ..............................................................................11 3.2.2 Andere Rechtsgebiete ........................................................................................12 3.3 Kooperationsbezüge .......................................................................................... 13 3.4 Sozialdatenschutz .............................................................................................. 13 3.5 Partizipation/Beteiligung ..................................................................................... 14 4. Zuständigkeiten ..................................................................................................14 4.1 Zuständigkeit für die vorläufige Inobhutnahme (einschließlich Erst-Screening) .. 15 4.2 Zuständigkeit für die Inobhutnahme ................................................................... 16 4.3 Zuständigkeit für Leistungen (Anschlusshilfen)................................................... 17 4.4 Zuständigkeit für Vormundschaft und Pflegschaft ............................................... 17 4.5 Zuständigkeit für Hilfe für junge Volljährige ........................................................ 17 5. Verfahrensablauf der bundesweiten Verteilung von unbegleiteten Minderjährigen ...................................................................................................18 6. Standards der vorläufigen Inobhutnahme von unbegleiteten Minderjährigen ......21 6.1 Erstgespräch ...................................................................................................... 21 6.2 Vieraugenprinzip plus Sprachmittler/Dolmetscher .............................................. 21 6.3 Altersfeststellung ................................................................................................ 21 6.4 Schriftliche Dokumentation des Erstgespräches ................................................. 21 6.5 Erstscreening der Situation des/der unbegleiteten Minderjährigen ..................... 22 6.6 Gefährdung des Wohls des/der Minderjährigen durch die Durchführung des Verteilungsverfahrens ........................................................................................ 22 6.6.1 Aufenthalt einer mit dem/der Minderjährigen verwandten Person im In- oder Ausland .................................................................................................23 6.6.2 Erfordernis einer gemeinsamen Inobhutnahme mit Geschwistern oder anderen unbegleiteten Minderjährigen ...............................................................23 3 6.6.3 Prüfung des Gesundheitszustands .....................................................................24 6.6.4 Abschluss des Erstscreenings ............................................................................24 6.7 Rechtliche Vertretung im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme ...................... 24 6.8 Meldung personenbezogener Daten an die für die Verteilung zuständige Landesstelle ....................................................................................................... 25 6.9 Überführung des Minderjährigen zum § 42-Jugendamt ...................................... 25 6.10 Zusammenführung mit verwandten Personen im In- und Ausland durch das § 42a-Jugendamt ............................................................................................... 26 6.11 Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ........................................................ 26 7. Standards der Inobhutnahme .............................................................................26 7.1 Inobhutnahme durch das Jugendamt ................................................................. 26 7.2 Unterbringung im Rahmen der Inobhutnahme .................................................... 27 7.2.1 Materielle und medizinische Versorgung ............................................................27 7.2.2 Betriebserlaubnis/Fachkräftegebot .....................................................................28 7.3 Herbeiführung einer gesetzlichen Vertretung (Vormundschaft und/oder Pflegschaft) ........................................................................................................ 28 7.3.1 Aufgaben und Stellung des Vormunds ...............................................................30 7.3.2 Anzuwendendes Recht Heimatrecht/deutsches Recht/internationale Abkommen .........................................................................................................30 7.3.3 Ergänzungspfleger für den Wirkungskreis ausländerrechtliche/ asylrechtliche Vertretung ....................................................................................31 7.4 Beendigung der Inobhutnahme .......................................................................... 32 7.5 Statistik .............................................................................................................. 32 8. Ablauf des Clearingverfahrens ...........................................................................32 8.1 Klärung des Gesundheitszustandes ................................................................... 33 8.2 Erkennungsdienstliche Behandlung ................................................................... 33 8.3 Sozialanamnese ................................................................................................. 33 8.4 Bildung und Informationsvermittlung .................................................................. 34 8.5 Beginn der Hilfeplanung ..................................................................................... 35 8.6 Ende des Clearingverfahrens ............................................................................. 35 9. Anschlussmaßnahmen .......................................................................................35 10. § 42f – Behördliches Verfahren zur Altersfeststellung ........................................36 10.1 Altersfeststellung ................................................................................................ 36 10.2 Aufgaben des Jugendamtes ............................................................................... 36 10.3 Klärung bei ungewissem Alter ............................................................................ 37 10.4 Verweigerungshaltung der betroffenen Person .................................................. 37 10.5 Vorgehen bei nicht eindeutigem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung ............. 38 10.6 Rechtsschutz – Ausschluss der aufschiebenden Wirkung .................................. 38 10.7 Ausländerrechtliche Aspekte .............................................................................. 38 10.8 Ausländerrechtliche Registrierung ...................................................................... 39 10.9 Ankunftsnachweis .............................................................................................. 39 10.10 Aufenthaltsstatus vor Stellung eines Asylantrags ............................................... 39 10.11 Asylantragstellung .............................................................................................. 39 4 10.12 Verfahren ohne Asylantragstellung..................................................................... 40 10.13 Wohnsitzauflage ................................................................................................. 40 10.14 Residenzpflicht ................................................................................................... 40 10.15 Unbegleitete Minderjährige in Familienverbünden und Fluchtgemeinschaften - Prüfung der Erziehungsberechtigung ................................................................. 41 10.15.1 Inobhutnahme eines/einer unbegleiteten Minderjährigen bei einer geeigneten Person .............................................................................................41 11. Themenkomplex entwichene unbegleitete Minderjährige ...................................42 12. Verheiratete Minderjährige .................................................................................43 13. Die Aufgabe der Familienzusammenführung während der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII ...................................................................44 13.1 Verwandte Personen .......................................................................................... 45 13.2 Kurzfristigkeit ..................................................................................................... 45 13.3 Zusammenführung ............................................................................................. 45 13.4 Empfohlene Vorgehensweise ............................................................................. 46 13.4.1 Kontakt mit dem Jugendamt vor Ort ...................................................................46 13.4.2 Prüfung der Lebenssituation der Verwandten .....................................................46 13.4.3 Klärung der ausländer- und asylrechtlichen Voraussetzungen ...........................46 13.4.4 Unterbringung des/der unbegleiteten Minderjährigen bei den Verwandten .........46 13.4.5 Wechsel der jugendhilferechtlichen Zuständigkeit ..............................................46 Anlagen ........................................................................................................................... 47 Anlage 1: Auslegungshilfe des BMFSFJ ............................................................................ 47 Anlage 2: Dokumentation während der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. 2 SGB VIII ........................................................................................ 50 Anlage 3: Dokumentation während der Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII .................... 52 Anlage 4: Prüfung der Voraussetzungen für eine (vorläufige) Inobhutnahme ..................... 55 Anlage 5: Anamnesebogen ................................................................................................ 58 Anlage 6: Sozialpädagogische Einschätzung ..................................................................... 63 Anlage 7: Musterschreiben für die Anregung einer Vormundbestellung ............................. 65 Anlage 8: Statistikbogen .................................................................................................... 67 Anlage 9: Liste aller Landesverteilstellen ........................................................................... 68 Anlage 10: Stellungnahme des bayerischen Landesjugendamtes zu verheirateten Minderjährigen ................................................................................................... 70 Literaturverzeichnis .............................................................................................................. 71 Liste der Mitglieder der Arbeitsgruppe zur Überarbeitung der Handlungsempfehlungen.......72 5 Abkürzungsverzeichnis AufenthG Aufenthaltsgesetz AsylG Asylgesetz BAMF Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BGB Bürgerliches Gesetzbuch Brüssel IIa-VO VERORDNUNG (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 BVA Bundesverwaltungsamt Dublin III-VO VERORDNUNG (EU) Nr. 604/2013 DES EU- ROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist EGBGB Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch EU-Aufnahmerichtlinie RICHTLINIE 2013/33/EU DES EUROPÄI- SCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung ) EU- Qualifikationsrichtlinie RICHTLINIE 2011/95/EU DES EUROPÄI- SCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes 6 EU-Asylverfahrensrichtlinie RICHTLINIE 2013/32/EU DES EUROPÄI- SCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Juni 2013 zum gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung) FamFG Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit GG Grundgesetz KSÜ Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit , das anzuwendende Recht, die Anerkennung , Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern SGB I Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil SGB V Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung SGB VIII SGB X UN-KRK Sozialgesetzbuch, Achtes Buch (VIII) – Kinder - und Jugendhilfe Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (X) – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 7 1. Einleitung Die erste Auflage dieser Handlungsempfehlungen erschien im Frühjahr 2014 nach zweijähriger Erarbeitungszeit. Damals widmete sich eine kleine Zahl von Fachkräften aus verschiedenen Bundesländern einem Randthema der Jugendhilfe. Die stark steigenden Einreisezahlen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Jahr 2014, vor allem aber in der zweiten Jahreshälfte 2015, führten dazu, dass dieses Thema plötzlich immer mehr Jugendämter beschäftigte. Besonders betroffen waren Jugendämter an Einreiseknotenpunkten wie etwa Berlin, Bremen, Passau, Frankfurt am Main, Saarbrücken, Neumünster oder Aachen. Um diese Jugendämter zu entlasten, beschloss der Bundestag im Oktober 2015 das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher, das kurzfristig am 01. November 2015 in Kraft trat. Dieses Gesetz sieht im Wesentlichen ein Verteilungsverfahren für alle unbegleiteten ausländischen Kinder und Jugendlichen vor und regelt damit erstmals sehr umfassend den Umgang mit ihnen. Die schnelle Ausarbeitung des Gesetzes – der erste Entwurf lag im Juli 2015 vor – und das zeitnahe Inkrafttreten stellte die Jugendämter sowie die neu aufzubauenden Verteilstellen auf Länderebene vor eine große Herausforderung. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten und unter enormer Kraftanstrengung aller Beteiligten hat sich jedoch in wenigen Wochen ein strukturiertes Verfahren entwickelt. Gleichwohl stellen sich immer wieder neue Fragen, auf die es nicht immer sofort eine endgültige Antwort gibt. Das Verfahren ist einer ständigen Dynamik unterworfen und wird regelmäßig den aktuellen Entwicklungen in der Praxis angepasst . Bei allen verwaltungs- und kostentechnischen Herausforderungen darf dabei eines nicht aus dem Blick geraten: Unbegleitete Minderjährige gehören zu den schutzbedürftigsten Menschen überhaupt. Sie haben ihre Heimat, ihre Familie in Krisengebieten zurückgelassen, in der Hoffnung auf ein besseres, ein sicheres Leben in Europa. Es ist Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, diese Minderjährigen bei ihrer Ankunft in Deutschland und auf ihrem weiteren Weg hier bestmöglich zu unterstützen. Mit diesen Handlungsempfehlungen will die Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter einen Beitrag dazu leisten. Sie richten sich in erster Linie an Mitarbeitende in den Jugendämtern und bei freien Trägern. Sie sollen aber auch die strukturelle Zusammenarbeit mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen fördern und somit den Schutz der in Deutschland eingereisten unbegleiteten ausländischen Kinder und Jugendlichen weiter verbessern. 8 2. Begriffsdefinitionen 2.1 Unbegleitete ausländische Minderjährige Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher zum 01. November 2015 werden Minderjährige , die unbegleitet nach Deutschland einreisen, nicht mehr als „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ (UMF), sondern als „unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche“ bzw. „unbegleitete ausländische Minderjährige“ (UMA) bezeichnet. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat in seiner Auslegungshilfe vom 14. April 2016 (Anlage) diesen Begriff wie folgt definiert: „Ein „UMA“ (unbegleiteter ausländischer Minderjähriger; wird auch als „UMF“ bezeichnet) i. S. d. Gesetzes ist jede nichtdeutsche Person, die noch nicht 18 Jahre alt ist und die ohne Personensorge- oder Erziehungsberechtigten nach Deutschland einreist.“ Die Arbeitsgruppe hat sich zur besseren Lesbarkeit der Handlungsempfehlungen dazu entschieden , im Folgenden den Begriff „unbegleitete Minderjährige“ zu verwenden. Von dieser Begrifflichkeit sind alle unbegleiteten ausländischen Kinder und Jugendlichen erfasst. 2.2 Definition „unbegleitet“ Nach der Auslegungshilfe des BMFSFJ (Anlage) ist ein ausländischer Minderjähriger „unbegleitet “ im Sinne des Verfahrens, „wenn er ohne Personensorge- oder Erziehungsberechtigten nach Deutschland einreist“. Hierbei sind: die Minderjährigen unbegleitet, die bereits ohne Personensorge- oder Erziehungsberechtigte in das Bundesgebiet eingereist sind und von ihnen auch getrennt bleiben. die Minderjährigen unbegleitet, welche nach der Einreise in das Bundesgebiet von Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten dort ohne Begleitung zurückgelassen werden1 und bei denen davon auszugehen ist, dass die Trennung andauert und die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten aufgrund der räumlichen Trennung nicht in der Lage sind, sich um die Minderjährigen zu kümmern. die Minderjährigen unbegleitet, die zwar in Begleitung einer anderen Person einreisen, diese aber nicht personensorge- oder erziehungsberechtigt ist. die Minderjährigen unbegleitet, die ohne Personensorge- oder Erziehungsberechtigte in das Bundesgebiet eingereist sind, deren Personensorge- oder Erziehungsberechtigte sich im Bundesgebiet aufhalten, aber aufgrund der räumlichen Trennung vorübergehend nicht in der Lage sind, sich um die Minderjährigen zu kümmern und bei denen eine Familienzusammenführung noch nicht stattgefunden hat. 2.2.1 Definition „minderjährig“ Minderjährig ist jede Person, welche noch nicht 18 Jahre alt ist und damit jedes Kind und jede/r Jugendliche (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII). 1Art. 2 Buchstabe e) der EU-Aufnahmerichtlinie 9 2.2.2 Definition „ausländisch“ Ausländer sind alle Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG sind (§ 2 Abs. 1 AufenthG). „Auch Minderjährige aus EU-Staaten unterliegen grundsätzlich dem Verteilungsverfahren nach §§ 42a ff. SGB VIII.“ (Auskunft des BMFSFJ in einer E-Mail vom 21. Oktober 2016) In diesen Fällen sollte intensiv geprüft werden, ob die Verteilung nicht möglicherweise wegen einer Familienzusammenführung (kurzfristige Rückführung zu den Eltern) ausgeschlossen ist. 2.3 Erstaufnahme- und Zuweisungsjugendämter Durch die Einführung des Verteilungsverfahrens für unbegleitete Minderjährige haben Jugendämter verschiedene Aufgaben. Am Beginn des Verfahrens stehen die „Erstaufnahme- Jugendämter“, die die unbegleiteten Minderjährigen gemäß § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut nehmen. Im Rahmen des Verteilungsverfahrens erfolgt die Zuweisung der unbegleiteten Minderjährigen in ein „Zuweisungsjugendamt“, das die unbegleiteten Minderjährigen nach § 42 SGB VIII in Obhut nimmt. In den Bundesländern haben sich in diesem Zusammenhang unterschiedliche Bezeichnungen entwickelt. Die Arbeitsgruppe hat sich entschieden, die Jugendämter anhand ihrer jeweiligen Aufgabe zu bezeichnen. Das Jugendamt, das eine/n unbegleitete/n Minderjährige/n vorläufig in Obhut nimmt, wird als „§ 42a-Jugendamt“ bezeichnet. Das Jugendamt, das eine/n unbegleitete/n Minderjährige/n in Obhut nimmt, wird „§ 42-Jugendamt“ genannt. 3. Rechtliche Grundlagen im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Ausländern Im Zusammenhang mit unbegleiteten Minderjährigen kommen unterschiedliche Gesetze und Rechtsvorschriften zur Anwendung, wobei zwischenstaatliches Recht dem nationalen Recht vorgeht. Für den deutschen Rechtsbereich können darüber hinaus Ausführungsverordnungen und Richtlinien der Länder die Umsetzung von Bundesrecht spezifizieren. Auf Landesregelungen wird jedoch vorliegend nicht Bezug genommen. Folgende rechtliche Grundlagen sind grundsätzlich zu beachten: UN-KRK KSÜ Brüssel IIa-VO Dublin III-VO EU-Aufnahmerichtlinie EU-Qualifikationsrichtlinie SGB I, VIII und X BGB FamFG AufenthG AsylG 3.1 Internationales Recht Die internationalen Regelungen verpflichten jeden Vertragsstaat zur entsprechenden Anwendung seiner innerstaatlichen Rechts- und Verfahrensvorschriften zum Schutz von Minderjährigen mit Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet. 10 3.1.1 UN-Kinderrechtskonvention Von zentraler Bedeutung sind die Regelungen der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK). Mit der rechtsverbindlichen Rücknahme der früheren Vorbehaltserklärung durch die Bundesregierung am 15. Juli 2010 hat sich Deutschland vorbehaltlos dazu verpflichtet, die in der UN-KRK niedergelegten Prinzipien und Kinder-Grundrechte in Deutschland zu verwirklichen. Wichtige Anknüpfungspunkte sind Artikel 3 UN-KRK, wonach alle zu treffenden Maßnahmen vorrangig am Kindeswohl auszurichten sind sowie Artikel 2 UN-KRK, welcher das Recht auf Gleichbehandlung bzw. Nichtdiskriminierung einräumt. Artikel 6 der Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten, das Recht auf Leben, das Überleben sowie die persönliche Entwicklung aller Kinder sicherzustellen. Eine Beteiligung des Kindes ist, entsprechend den Vorgaben des Artikels 12 des Übereinkommens, unbedingt zu gewährleisten. Von besonderer Relevanz ist Artikel 22 UN-KRK, der auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingskindern hinweist. Nach Artikel 22 Abs. 1 UN-KRK ist für Flüchtlingskinder (insbesondere unbegleitete Flüchtlingskinder) angemessener Schutz und humanitäre Hilfe zu gewährleisten, damit sie ihre Rechte effektiv wahrnehmen können. Hilfe zur Rechtswahrnehmung ist insbesondere dann geboten, wenn ein Flüchtlingskind unbegleitet eingereist ist oder wenn es aus anderen Gründen durch keinen Elternteil oder sonst Sorgeberechtigten betreut wird. Gemäß Artikel 22 Abs. 2 Satz 2 der Konvention ist diesen unbegleiteten Kindern „derselbe Schutz zu gewähren wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist“. In solchen Fällen ist es Pflicht und Aufgabe der Jugendbehörde und des Familiengerichts, die zur Abwendung von Gefahren erforderlichen Maßnahmen zu veranlassen.2 3.1.2 KSÜ und Brüssel IIa-Verordnung Weitere Grundsätze beinhalten das Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) sowie die Brüssel IIa-Verordnung. Nach Artikel 6 Abs. 1 und 2 KSÜ haben Behörden und Gerichte für Flüchtlingskinder und Kinder, die infolge von Unruhen in ihrem Land in das Land eines Mitgliedstaates gelangt sind, Maßnahmen zum Schutz von Person oder Vermögen dieser Minderjährigen zu gewährleisten . Dabei knüpft die Verpflichtung zum Tätigwerden nicht an das Vorhandensein eines gewöhnlichen Aufenthaltes an, vielmehr genügt bereits ein tatsächlicher Aufenthalt. Gleiches regelt Artikel 13 der Brüssel IIa-VO für ihren Anwendungsbereich. 3.1.3 Dublin III-Verordnung Nach Artikel 8 der Dublin III-VO ist bei unbegleiteten Minderjährigen – anders als bei erwachsenen Asylerstantragsstellern – der Mitgliedsstaat der EU für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in dem zuletzt ein Asylantrag gestellt wurde. Das bedeutet, dass das Asylverfahren in dem EU-Staat durchzuführen ist, in dem sich der Minderjährige tatsächlich aufhält. Demzufolge kommt eine Überstellung von unbegleiteten Minderjährigen in ein anderes Dublin III-Mitgliedsland nur dann in Betracht, wenn eine Zusammenführung mit Familienangehörigen oder Verwandten erfolgen soll und nur sofern dies dem Wohl des Minderjährigen entspricht (sog. Positiv-Prüfung).3 2 Trenczek et al.: Grundzüge des Rechts, München 2014, 72 f. 3 Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 17.09.2014, Az. 2 BvR 939/14, NVwZ 2014, 1511-1513. 11 3.1.4 EU-Aufnahmerichtlinie Die EU-Aufnahmerichtlinie schreibt in Art. 24 Abs. 2 unter anderem die Rangfolge der Orte vor, an denen unbegleitete Minderjährige untergebracht werden sollen: Primär soll eine Aufnahme bei erwachsenen Verwandten erfolgen. Ist dies nicht möglich, sollen sie in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Stehen weder erwachsene Verwandte noch eine Pflegefamilie zur Verfügung, sieht die Richtlinie eine Unterbringung in einem Aufnahmezentrum mit speziellen Einrichtungen für Minderjährige oder in anderen für Minderjährige geeigneten Unterkünften vor. Bei dieser Regelung handelt es sich jedoch nur um einen Mindeststandard, das SGB VIII enthält darüber hinaus höhere Anforderungen an die Unterbringung von (unbegleiteten) Minderjährigen . Für unbegleitete Minderjährige, die mit erwachsenen Begleitpersonen reisen, ohne dass diese personensorge- oder erziehungsberechtigt sind, wird auf Kapitel 12 verwiesen. 3.1.5 EU-Qualifikationsrichtlinie Gegenstand der EU-Qualifikationsrichtlinie ist die Festlegung von Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen , die internationalen Schutz benötigen. Darüber hinaus bestimmt die Richtlinie weitere verbindliche Standards, um die spezielle Situation besonders schutzbedürftiger Personen zu berücksichtigen. Artikel 3 der Richtlinie stellt klar, dass es sich hierbei lediglich um absolute Mindestanforderungen handelt. So sollen alle Flüchtlinge Zugang zu Beschäftigung, Bildung, Verfahren für die Anerkennung von Befähigungsnachweisen, Sozialhilfeleistungen, zu medizinischer Versorgung und zu Integrationsmaßnahmen erhalten (Artikel 26, 27, 28, 29, 30, 34). Unbegleitete Minderjährige sollen durch einen gesetzlichen Vormund vertreten werden. Dabei sind die Bedürfnisse des Minderjährigen gebührend zu berücksichtigen (Art. 31 Abs. 1, 2). Nach Artikel 31 Abs. 4 sollen Geschwister so weit wie möglich zusammenbleiben (siehe auch § 42b Abs. 5 SGB VIII), der Wechsel des Aufenthaltsortes ist auf ein Mindestmaß zu beschränken. Familienangehörige sollen gemäß Artikel 31 Abs. 5 so bald wie möglich ausfindig gemacht werden. 3.2 Deutsches Recht 3.2.1 Kinder- und Jugendhilferecht In Deutschland sind anknüpfend an die internationalen Rechtsvorschriften bei Einreise von unbegleiteten Minderjährigen alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Kindeswohls im Rahmen des staatlichen Wächteramtes auf der Grundlage des Achten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe) sicherzustellen. Leitgedanke dieses Gesetzes ist es, dass jeder junge Mensch in Deutschland ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat (§ 1 Abs. 1 SGB VIII). Zuletzt wurde das SGB VIII durch das „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ geändert, das in seinen we- 12 sentlichen Teilen4 zum 01. November 2015 in Kraft getreten ist. Den Kern des Gesetzes bildet ein rechtlich geregeltes einheitliches Verfahren für eine Verteilung unbegleiteter Minderjähriger und eine Änderung in der Kostenerstattung. Daneben nahm das Gesetz Änderungen des Aufenthaltsgesetzes und des Staatsangehörigkeitsgesetzes vor. Bis zur Gesetzesänderung wurden unbegleitete Minderjährige am Ort des tatsächlichen Aufenthalts vor Beginn der Maßnahme durch das örtlich zuständige Jugendamt nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut genommen. Dieses Jugendamt war in der Folge auch für die Gewährung der sich an die Inobhutnahme in der Regel anschließenden Jugendhilfeleistungen (sog. Anschlusshilfen) zuständig. Vor diesem Hintergrund konzentrierte sich bundesweit die Zuständigkeit für die Inobhutnahme unbegleiteter Minderjähriger auf eine relativ geringe Anzahl von Trägern der öffentlichen Jugendhilfe an den so genannten Einreiseknotenpunkten.5 Zielsetzung des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher war es, „eine bedarfsgerechte Versorgung und Betreuung entsprechend den Standards der Jugendhilfe zu gewährleisten und somit das Kindeswohl sicherzustellen sowie die Belastungen der Kommunen gerechter zu verteilen“.6 Die neu eingefügten Rechtsgrundlagen des SGB VIII enthalten vor allem Änderungen zur Inobhutnahme ausländischer Kinder und Jugendlicher, die unbegleitet nach Deutschland eingereist sind. So wird etwa die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII zur Ermöglichung eines Verteilverfahrens der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII vorgeschaltet. Bei der vorläufigen Inobhutnahme handelt es sich um eine neue Aufgabe der Jugendämter vor der Entscheidung über die Verteilung unbegleiteter Minderjähriger. Am Primat der Kinder- und Jugendhilfe und an der Primärzuständigkeit des Jugendamts wird somit unverändert festgehalten. Mit § 42f SGB VIII wurde darüber hinaus ein behördliches Verfahren zur Altersfeststellung eingeführt (Kapitel 10). 3.2.2 Andere Rechtsgebiete Neben dem Kinder- und Jugendhilferecht sind weitere Rechtsgebiete von großer Bedeutung für unbegleitete Minderjährige. Dazu gehören insbesondere das Asylgesetz (AsylG), das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) sowie das Gesetz über das Ausländerzentralregister (AZRG). Das Asylgesetz regelt das Asylverfahren in Deutschland und gilt für alle Ausländer, die einen Asylantrag stellen, § 1 Abs. 1 AsylG. Das Aufenthaltsgesetz hingegen dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland, § 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Es regelt im Wesentlichen die Ein- und Ausreise und den Aufenthalt von Ausländern in Deutschland und räumt den Ausländerbehörden unter anderem Maßnahmen zur Überprüfung, Feststellung und Sicherung der Identität ein, § 49 AufenthG (siehe auch Kapitel 11.1). Gleichwohl geht das Kinder- und Jugendhilferecht dem Asyl- und Aufenthaltsrecht nach Einreise eines unbegleiteten Minderjährigen vor,7 sodass Behörden 4 Die Aufhebung des § 89d Abs. 3 SGB VIII erfolgt erst zum 01.07.2017. 5 Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher , BT-Drs. 18/5921, S.15. 6 Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher , BT-Drs. 18/5921, S.16. 7 Elfter Bericht zur Teilhabe, Chancengleichheit und Rechtsentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland, Unterrichtung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, BT-Drs. 18/10610, S. 495. 13 mit asyl- und aufenthaltsrechtlichen Zuständigkeiten im Rahmen ihrer Entscheidungen eine Kindeswohlprüfung als einen besonderen Verfahrensgrundsatz zu berücksichtigen haben.8 Am 05. Februar 2016 sind wesentliche Vorschriften des Datenaustauschverbesserungsgesetzes in Kraft getreten.9 Es regelt unter anderem die Erfassung relevanter Daten von Flüchtlingen im Ausländerzentralregister. Außerdem erlaubt es nach § 18d des Gesetzes über das Ausländerzentralregister (AZRG) die Übermittlung von bestimmten Daten an Jugendämter zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf deren Ersuchen. Dazu gehören etwa die Grunddaten nach § 14 Abs. 1 AZRG, abweichende Namensschreibweisen, das zuständige Jugendamt oder die Durchführung von Impfungen mit Art, Ort und Datum. Die Registerführung für das Ausländerzentralregister liegt beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. 3.3 Kooperationsbezüge § 81 SGB VIII verpflichtet die Träger der öffentlichen Jugendhilfe, im Rahmen ihrer Aufgaben und Befugnisse mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Hierzu gehören insbesondere: Träger von Sozialleistungen nach dem Zweiten, Dritten, Vierten, Fünften, Sechsten und dem Zwölften Sozialgesetzbuch sowie Träger von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz Familien- und Jugendgerichte, Staatsanwaltschaften sowie Justizvollzugsbehörden Schulen und Stellen der Schulverwaltung Einrichtungen und Stellen des öffentlichen Gesundheitsdienstes und sonstige Einrichtungen und Dienste des Gesundheitswesens Beratungsstellen nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes und Suchtberatungsstellen Einrichtungen und Dienste zum Schutz gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen Stellen der Bundesagentur für Arbeit Einrichtungen und Stellen der beruflichen Aus- und Weiterbildung Polizei- und Ordnungsbehörden Die Gewerbeaufsicht und Einrichtungen der Ausbildung für Fachkräfte, der Weiterbildung und der Forschung Darüber hinaus ist eine enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Ausländerbehörden dringend erforderlich. Im Rahmen der Qualitätsentwicklung und -sicherung ist eine Vernetzung und Koordinierung durch fachübergreifende und interdisziplinäre Arbeitsgruppen empfehlenswert. 3.4 Sozialdatenschutz Für den Schutz von Sozialdaten bei ihrer Erhebung und Verwendung in der Jugendhilfe gelten § 35 SGB I, §§ 67 bis 85a SGB X sowie die Vorschriften in §§ 61 bis 68 SGB VIII. Werden Einrichtungen und Dienste der freien Jugendhilfe in Anspruch genommen, so ist sicherzustellen , dass der Schutz personenbezogener Daten bei der Erhebung und Verwendung in entsprechender Weise gewährleistet ist. 8 Elfter Bericht zur Teilhabe, Chancengleichheit und Rechtsentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland, Unterrichtung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, BT-Drs. 18/10610, S. 495. 9 BGBl. 2016, Teil I, S. 130. 14 3.5 Partizipation/Beteiligung Die Partizipation/ Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in allen sie betreffenden Angelegenheiten ist ein Thema, mit dem sich alle Institutionen und Einrichtungen der öffentlichen und freien Jugendhilfe auseinandersetzen müssen. 2013 hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter in ihrer aktualisierten Arbeitshilfe „Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren im Rahmen der Betriebserlaubniserteilung für Einrichtungen der Erziehungshilfe“ den Stellenwert von Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten unterstrichen. Die Beteiligung ist explizit formuliert in § 8 Abs. 1 SGB VIII: „Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. Sie sind in geeigneter Weise auf ihre Rechte im Verwaltungsverfahren sowie im Verfahren vor dem Familiengericht und dem Verwaltungsgericht hinzuweisen“. In den Neuregelungen der §§ 42a ff. SGB VIII ist die Beteiligung der Minderjährigen ebenfalls explizit benannt (bspw. § 42a Abs. 2, Abs. 3 Satz 2, § 42a Abs. 5 Satz 3 SGB VIII). Zu den Rechten des Minderjährigen gehört nach § 13 Abs. 4 SGB X auch, einen Beistand, zum Beispiel eine Person seines Vertrauens, beizuziehen. Besonders sollte beachtet werden, dass die unbegleiteten Minderjährigen oftmals nicht aufgrund einer eigenen freien Entscheidung ihre Heimat verlassen haben und die Fluchterfahrungen ebenfalls durch Fremdbestimmung geprägt sind. Es ist somit geboten, die unbegleiteten Minderjährigen von Anfang an zu beteiligen. Dazu gehören die Bereitstellung von Sprachmittlern und ggf. Dolmetschern sowie das Angebot von Sprachkursen zum Erwerb der deutschen Sprache. Nicht immer werden sich die Wünsche der Minderjährigen umsetzen lassen, beispielsweise aufgrund der vorgehaltenen Angebotsstruktur (Wahl einer Einrichtung oder des Ortes), der Residenzpflicht oder weil sie nicht die notwendigen Voraussetzungen mitbringen (z.B. Art der Beschulung). Dies ist ihnen in Gesprächen zu vermitteln. 4. Zuständigkeiten Unbegleitete Minderjährige kommen mit der Bahn, mit dem Bus, mit einem PKW, einem LKW oder mit dem Schiff, im Zweifel auch zu Fuß nach Deutschland. Abhängig davon haben sie mit unterschiedlichen Behörden erstmals Kontakt. Häufig werden sie von Bundes- oder Landespolizei aufgegriffen, teilweise melden sie sich auch selbst bei Ausländerbehörden, Sozial- oder Jugendämtern. Unabhängig davon, bei welcher Behörde sie auftauchen, gilt: Die erste deutsche Behörde, die mit einem/einer möglicherweise unbegleiteten Minderjährigen in Kontakt kommt, muss die Personalien nach seinen/ihren Angaben aufnehmen. Legt die Person gültige Ausweisdokumente vor, so ist das darin angegebene Alter maßgeblich . Liegen keine Ausweispapiere vor, wie es bei unbegleiteten Minderjährigen häufig der Fall ist, zählt die Angabe des/der Minderjährigen. Ist er/sie ausweislich der Papiere minderjährig oder gibt er/sie an, minderjährig zu sein, soll die Behörde bzw. Erstaufnahmeeinrichtung sofort das örtlich zuständige Jugendamt informieren. Welches Jugendamt für die einzelnen Jugendhilfemaßnahmen örtlich zuständig ist, ergibt sich aus § 88a SGB VIII, sofern es keine anderslautende landesrechtliche Regelung gibt. 15 4.1 Zuständigkeit für die vorläufige Inobhutnahme (einschließlich Erst-Screening10) Örtlich zuständig für die vorläufige Inobhutnahme ist das Jugendamt, in dessen Bereich sich der/die Minderjährige vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhält, soweit Landesrecht nichts anderes regelt (§ 88a Abs. 1 SGB VIII). Dabei kommt es auf den Ort des Aufgriffs oder der Selbstmeldung an11, an dem ein Jugendamt oder eine andere Behörde die unbegleitete Einreise festgestellt hat12. Sobald also ein Jugendamt erfährt, dass in seinen Zuständigkeitsbereich ein unbegleiteter Minderjähriger eingereist ist, muss es diese/n vorläufig in Obhut nehmen. Im Zweifel ist zugunsten des Betroffenen von seiner Minderjährigkeit auszugehen,13 zum Verfahren der Altersfeststellung wird auf Kapitel 10 verwiesen. Die vorläufige Inobhutnahme endet gemäß § 42a Abs. 6 SGB VIII mit Übergabe des unbegleiteten Minderjährigen an die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten oder an das § 42-Jugendamt oder mit der Anzeige über den Ausschluss des Verteilungsverfahrens. Zum Ende der Inobhutnahme bei Entweichen des unbegleiteten Minderjährigen wird auf Kapitel 13 verwiesen. Die vorläufige Inobhutnahme ist eine hoheitliche Aufgabe. Daher darf nur das Jugendamt die Entscheidung treffen, ob eine Person vorläufig in Obhut genommen wird oder nicht. Die Entscheidung über die vorläufige Inobhutnahme stellt einen Verwaltungsakt dar. Alle weiteren Befugnisse und Aufgaben der vorläufigen Inobhutnahme können demgegenüber gemäß § 76 Abs. 1 SGB VIII auf anerkannte Träger der freien Jugendhilfe zur Ausführung übertragen werden, dabei verbleibt die Letztverantwortung nach § 76 Abs. 2 SGB VIII beim Jugendamt. Anerkannte freie Träger können insbesondere über die Angelegenheiten des täglichen Lebens entscheiden, die die Minderjährigen betreffen. Dazu gehören beispielsweise Strukturierung des Tagesablaufs, Angebote zum Spracherwerb, Freizeitgestaltung , Mitgliedschaft in Sportvereinen, Einzelentscheidungen über Kontakte zu Verwandten und Freunden, alltägliche Gesundheitsfürsorge wie Behandlung kleinerer Krankheiten und Anschaffung von Kleidung und anderen Dingen für den täglichen Bedarf. In Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für die Minderjährigen, also Angelegenheiten, die über den Rahmen des Alltäglichen hinausgehen, entscheidet hingegen das Jugendamt im Rahmen seines Vertretungsrechts nach § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. Anerkannte freie Träger können somit gemäß § 76 SGB VIII vom öffentlichen Träger der Jugendhilfe an der Aufgabenerfüllung der vorläufigen Inobhutnahme beteiligt werden, jedoch ist es ihnen nicht gestattet, unbegleitete Minderjährige selbst eingreifend nach § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut zu nehmen. Eine vorläufige Inobhutnahme im Sinne von § 42a SGB VIII ohne oder erst aufgrund nachträglicher Einschaltung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe ist, analog zur Inobhutnahme 14, unzulässig. Soll eine Beteiligung eines freien Trägers an der Durchführung der Aufgabe erfolgen, bedarf ein solcher Vertrag eines Beschlusses des Jugendhilfeausschusses.15 Eine ohne vorherige 10 Mit dem Begriff „Erst-Screening“ benennt der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung die vier Punkte, die das Jugendamt der vorläufigen Inobhutnahme prüfen muss (BT-Drs. 18/5921, S. 26). In einigen Bundesländern wird hingegen der Begriff „Vor-Clearing“ verwendet, ohne dass es einen inhaltlichen Unterschied gibt (siehe auch Kapitel 6.2). 11 BT-Drs. 18/5921, S. 29. 12 BR-Drs. 349/1/15, S. 17 und 18. 13 Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.02.2015, Az. V ZB 185/14, JAmt 2015, 395-396; Bayrischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 18. August 2016, Az. 12 CE 16.1570, ZKJ 2016, 425-429. 14 Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.05.2009, Az. OVG 6 S 8.09, OVG 6 M 10.09, JAmt 2009, 390-392; Kepert in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 6. Auflage 2016, § 42 Rnr. 131. 15 Wiesner in: Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 76 Rnr. 14. 16 Billigung des Jugendhilfeausschusses vorgenommene Beteiligung freier Träger ist rechtswidrig .16 4.2 Zuständigkeit für die Inobhutnahme Für unbegleitete Minderjährige richtet sich die örtliche Zuständigkeit für die Inobhutnahme nach § 87 Satz 2 SGB VIII in Verbindung mit § 88a Abs. 2 SGB VIII. Damit bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit für die Inobhutnahme in diesen Fällen nicht mehr nach dem tatsächlichen Aufenthalt nach § 87 Satz 1 SGB VIII, sondern nach der Sonderregelung in § 88a Abs. 2 SGB VIII. Die örtliche Zuständigkeit für die Inobhutnahme kann sich aus drei Gründen ergeben: aus der Zuweisungsentscheidung nach § 42b Abs. 3 Satz 1 SGB VIII durch die Landesverteilstelle (§ 88a Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) bei Ausschluss von der Verteilung nach § 42b Abs. 4 SGB VIII aus der Zuständigkeit für die vorläufige Inobhutnahme, da diese dann auch für die Inobhutnahme bestehen bleibt (§ 88a Abs. 2 Satz 2 SGB VIII) aus freiwilliger Zuständigkeitsübernahme aus Gründen des Kindeswohls oder aus sonstigen humanitären Gründen von vergleichbarem Gewicht (§ 88a Abs. 2 Satz 3 SGB VIII) Die Zuständigkeit für unbegleitete Minderjährige, die aufgrund einer bestehenden Unterquote des Bundeslandes beim Bundesverwaltungsamt nicht zur Verteilung angemeldet worden sind, ergibt sich aus den Regelungen des Bundeslandes, in dem die unbegleiteten Minderjährigen verbleiben. Für die Inobhutnahme gilt – wie auch bei der vorläufigen Inobhutnahme –, dass im Zweifel zugunsten der Betroffenen von ihrer Minderjährigkeit auszugehen ist.17 Wie auch die vorläufige Inobhutnahme ist die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII ein Verwaltungsakt , der nur durch ein Jugendamt erfolgen darf. Weitere Befugnisse und Aufgaben einer Inobhutnahme können demgegenüber gemäß § 76 Abs. 1 SGB VIII auf anerkannte Träger der freien Jugendhilfe zur Ausführung übertragen werden, wobei das Jugendamt die Letztverantwortung nach § 76 Abs. 2 SGB VIII behält. Anerkannten freien Trägern ist es jedoch nicht gestattet, Minderjährige selbst eingreifend nach § 42 SGB VIII in Obhut zu nehmen .18 Ebenso ist eine Überstellung eines Kindes oder Jugendlichen durch die Polizei direkt an eine Einrichtung keine dem Jugendamt zuzurechnende Inobhutnahme.19 Die Ausführungen zur vorläufigen Inobhutnahme (Kapitel 4.1) gelten insoweit entsprechend. Eine Inobhutnahme im Sinne von § 42 SGB VIII ohne oder erst aufgrund nachträglicher Einschaltung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe ist unzulässig.20 Soll eine Beteiligung eines freien Trägers an der Durchführung der Aufgabe erfolgen, bedarf ein solcher Vertrag eines Beschlusses des Jugendhilfeausschusses.21 Eine ohne vorherige 16 Oberverwaltungsgericht NRW, Urteil vom 15.01.1997, 16 A 2389/96, NWVBl 1997, 303-304; Schindler/Elmauer in: Kunkel /Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 6. Aufl. 2016, § 76 Rnr. 5. 17 Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.02.2015, Az. V ZB 185/14, JAmt 2015, 395-396. 18 Kepert in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 6. Auflage 2016, § 42 Rnr. 131. 19 Verwaltungsgericht Regensburg, Urteil vom 12.04.2012, Az. RO 7 K 12.93, ZfF 2014, 93. 20 Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.05.2009, Az. OVG 6 S 8.09, OVG 6 M 10.09, JAmt 2009, 390-392; Kepert in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 6. Auflage 2016, § 42 Rnr. 131. 21 Wiesner in: Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 76 Rnr. 14. 17 Billigung des Jugendhilfeausschusses vorgenommene Beteiligung freier Träger ist rechtswidrig .22 Wesentlicher Bestandteil der Inobhutnahme ist das Clearingverfahren, das somit auch in die Zuständigkeit des Jugendamtes fällt, das den unbegleiteten Minderjährigen in Obhut genommen hat (Kapitel 8). Es wird empfohlen, dass jedes Jugendamt das Clearingverfahren für seinen Zuständigkeitsbereich selbst verbindlich regelt, sofern es keine landesrechtlichen Regelungen gibt. 4.3 Zuständigkeit für Leistungen (Anschlusshilfen) Steht fest, dass der/die unbegleitete Minderjährige weiteren Jugendhilfebedarf hat, so sind im Anschluss an die Inobhutnahme Jugendhilfeleistungen gemäß § 2 Abs. 2 SGB VIII zu gewähren. Für die Gewährung von Leistungen ist nach § 88a Abs. 3 Satz 2 SGB VIII grundsätzlich das Jugendamt örtlich zuständig, das bereits für die Inobhutnahme zuständig war. Nur wenn der Leistung keine Inobhutnahme vorausgegangen ist, ist nach § 88a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII das Jugendamt örtlich zuständig, in dessen Bereich sich der/die Minderjährige vor Beginn der Leistung tatsächlich aufgehalten hat. 4.4 Zuständigkeit für Vormundschaft und Pflegschaft Die örtliche Zuständigkeit für Vormundschaft und Pflegschaft bestimmt sich gemäß § 88a Abs. 4 SGB VIII nach der örtlichen Zuständigkeit für die Inobhutnahme und für die Leistung. Es ist also immer das Jugendamt für die Amtsvormundschaft bzw. Amtspflegschaft örtlich zuständig, das auch für die Inobhutnahme bzw. die Leistung örtlich zuständig ist. Damit soll die örtliche Zuständigkeit für die Jugendhilfemaßnahme und die örtliche Zuständigkeit für Vormundschaft /Pflegschaft immer in demselben Jugendamt liegen. 4.5 Zuständigkeit für Hilfe für junge Volljährige Die Zuständigkeit für die Gewährung von Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII richtet sich nach § 86a SGB VIII. Dies gilt auch dann, wenn die betreffende Person zwar älter als 18 Jahre, aber nach dem Recht ihres Heimatstaates noch minderjährig ist. Geht der Hilfe nach § 41 SGB VIII eine Leistung nach § 19 oder eine Hilfe nach §§ 27-35a SGB VIII voraus, bleibt die Zuständigkeit des Jugendamtes bestehen, das bisher für die Leistung zuständig war (§ 86a Abs. 4 Satz 1 SGB VIII). Beginnt die Hilfe für junge Volljährige erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres, kommt es auf den gewöhnlichen Aufenthalt des jungen Volljährigen vor Beginn der Leistung an. Hat der junge Volljährige keinen gewöhnlichen Aufenthalt, bestimmt sich die Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt vor Beginn der Leistung. 22Oberverwaltungsgericht NRW , Urteil vom 15.01.1997, 16 A 2389/96, NWVBl 1997, 303-304; Schindler/Elmauer in: Kunkel /Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 6. Aufl. 2016, § 76 Rnr. 5. 18 5. Verfahrensablauf der bundesweiten Verteilung von unbegleiteten Minderjährigen23 Die Landesverteilstellen für unbegleitete Minderjährige sind bei den jeweiligen Landesjugendämtern angesiedelt, sofern Landesrecht nichts anderes regelt24. Die Zuständigkeit für die Benennung des zur Aufnahme verpflichteten Landes liegt beim Bundesverwaltungsamt. Unbegleitete Minderjährige werden von dem Jugendamt, das zuerst Kenntnis von ihnen erhält , vorläufig in Obhut genommen (sog. § 42a-Jugendamt). Denn gemäß § 42a Abs. 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald deren unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Voraussetzung dafür ist, dass das Jugendamt über eine möglicherweise unbegleitete Einreise informiert ist. Während der vorläufigen Inobhutnahme hat das § 42a-Jugendamt zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen im Rahmen des sog. Erst-Screenings25 einzuschätzen, 1. ob das Wohl des/der Minderjährigen durch die Durchführung des Verteilungsverfahrens gefährdet würde. 2. ob sich eine mit dem/der Minderjährigen verwandte Person im Inland oder im Ausland aufhält. 3. ob das Wohl des/der Minderjährigen eine gemeinsame Inobhutnahme mit Geschwistern oder anderen unbegleiteten Minderjährigen erfordert und 4. ob der Gesundheitszustand des/der Minderjährigen die Durchführung des Verteilungsverfahrens innerhalb von 14 Werktagen nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme ausschließt ; hierzu soll eine ärztliche Stellungnahme eingeholt werden. Auf der Grundlage des Ergebnisses dieser Einschätzung entscheidet das § 42a-Jugendamt über die Anmeldung des Kindes oder des Jugendlichen zur Verteilung oder den Ausschluss der Verteilung.26 Die Durchführung eines Verteilungsverfahrens ist unter anderem ausgeschlossen , wenn dieses nicht innerhalb von einem Monat nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme erfolgt, § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII. Das § 42a-Jugendamt hat gemäß § 42a Abs. 4 SGB VIII seiner zuständigen Landesverteilstelle die vorläufige Inobhutnahme des Kindes oder des Jugendlichen und die Ergebnisse der Einschätzung zur Durchführung des Verteilverfahrens innerhalb von sieben Werktagen nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme mitzuteilen. Die § 42a-Landesverteilstelle hat gegenüber dem Bundesverwaltungsamt innerhalb von drei Werktagen das Kind oder den Jugendlichen zur Verteilung anzumelden oder den Ausschluss der Verteilung anzuzeigen. Das Bundesverwaltungsamt benennt gemäß § 42b Abs. 1 Satz 1 SGB VIII innerhalb von zwei Werktagen nach Anmeldung eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen zur Verteilung das zur Aufnahme verpflichtete Land. Maßgebend dafür ist die Aufnahmequote nach § 42c SGB VIII. Hierbei soll das Bundesverwaltungsamt vorrangig dasjenige 23 Dargestellt wird das Verfahren, wie es im SGB VIII geregelt ist. Darüber hinaus wurden in der Bund-Länder-AG vorübergehend einige anderslautende Absprachen getroffen. 24 Eine Liste aller Landesverteilstellen finden Sie in Anlage 9. 25 Mit dem Begriff „Erst-Screening“ benennt der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung die vier Punkte, die das Jugendamt der vorläufigen Inobhutnahme prüfen muss (BT-Drs. 18/5921, S. 26). In einigen Bundesländern wird hingegen der Begriff „Vor-Clearing“ verwendet, ohne dass es einen inhaltlichen Unterschied gibt. 26 § 42a Abs. 2 SGB VIII. 19 Land benennen, in dessen Bereich das § 42a-Jugendamt liegt. Hat dieses Land die Aufnahmequote bereits erfüllt, soll das nächstgelegene Land benannt werden. Die zuständige Landesverteilstelle des vom Bundesverwaltungsamt benannten Landes (§ 42 Landesverteilstelle) weist den/die Minderjährige/n innerhalb von zwei Werktagen einem in seinem Bereich gelegenen Jugendamt zur Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nummer 3 SGB VIII zu und teilt dies dem § 42a-Jugendamt mit.27 Der Bescheid ist an das § 42a-Jugendamt als gesetzlicher Vertreter des Minderjährigen und an das § 42-Jugendamt zu senden.28 Der Minderjährige ist über die Entscheidung in geeigneter Weise zu informieren. Ermittlung der Aufnahmepflicht der Bundesländer Die Entscheidung, welchem Bundesland unbegleitete Minderjährige zugewiesen werden und welche Bundesländer unbegleitete Minderjährige abgeben, trifft das Bundesverwaltungs-amt auf Grundlage eines Berechnungsverfahrens, auf das sich die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) mit Umlaufbeschluss 02/2017 vom 27. April 2017 verständigt hat.29 Danach erfolgt die Verteilung der unbegleitet eingereisten Minderjährigen, ähnlich wie bei der Verteilung der erwachsenen Flüchtlinge, aufgrund der Einreisezahlen eines Monats. Dafür trifft das Bundesverwaltungsamt eine Prognose bezüglich der zu erwartenden Einreisen in einem Monat. Die Verteilstellen der Bundesländer melden dem Bundesverwaltungsamt jede Woche (am ersten Werktag der Woche bis 14 Uhr) die Anzahl der gemeldeten vorläufigen Inobhutnahmen der Vorwoche sowie die Anzahl der Minderjährigen, die von der Verteilung ausgeschlossen sind. Anhand dieser Zahlen nimmt das Bundesverwaltungsamt die bundesweite Verteilung vor und bestimmt eine Über- bzw. Unterlast jedes einzelnen Bundeslandes. Die Über- und Unterlasten werden auf den nächsten Monat über-tragen und im Folgemonat ausgeglichen. Werktägliche Mitteilungen Gemäß § 42b Abs. 6 SGB VIII stellt der örtliche Träger durch werktägliche30 Mitteilungen sicher, dass seine zuständige Landesverteilstelle jederzeit über die für die Zuweisung erforderlichen Angaben unterrichtet wird. Die Landesverteilstelle stellt durch werktägliche Mitteilungen sicher, dass das Bundesverwaltungsamt jederzeit über die Angaben unterrichtet wird, die für die Benennung des zur Aufnahme verpflichteten Landes erforderlich sind.31 Dieses Verfahren wurde durch Punkt 11 des Umlaufbeschlusses 02/2017 vom 27. April 2017 der Jugend- und Familienminister-konferenz (JFMK) verlängert. Rechtsmittelverfahren Widersprüche gegen Entscheidungen des Bundesverwaltungsamtes nach § 42b Abs. 1 SGB VIII und gegen Zuweisungsentscheidungen der zuständigen Landesverteilstellen sind ausgeschlossen, Klagen gegen diese Entscheidungen haben keine aufschiebende Wirkung.32 Durch einen Eilantrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das angerufene Gericht die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen . Zur Führung eines Klageverfahrens ist eine sorgfältige Dokumentation von zentraler Bedeutung. 27 § 42b Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. 28 Ob das § 42-Jugendamt den Bescheid als Original oder in Kopie erhält, wird in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich gehandhabt. 29 Der Umlaufbeschluss 02/2017 vom 27. April ist abrufbar unter www.jfmk.de. 30 Montags bis freitags, gesetzliche Feiertage sind ausgenommen, § 7 Abs. 3 SGB VIII. 31 In der Praxis erfolgen die Meldungen über das Webportal des Bundesverwaltungsamtes entweder durch die Jugendämter unmittelbar oder durch die jeweiligen Landesstellen. 32 § 42b Abs. 7 SGB VIII. 20 Schaubild: Verfahrensablauf bundesweite Verteilung Max. 7 Werktage Max. 3 Werktage Max. 2 Werktage Max. 2 Werktage § 42a–Jugendamt: Vorläufige Inobhutnahme und Einschätzung der Verteilfähigkeit . § 42a–Jugendamt: Mitteilung an die zuständige Landesverteilstelle zur vorläufigen ION des UMA und zum Ergebnis der Einschätzung zur Verteilfähigkeit. § 42a–Landesverteilstelle: Anmeldung zum bzw. Ausschluss vom bundesweiten Verteilverfahren des UMA beim Bundesverwaltungsamt. Bundesverwaltungsamt: Benennung des zur Aufnahme verpflichteten Landes. § 42-Landesverteilstelle: Zuweisung des UMA an ein in seinem Bereich gelegenes § 42- Jugendamt und entsprechende Information an das § 42a– Jugendamt. § 42a–Jugendamt: Übermittlung der erforderlichen personenbezogenen Daten und begleitete Übergabe des UMA an das § 42–Jugendamt. Max. 1 Monat 21 6. Standards der vorläufigen Inobhutnahme von unbegleiteten Minderjährigen Das neue System einer Zweiteilung der Inobhutnahme zwischen der vorläufigen Inobhutnahme zur Schutzgewährung vor der Verteilung (§ 42a SGB VIII) und der Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII durch das § 42-Jugendamt nach Verteilung beinhaltet unverändert die Primärzuständigkeit des Jugendamtes für die Erstversorgung und Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger. Den § 42a-Jugendämtern fällt hierbei die Aufgabe zu, ein „Erst-Screening“33 durchzuführen (Herkunft: das engl. „to screen“ mit der übertragenen Bedeutung „etwas der Aufmerksamkeit zuführen“). Die Regelungen über die Ausgestaltung der Inobhutnahme des § 42 SGB VIII gelten entsprechend insofern, als sie die Befugnis zur vorläufigen Unterbringung (§ 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII), die Gelegenheit zur Benachrichtigung einer Person des Vertrauens (§ 42 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII), die Sorge für das Wohl des Kindes und des Jugendlichen (§ 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII), die Befugnis zur Freiheitsentziehung (§ 42 Abs. 5 SGB VIII) und die Befugnis zur Anwendung unmittelbaren Zwangs (§ 42 Abs. 6 SGB VIII) betreffen.34 6.1 Erstgespräch Ob die Voraussetzungen für eine vorläufige Inobhutnahme vorliegen, klärt das § 42a- Jugendamt in einem persönlichen Gespräch mit dem/der Minderjährigen (sog. Erstgespräch ). Hierin sind die Fakten zu ermitteln und dem Kind oder dem/der Jugendlichen das weitere Verfahren zu erläutern. Dabei hat das Jugendamt folgende Aspekte zu beachten: 6.2 Vieraugenprinzip plus Sprachmittler/Dolmetscher Die Prüfung der Voraussetzungen der vorläufigen Inobhutnahme sollte nach dem „Vier- Augen-Prinzip“ in einem persönlichen Gespräch mit dem/der Minderjährigen durch in der Regel zwei sozialpädagogische Fachkräfte des Jugendamtes erfolgen, ggf. unter Einbeziehung eines Vertreters/einer Vertreterin des Fachdienstes Amtsvormundschaft. Empfehlenswert ist, die Erstgespräche möglichst von im Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen erfahrenen Fachkräften führen zu lassen. Ein neutraler Sprachmittler bzw. Dolmetscher ist hinzuzuziehen. Dieser sollte möglichst kein Angehöriger oder Freund des unbegleiteten Minderjährigen sein. 6.3 Altersfeststellung Detaillierte Ausführungen zur Altersfeststellung finden Sie in Kapitel 10. 6.4 Schriftliche Dokumentation des Erstgespräches Das Erstgespräch bei einer vorläufigen Inobhutnahme sollte in Form eines standardisierten Fragebogens (Anlage 2: Dokumentation während der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. 2 SGB VIII) schriftlich dokumentiert und von allen Gesprächsteilnehmern inklusi- 33 Mit dem Begriff „Erst-Screening“ benennt der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung die vier Punkte, die das § 42a- Jugendamt prüfen muss (BT-Drs. 18/5921, S. 26). In einigen Bundesländern wird hingegen der Begriff „Vor-Clearing“ verwendet , ohne dass es einen inhaltlichen Unterschied gibt. 34 § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII. 22 ve Dolmetscher/Sprachmittler unterzeichnet werden. Eine Kopie sollte an die Einrichtung der vorläufigen Inobhutnahme geschickt werden. Den unbegleiteten Minderjährigen kann eine Kopie des von ihnen unterzeichneten Dokumentationsbogens ausgehändigt werden. Die Dokumentation soll im Fall einer Verteilung an das später zuständige § 42-Jugendamt weitergegeben werden, damit dieses das Ergebnis der Altersfeststellung nachvollziehen kann. Außerdem sollte sie Bestandteil einer späteren Hilfeplanung werden und mit in das familiengerichtliche Verfahren einfließen. Sie dient auch einer evtl. Überprüfung durch Gerichte in Bezug auf die Entscheidung, dass eine vorläufige Inobhutnahme gewährt, abgelehnt oder beendet wurde. Die Entscheidungsbegründung sollte neben dem Fragebogen Teil der Dokumentation sein. 6.5 Erstscreening der Situation des/der unbegleiteten Minderjährigen Das Erst-Screening dient der Klärung, ob Ausschlussgründe für eine Verteilung vorliegen. Der Klärungsauftrag konzentriert sich auf vier wesentliche Punkte und ist somit enger gefasst als der Aufgabenkatalog im Clearingverfahren nach § 42 SGB VIII. Nach § 42a Abs. 2 SGB VIII hat das § 42a-Jugendamt Folgendes einzuschätzen: 1. Gefährdet die Durchführung des Verteilungsverfahrens das Kindeswohl? 2. Halten sich im In- oder Ausland Verwandte der Minderjährigen auf? 3. Soll eine Verteilung mit Geschwistern oder anderen Minderjährigen erfolgen? 4. Schließt der Gesundheitszustand die Durchführung des Verteilungsverfahrens aus? Das Erst-Screening beginnt, nachdem das § 42a-Jugendamt den/die unbegleitete/n Minderjährige /n vorläufig in Obhut genommen und bei einer geeigneten Person oder in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform untergebracht hat. Das Ergebnis der Einschätzung nach § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ist maßgeblich für die Entscheidung des § 42a-Jugendamtes über die Anmeldung des/der Minderjährigen zur Verteilung oder den Ausschluss der Verteilung. Hierdurch erhält das Jugendamt eine umfangreiche Prüfungskompetenz; diese muss frei von sachfremden Erwägungen sein. Die Prüfung umfasst folgende Punkte: 6.6 Gefährdung des Wohls des/der Minderjährigen durch die Durchführung des Verteilungsverfahrens Das § 42a-Jugendamt hat einzuschätzen, ob die Durchführung des Verteilungsverfahrens im Hinblick auf die physische und psychische Belastung zu einer Kindeswohlgefährdung führen würde.35 Die Fachkräfte des Jugendamtes haben somit zu beurteilen, ob eine Verteilung eine gegenwärtige oder zumindest nahe bevorstehende Gefahr für die Entwicklung des/der Minderjährigen darstellt, die so ernst zu nehmen ist, dass sich eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt, wenngleich die zu erwartenden schädigenden Folgen nicht unmittelbar bevorstehen müssen .36 Der Gesetzgeber formuliert in der Gesetzesbegründung bereits zwei Beispiele, in denen die Durchführung der Verteilung ausgeschlossen ist. Zum einen ist eine Verteilung nicht möglich, wenn die körperliche oder seelische Verfassung des/der unbegleiteten Minderjährigen seine /ihre Transportfähigkeit so stark beeinträchtigt, dass aus der Durchführung des Verteilver- 35 BT-Drs. 18/5921, S. 23. 36 Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 10.09.2003, Az. 8 UF 32/03, FamRZ 2004, 1664-1667. 23 fahrens erhebliche Risiken einer körperlichen oder psychischen Störung resultieren würden. Zum anderen ist die Verteilung ausgeschlossen, wenn sich das Kind oder der Jugendliche der Durchführung eines Verteilungsverfahrens verweigert und aufgrund seines seelischen Zustands zu befürchten ist, dass eine Durchführung der Verteilung entgegen dieser starken Ablehnungshaltung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer (Re-)Traumatisierung führen kann.37 Eine Kindeswohlgefährdung sollte insbesondere geprüft werden, wenn die Minderjährige bereits mit eigenen Kindern eingereist oder schwanger ist und die Schwangerschaft schon weit fortgeschritten ist. Auch akute psychische Auffälligkeiten können Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung sein. Hierbei sind die unbegleiteten Minderjährigen in Abhängigkeit von ihrem Alter und Entwicklungsstand mit einzubeziehen. 6.6.1 Aufenthalt einer mit dem/der Minderjährigen verwandten Person im In- oder Ausland Das Erst-Screening beinhaltet auch die Beantwortung der Frage, ob sich mit dem/der unbegleiteten Minderjährigen verwandte Personen im Inland oder Ausland aufhalten. Hierzu bietet es sich an, auf die bekannten Systeme (z.B. Ausländerzentralregister) oder Behörden/Stellen zurückzugreifen. Innerhalb dieser frühen Phase des Verfahrens soll geprüft werden, ob die Möglichkeit der kurzfristigen Familienzusammenführung besteht. Halten sich die möglichen Verwandten in einem anderen Jugendamtsbezirk auf, kann sich das Jugendamt der Amtshilfe anderer Behörden bedienen. Vertiefte Recherchen sind jedoch nicht erforderlich. Zu beachten ist, dass die Verteilung bei einer kurzfristig möglichen Familienzusammenführung gemäß § 42b Abs. 4 Nr. 3 SGB VIII ausgeschlossen ist (Kapitel 15). Würde die Zusammenführung mit einer verwandten Person zu einer Kindeswohlgefährdung (z.B. im Fall der geplanten Zwangsverheiratung einer Minderjährigen) führen, ist von einer Übergabe an diese Person abzusehen. 6.6.2 Erfordernis einer gemeinsamen Inobhutnahme mit Geschwistern oder anderen unbegleiteten Minderjährigen Unter Kindeswohlgesichtspunkten kann es notwendig sein, Minderjährige, die unbegleitet geflüchtet sind und im Rahmen der Reise/Flucht Vertrauensverhältnisse, also soziale Beziehungen /Bindungen zu anderen Minderjährigen aufgebaut haben, gemeinsam unterzubringen und zu verteilen, um diese Beziehungen nicht zu zerstören. Dies muss durch das § 42a- Jugendamt eruiert und beurteilt werden. Minderjährige Geschwister sind in der Regel gemeinsam in Obhut zu nehmen und zu verteilen , sofern das Kindeswohl nicht entgegensteht.38 Dies ist, ebenso wie bei den oben beschriebenen Fluchtverbünden, in den Meldungen an die jeweilige Landesverteilstelle zu vermerken . 37 BT-Drs. 18/5921, S. 23. 38 § 42b Abs. 5 Satz 1 SGB VIII. 24 6.6.3 Prüfung des Gesundheitszustands Um zu verhindern, dass die unbegleiteten Minderjährigen mit ansteckenden Krankheiten verteilt und dadurch Dritte gefährdet werden (Gefahrenabwehr), müssen die Fachkräfte des § 42a-Jugendamtes während der vorläufigen Inobhutnahme einschätzen, ob der Gesundheitszustand des Kindes oder Jugendlichen dessen Verteilung ausschließt. Dabei ist zwischen akut ansteckenden Krankheiten und behandlungsbedürftigen Krankheiten zu unterscheiden . Zur Feststellung des Gesundheitszustands muss in der Regel eine ärztliche Stellungnahme zum Gesundheitszustand eingeholt werden (z.B. beim Gesundheitsamt). Ist eine Krankheit noch mindestens 14 Werktage nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme akut ansteckend, ist eine Verteilung ausgeschlossen. Akut ansteckende Krankheiten können etwa eine offene Tuberkulose, Masern, Windpocken, Mumps, Röteln sowie Hepatitis A und B sein. Behandlungsbedürftige Krankheiten als solche sind kein Ausschlussgrund von der Verteilung . Dazu gehören etwa eine Blinddarmentzündung, Arm-/Beinbrüche und Krätze. Unabhängig von der Gefährdung Dritter können Krankheiten einen Ausschlussgrund darstellen . Dies ist allerdings im Rahmen der Kindeswohlprüfung (Kapitel 6.2.1) zu berücksichtigen. Im Falle einer Verteilung soll das § 42a-Jugendamt unter Beachtung der datenschutzrechtlichen Regelungen alle krankheitsrelevanten Informationen dem § 42-Jugendamt zur Verfügung stellen. 6.6.4 Abschluss des Erstscreenings Auf der Grundlage der einzelnen Ergebnisse des Erstscreening (§ 42a Abs. 2 Nr. 1-4 SGB VIII) trifft das § 42a-Jugendamt die Entscheidung über den Ausschluss der Verteilung oder die Anmeldung des/der Minderjährigen zur Verteilung bei der nach Landesrecht für die Verteilung zuständigen Stelle. 6.7 Rechtliche Vertretung im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme Während der vorläufigen Inobhutnahme ist keine Veranlassung zur Bestellung eines Vormunds erforderlich. Das § 42a-Jugendamt ist kraft öffentlichen Rechtes befugt und verpflichtet , während der vorläufigen Inobhutnahme die Vertretung der unbegleiteten Minderjährigen zu übernehmen, um die Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des/der Minderjährigen notwendig sind (sog. Notvertretung). Diese öffentlich-rechtliche Kompetenz umfasst auch die Möglichkeit, kurzfristige Maßnahmen zur rechtlichen Aufenthaltssicherung zu ergreifen. Das § 42a-Jugendamt wird jedoch nicht zum Personensorgeberechtigten. Vielmehr nimmt es die Vertretung der unbegleiteten Minderjährigen unter angemessener Berücksichtigung des (mutmaßlichen) Willens der Personensorge-/Erziehungsberechtigten wahr. Die Minderjährigen sind zu beteiligen, d.h. sie sind über die Form der Verteilung zu informieren und in alle die eigene Person betreffenden Fragen einzubeziehen. Eine Kollision zwischen den Interessen des § 42a-Jugendamtes als Vertretung des/der Minderjährigen und den Interessen desselben Jugendamtes als Behörde, die die Entscheidung über die Altersfeststellung und Verteilung sowie die Durchführung von Maßnahmen und Gewährung von Leistungen zu treffen hat, sollte durch entsprechende organisatorische und personelle Vorkehrungen vermieden werden. 25 Im Einzelfall ist das Jugendamt im Rahmen seiner Vertretungskompetenz berechtigt, für den Minderjährigen einen Asylantrag zu stellen39. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Antrag keinen weiteren Aufschub duldet. Auch sollte bereits während der vorläufigen Inobhutnahme die erkennungsdienstliche Behandlung der unbegleiteten Minderjährigen veranlasst werden (Kapitel 11.1). 6.8 Meldung personenbezogener Daten an die für die Verteilung zuständige Landesstelle Das § 42a-Jugendamt hat die Verpflichtung und gleichzeitig die Befugnis, personenbezogene Daten der unbegleiteten Minderjährigen sowie die gewonnenen Einschätzungen und Ergebnisse des Erstscreenings der Landesstelle mitzuteilen, damit diese die Verteilung nach § 42 b SGB VIII durchführen kann. Die Mitteilung dieser Daten hat innerhalb von 7 Werktagen (Mo-Fr) nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme zu erfolgen (hierbei zählt der Tag der vorläufigen Inobhutnahme, soweit es sich um einen Werktag handelt, nicht mit). Die zuständige Landesverteilstelle wiederum hat dem Bundesverwaltungsamt innerhalb von drei Werktagen den Minderjährigen zur Verteilung anzumelden. Ebenso muss dem Bundesverwaltungsamt mitgeteilt werden, ob der unbegleitete Minderjährige im § 42a-Jugendamt infolge des Ausschlusses der Verteilung verbleiben wird und auf die Aufnahmequote des jeweiligen Landes40 angerechnet werden muss. 6.9 Überführung des Minderjährigen zum § 42-Jugendamt Das § 42a-Jugendamt muss sicherstellen, dass die unbegleiteten Minderjährigen durch eine insofern geeignete Person zum § 42-Jugendamt begleitet werden,41 um sie dort einer Fachkraft des § 42-Jugendamtes zu übergeben. Diese Aufgabe soll von einer „insofern geeigneten“ Person wahrgenommen werden. Zwingende Voraussetzung für die Geeignetheit der Person ist, dass ihr erweitertes Führungszeugnis nach § 72a SGB VIII keine Einträge ausweist und sie über entsprechende Vorbildung und/oder Vorerfahrung im Umgang mit (unbegleiteten) Minderjährigen verfügt. Die Geeignetheit ist für jede Person im Einzelfall festzustellen. Das Jugendamt kann mit der Durchführung der Begleitung einen freien Träger beauftragen. Ebenso ist das § 42a-Jugendamt verpflichtet, Informationen, die für die Inobhutnahme der unbegleiteten Minderjährigen durch das § 42-Jugendamt erforderlich/relevant sind, unverzüglich an das § 42-Jugendamt weiterzugeben. Hierzu gehören neben den Personalien auch die Ergebnisse des Erst-Screenings. 39 Art. 7 EU-Asylverfahrensrichtlinie; § 80 Abs. 4 AufenthG; http://www.bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/UnbegleiteteMinderjaehrige/unbegleitete-minderjaehrige-node.html; DIJuF- Rechtsgutachten, JAmt 2016, 77. 40 § 42c Abs. 2 SGB VIII. 41 § 42a Abs. 5 Satz 1 SGB VIII. 26 6.10 Zusammenführung mit verwandten Personen im In- und Ausland durch das § 42a-Jugendamt Konnte im Rahmen des Erst-Screenings ermittelt werden, dass sich eine mit dem/der Minderjährigen verwandte Person im Inland oder im Ausland aufhält (Kapitel 6.2.2), muss das § 42a-Jugendamt auf eine Zusammenführung des/der Minderjährigen mit dieser Person hinwirken , sofern die Zusammenführung kurzfristig erfolgen kann und dem Kindeswohl entspricht (siehe Kapitel 15). Die Minderjährigen sind im Rahmen der Familienzusammenführung angemessen zu beteiligen .42 6.11 Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme Die vorläufige Inobhutnahme endet nicht durch Zeitablauf, sondern durch die anderweitige Sicherung des Kindeswohls des/der unbegleiteten Minderjährigen. Anknüpfungspunkte für die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme sind nach § 42a Abs. 6 SGB VIII: die Übergabe der unbegleiteten Minderjährigen an die Personensorge- /Erziehungsberechtigten (siehe Anmerkungen zur Erziehungsberechtigung, Kapitel 12.1) die Übergabe der unbegleiteten Minderjährigen an das § 42-Jugendamt oder die Anzeige der Landesverteilstelle an das Bundesverwaltungsamt, dass die Verteilung ausgeschlossen ist In diesem Fall hat das § 42a-Jugendamt die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII zu verfügen und die Unterbringung in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe oder bei einer geeigneten Person zu veranlassen. Eine Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme wegen Entweichens des/der Minderjährigen ist gesetzlich nicht vorgesehen (siehe aber Kapitel 13). 7. Standards der Inobhutnahme Die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII erfolgt nach der vorläufigen Inobhutnahme und nach der Verteilung und Zuweisung des jungen Menschen. Das § 42-Jugendamt ist zur Fallübernahme verpflichtet. 7.1 Inobhutnahme durch das Jugendamt Nachdem das § 42-Jugendamt den/die unbegleitete/n Minderjährige/n zugeteilt bekommen hat, stellt es nach der Überführung durch das § 42a-Jugendamt die Voraussetzungen zur Inobhutnahme fest. Hierbei soll es auf die Erkenntnisse aus dem Erst-Screening, insbes. die hier erfolgte Altersfeststellung zurückgreifen und diese angemessen beachten und berücksichtigen . Hat das § 42-Jugendamt erhebliche Zweifel an dem bisher ermittelten Alter, ist eine erneute Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII geboten. In diesem Fall sind die bereits unter Kapitel 6.1.2 aufgeführten Aspekte zu beachten. Sollte das Ergebnis von der bisherigen Altersfeststellung abweichen, sind alle beteiligten Institutionen darüber zu informieren. Bei Volljährigkeit ist die Inobhutnahme zu beenden. Wenn kein weiterer Jugendhilfebedarf festgestellt wird, endet grundsätzlich die jugendhilferechtliche Zuständigkeit. 42 § 42a Abs. 5 Satz 3 SGB VIII. 27 Die Inobhutnahme ist allen Stellen, die für unbegleitete Minderjährige zuständig sind, schriftlich mitzuteilen.43 Wird die Inobhutnahme beendet, weil das Jugendamt die Volljährigkeit festgestellt hat, muss die Beendigung mittels schriftlichen Verwaltungsakts ausgesprochen werden. Dieser Bescheid wird dem/der Betroffenen ausgehändigt und in der Regel durch einen Dolmetscher übersetzt. In Einzelfällen kann auch ein Sprachmittler übersetzen. Der entsprechende Beendigungsbescheid soll eine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten und auf die für Erwachsene zuständige Stelle der Sozialverwaltung/Ausländerbehörde (Weiterleitung unter Angabe der Adresse zur Vermeidung von Obdachlosigkeit) hinweisen. Enthält der Verwaltungsakt keine Rechtsbehelfsbelehrung, verlängert sich die Widerspruchs-/Klagefrist von einem Monat auf ein Jahr.44 7.2 Unterbringung im Rahmen der Inobhutnahme Mit Beginn der Inobhutnahme erfolgen die Unterbringung, die weitere Versorgung sowie die pädagogische Betreuung. Hierzu bedient sich das § 42-Jugendamt der von freien Trägern vorgehaltenen bzw. landeseigener oder kommunaler Jugendhilfeeinrichtungen. § 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst die Befugnis des Jugendamtes, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform unterzubringen. Das Jugendamt entscheidet einzelfallbezogen, welche Unterbringung geeignet und situationsangemessen ist. Die Unterbringung und Versorgung erfolgt im Rahmen der durch das SGB VIII vorgegebenen Hilfen, sei es nach den §§ 27ff oder nach § 13 SGB VIII. Bei der Unterbringung in einer Bereitschaftspflegestelle oder bei einer geeigneten Person gilt § 39 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII (Beitrag Unfallversicherung sowie hälftige Erstattung zu einer angemessenen Alterssicherung) entsprechend. 7.2.1 Materielle und medizinische Versorgung Während der Inobhutnahme ist das § 42-Jugendamt verpflichtet, umfassend für das physische und psychische Wohl des/der Minderjährigen zu sorgen. Es hat die Beratung in der gegenwärtigen Lebenssituation und das Aufzeigen von Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung 45 zu gewährleisten. Der notwendige Unterhalt und die Krankenhilfe einschließlich der Beiträge zur Pflegeversicherung46 sind sicherzustellen. 43 Die Befugnis hierzu ergibt sich aus § 71 SGB X, § 87 Abs. 2 AufenthG. 44 § 58 Abs. 2 VwGO. 45 Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.03.2002, Az. 7 S 1818/01, NVwZ-RR 2002, 846-847. 46 Vgl. Leitfaden zum Meldeverfahren und zur Beitragszahlung zur Pflegeversicherung für die nach § 21 Nr. 4 SGB XI versicherungspflichtigen Kinder und Jugendlichen durch die Träger der Jugendhilfe nach dem SGB VIII, Stand 3.12.2014, http://www.bundesversicherungsamt.de/fileadmin/redaktion/Ausgleichfonds/Verfahrenshinweise___21_Nr_4_SGBXI_2014_S tand_am_03.12.2014.pdf, zuletzt abgerufen am 04.11.2016. 28 7.2.2 Betriebserlaubnis/Fachkräftegebot Als geeignete Einrichtung zur Unterbringung der unbegleiteten Minderjährigen kommen alle Einrichtungen mit erteilter Betriebserlaubnis in Frage. Als besonders geeignet gelten Inobhutnahmeeinrichtungen der stationären Erziehungshilfe sowie – soweit vorhanden – auf Inobhutnahme von unbegleiteten Minderjährigen spezialisierte (Clearing-) Einrichtungen. Nach dem SGB VIII muss ein Träger, der Kinder und Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages in einer Einrichtung betreut, über eine Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII verfügen. Das Fachkräftegebot gemäß § 72 SGB VIII greift unmittelbar nur für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Nach allgemeiner Auffassung gilt das Fachkräftegebot mittelbar (z.B. §§ 74 Abs.1 Nr. 1, 45, 75, 77 SGB VIII) auch für freie Träger der Jugendhilfe47 Voraussetzung für eine hauptberufliche Tätigkeit in der öffentlichen und freien Jugendhilfe sind im Grundsatz die persönliche Eignung und die fachliche Ausbildung (bei sozialen Berufen einschließlich staatlicher Anerkennung), die der jeweiligen Aufgabe entsprechen müssen. Für die Arbeit mit unbegleiteten Minderjährigen wird zusätzlich insbesondere empfohlen: mehrjährige Berufserfahrung in der Kriseninterventionsarbeit oder gleichwertige Fachkenntnisse interkulturelle Kompetenz einschlägige Kenntnisse in den betreffenden Rechtsgebieten einschlägige Kenntnisse im Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen Ein eigener Migrationshintergrund sowie Fremdsprachenkenntnisse sind darüber hinaus von Vorteil. 7.3 Herbeiführung einer gesetzlichen Vertretung (Vormundschaft und/oder Pflegschaft) Das § 42-Jugendamt hat nach der Verteilung gemäß § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII unverzüglich die Bestellung eines Vormundes oder Pflegers zu veranlassen. Grundsätzlich bedeutet „unverzüglich“, dass das Jugendamt „ohne schuldhaftes Zögern“ tätig werden muss. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Einzelfall im Jahr 1999 entschieden, dass „unverzüglich“ in diesem Zusammenhang einen Zeitraum von 3 Werktagen umfasst48. Solange es noch keine anderslautende Rechtsprechung zur neuen gesetzlichen Regelung gibt, wird empfohlen, sich an dieser Auslegung zu orientieren, auch wenn in einigen Bundesländern, angesichts der großen Herausforderungen, vor denen sich die Jugendämter in den Jahren 2015 und 2016 sahen, die Bestellung von Vormündern in einem Zeitraum zwischen 7 und 10 Tagen noch als „unverzüglich“ akzeptiert wurde. Das Jugendamt muss hierfür die Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge sowie die Bestellung eines Vormunds beim zuständigen Familiengericht anregen (Anlage 7: Musterschreiben für die Anregung einer Vormundbestellung und Kapitel 7.3.3 „Ergänzungspfleger für den Wirkungskreis ausländerrechtliche/asylrechtliche Vertretung). Im Interesse des/der unbegleiteten Minderjährigen sollte das § 42-Jugendamt das Schreiben an das Familiengericht sorgfältig formulieren und dem Familiengericht alle ihm zur Verfügung 47 BAG Landesjugendämter, Februar 2005, „Das Fachkräftegebot des Kinder- und Jugendhilfegesetzes“ und Mai 2014, „Das Fachkräftegebot in erlaubnispflichtigen teilstationären und stationären Einrichtungen“. 48 BVerwG, Urteil vom 24.06.1999, 5 C 24/98, BVerwGE 109, 155-169. 29 stehenden Informationen übermitteln. Denn nur wenn das Familiengericht über alle für seine Entscheidung erforderlichen Informationen verfügt, kann es schnell einen Beschluss zur Bestellung eines Vormunds oder eines Pflegers fassen. Das Bundesverwaltungsgericht hat bestimmt, dass das Jugendamt das Familiengericht „von der Einreise und Inobhutnahme des unbegleiteten asylbegehrenden Hilfesuchenden und der Nichterreichbarkeit des Personensorge- oder Erziehungsberechtigten unterrichten“ muss.49 Das § 42-Jugendamt muss das Familiengericht somit wenigstens dahingehend informieren, dass ein/e unbegleitete/r Minderjährige/r eingereist und durch das Jugendamt in Obhut genommen wurde sowie dass weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte erreichbar sind. Sucht der/die Minderjährige auch um Asyl nach, muss auch dies angegeben werden. Problematisch ist es, wenn unbegleitete Minderjährige Kontaktmöglichkeiten (z. B. Telefon, Skype) zu ihren Personensorge- oder Erziehungsberechtigten angeben. Einige Familiengerichte haben in diesen Fällen das Ruhen der elterlichen Sorge nicht festgestellt, da die Personensorge - oder Erziehungsberechtigten telefonisch erreichbar seien. Folglich wurde auch kein Vormund bestellt. Es ist daher sorgfältig zu begründen, weshalb auch in diesem Fall die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten an der Ausübung der Sorge tatsächlich gehindert sind, und deshalb das Ruhen der elterlichen Sorge festgestellt und ein Vormund bestellt werden sollte. Hilfreich ist es auch, wenn das § 42-Jugendamt dem Familiengericht zugleich Personen oder Vereine vorschlägt, die sich zum Vormund oder Pfleger eignen. Die Vormundschaft kann geführt werden als Einzelvormundschaft50, Vereinsvormundschaft51 oder als Amtsvormundschaft des Jugendamtes52. Die gesetzlichen Regelungen räumen ehrenamtlichen Einzelvormundschaften einen Vorrang vor allen anderen Formen der Vormundschaft ein. Hierzu ist die Einrichtung eines Pools von geeigneten, geschulten und vernetzten Einzelvormündern sinnvoll. Es empfiehlt sich, bei Bedarf für weibliche Minderjährige eine Frau zum Vormund vorzuschlagen. Als Alternative können auch rechtsfähige Vereine Pflegschaften oder Vormundschaften übernehmen, wenn sie dazu eine Erlaubnis nach § 54 SGB VIII haben. Vor der Bestellung eines Amtsvormunds soll das Jugendamt den/die unbegleitete/n Minderjährige /n gemäß § 8 in Verbindung mit § 55 Abs. 2 SGB VIII anhören. Das Gericht muss alle Minderjährigen ab dem 14. Lebensjahr53 sowie das Jugendamt54 mündlich anhören. Das Jugendamt hat auch die Möglichkeit zu beantragen, an dem Verfahren beteiligt zu werden.55 Dann erhält es die formelle Beteiligtenstellung mit der Folge, dass es formelle Beweisanträge stellen und Akteneinsicht nehmen kann. 49 BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999, Az. 5 C 24/98, BVerwGE 109, 155-169. 50 § 1791b BGB. 51 § 1791a BGB. 52 § 1791b Satz 1 BGB / § 55 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII. 53 § 159 FamFG, 54 § 162 Abs. 1 FamFG. 55 § 162 Abs. 2 FamFG. 30 7.3.1 Aufgaben und Stellung des Vormunds56 Der Vormund ersetzt die Personensorgeberechtigten der unbegleiteten Minderjährigen. Das bedeutet, er nimmt all die Aufgaben wahr, die bisher von den Personensorgeberechtigten erfüllt wurden oder hätten erfüllt werden müssen. Zusammengefasst ist der Vormund persönlicher Ansprechpartner, gesetzlicher Vertreter, Personensorgeberechtigter, Entwickler von Lebensperspektiven, Mitwirkender im Hilfeplanverfahren und erster Ansprechpartner im asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren. Der Vormund ist der persönliche Ansprechpartner des/der unbegleiteten Minderjährigen. Alle Dinge, die den/die unbegleitete/n Minderjährige/n bewegen, kann und sollte er/sie mit dem Vormund besprechen. In der Regel treffen sich Minderjährige/r und Vormund einmal im Monat .57 Gemeinsam entwickeln sie eine Lebensperspektive für den/die Minderjährige/n, dabei gewährleistet der Vormund Pflege und Erziehung seines Mündels. Als Inhaber des Anspruchs auf Jugendhilfe beantragt der Vormund gegebenenfalls Leistungen nach dem SGB VIII und nimmt an Hilfeplangesprächen teil. Als gesetzlicher Vertreter der unbegleiteten Minderjährigen ist er nur dem Wohl des Mündels verpflichtet. Bei allen seinen Tätigkeiten unterliegt er nur der Aufsicht des Familiengerichts. Der Vormund sorgt auch für eine angemessene Beratung des/der Minderjährigen im asylund ausländerrechtliche Verfahren und kümmert sich bei Bedarf um eine rechtskundige Vertretung (Kapitel 7.3.3). Es wird empfohlen, dass der Vormund an allen ausländerrechtlichen Anhörungen teilnimmt. Weitere Aspekte bei der Führung einer Vormundschaft finden sich unter anderem in der Arbeits - und Orientierungshilfe „Qualitätsstandards für Vormünder“ vom 01. Juli 2013, herausgegeben von den Landesjugendämtern Rheinland und Westfalen sowie in den Empfehlungen der BAG Landesjugendämter „Arbeits- und Orientierungshilfe für den Bereich der Amtsvormundschaften und Pflegschaften“ von 2004. 7.3.2 Anzuwendendes Recht Heimatrecht/deutsches Recht/internationale Abkommen Nach den Regelungen des Internationalen Privatrechts (IPR) - Art. 24 EGBGB - unterliegt „... die Entstehung, die Änderung und das Ende der Vormundschaft, Betreuung und Pflegschaft sowie der Inhalt der gesetzlichen Vormundschaft und Pflegschaft dem Recht des Staates, dem der Mündel, Betreute oder Pflegling angehört“.58 Das Erreichen der Volljährigkeit bestimmt sich für Ausländer nach dem jeweiligen Heimatrecht ; dies kann vor oder nach dem 18. Lebensjahr eintreten. Die Regelungen des KSÜ, nach denen die Behörden bei Maßnahmen im Hinblick auf den Schutz der Person das eigene Recht anwenden, treffen nur für den Zeitraum von der Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres zu. Tritt die Volljährigkeit nach dem Heimatrecht des unbegleiteten Minderjährigen nach dem 18. Lebensjahr ein, findet das KSÜ keine Anwendung. Insoweit kann es 56 In der Empfehlung wird das Wort „Vormund“ nicht gegendert. Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat auf Anfrage mitgeteilt , dass sich der Begriff von „Mund“ ableitet. Danach gibt es „Münder“ als Mehrzahl, aber keine weibliche Form. D.h. mit Vormund wird impliziert, dass es sich hierbei auch um eine weibliche Form handeln kann. 57 § 1793 Abs. 1a BGB. 58 Hanseatisches Oberlandesgericht Bremen, Beschluss v. 24.05.2012, Az. 4 UF 43/12, FamRZ 2013, 312-313. 31 in einigen Fällen dazu kommen, dass auch für einen über 18-Jährigen noch eine Vormundschaft im Inland besteht bzw. bestehen bleibt, da er nach seinem Heimatrecht beispielsweise erst mit 21 Jahren volljährig wird. In Fällen, in denen unbegleitete Minderjährige in ihrem Heimatland die Volljährigkeit vor dem 18. Lebensjahr erreichen, sind die Regelungen des KSÜ anzuwenden, d.h. es ist eine Vormundschaft zu veranlassen bzw. fortzuführen. Auskunft über das Volljährigkeitsalter eines bestimmten Staates geben verschiedene Veröffentlichungen 59 oder das örtliche Standesamt. 7.3.3 Ergänzungspfleger für den Wirkungskreis ausländerrechtliche/asylrechtliche Vertretung Eine Pflegschaft ist – anders als die Vormundschaft – nicht so umfassend, da eine Ergänzungspflegschaft 60 nur für einzelne Angelegenheiten der elterlichen Sorge (Wirkungskreise) angeordnet wird, an deren Besorgung die Eltern oder der Vormund verhindert sind. Insbesondere eine Anordnung der Ergänzungspflegschaft neben einer bestehenden Amtsvormundschaft für das Asyl- und Verwaltungsgerichtsverfahren („Vertretung in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten“) wird durch die Gerichte in Bezug auf die „Verhinderung“ unterschiedlich beurteilt.61 Aufgrund der Schwierigkeit der Materie, der Kompliziertheit der Verfahren, der sich häufig ändernden Situation in den Heimatländern und der unterschiedlichen Rechtsprechung wird auch im Falle einer Amtsvormundschaft empfohlen, im Einzelfall bei Gericht die Anordnung einer Ergänzungspflegschaft bzw. eines Mitvormundes für die „Vertretung in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten“ zu beantragen. Dabei sollte dieser Antrag mit Verweis auf europäisches Recht ausführlich begründet sein. Nach Art. 25 Abs. 1 Buchstabe a und b der Richtlinie 2013/32/EU stellen die Mitgliedsstaaten sicher, dass ein Vertreter und/oder ein Rechtsanwalt oder ein sonstiger nach nationalem Recht zugelassener oder zulässiger Rechtsberater bei der Anhörung im Asylverfahren anwesend ist. Gleiches gilt für die Vorbereitung der Anhörung62. Der/die Ergänzungspfleger/-in bzw. Mitvormund sollte über umfassende juristische Kenntnisse im Asyl- und Ausländerrecht verfügen, wie dies z.B. bei darauf spezialisierten Rechtsanwälten/Rechtsanwältinnen der Fall ist. Der Bundesgerichtshof vertritt demgegenüber die Auffassung, dass eine sachkundige Vertretung durch Amtsvormünder grundsätzlich auch dann sichergestellt ist, wenn keine entsprechenden ausländerrechtlichen Kenntnisse vorhanden sind. Aufgabe des Vormunds ist es an dieser Stelle, die fehlenden juristischen Kenntnisse durch Inanspruchnahme fachspezifischer Hilfen auszugleichen. Die Bestellung einer Ergänzungspflegschaft ist demnach ausschließlich dann zulässig, wenn ein Amtsvormund im Sinne des § 1795 BGB kraft Gesetzes von der Vertretung des Mündels ausgeschlossen ist.63 59 Bergmann/Ferid/Henrich, „Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht“; Brandhuber/Zeyringer, „Standesamt und Ausländer“ 60 §§ 1909 ff. BGB. 61 Für die Bestellung eines Mitvormunds: Oberlandesgericht Frankfurt, Beschluss vom 08.01.2015, Az. 6 UF 292/14, FamRZ 2015, 1412 (red. Leitsatz); Oberlandesgericht Bamberg, Beschluss vom 16.12.2014, Az. 7 UF 261/14, JAmt 2015, 172-173; Gegen die Einrichtung einer Ergänzungspflegschaft: Oberlandesgericht Frankfurt, Beschluss vom 17.06.2014, Az. 5 UF 112/14, NJW-RR 2014, 1222-1223; Oberlandesgericht Nürnberg vom 07.12.2015, Az. 9 UF 1276/15, JAmt 2016, 103-104. 62 DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2014, 144. 63 Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.05.2013, Az. XII ZB 530/11, FamRZ 2013, 1206-1208. 32 Bei Klageverfahren in ausländerrechtlichen Angelegenheiten einschließlich des Asylverfahrens kann ggf. Prozesskostenhilfe gewährt werden, wenn der Vormund bzw. der Ergänzungspfleger /Mitvormund kein Rechtsanwalt ist.64 7.4 Beendigung der Inobhutnahme Eine Inobhutnahme endet insbesondere mit der Übergabe des/der unbegleiteten Minderjährigen an die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten. mit der Rückführung in ein Drittland oder der freiwilligen Rückkehr ins Herkunftsland. mit der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch (Teil I-XII). wenn die Person entweicht und sich dadurch der Betreuung entzieht (Kapitel 13). mit Erreichen der Volljährigkeit nach deutschem Recht. 7.5 Statistik Nach Beendigung der Inobhutnahme ist die Bundesstatistik der Kinder- und Jugendhilfe auszufüllen . Hierzu ist das Formular „Teil I 7 / Vorläufige Schutzmaßnahmen“ (Anlage 8: Statistikbogen ) zu verwenden, das explizite Fragen zu unbegleiteten Minderjährigen enthält. Hat das § 42-Jugendamt einen anerkannten Träger der freien Jugendhilfe an der Durchführung der Inobhutnahme beteiligt, ist dieser auskunftspflichtig. Eine Kopie dieser Meldung sollte der freie Träger an das zuständige Jugendamt schicken, damit auch dieses über aussagekräftige Daten verfügt. Um möglichst vergleichbare Zahlen für alle Bundesländer zu erhalten, werden nachfolgend einige praktische Hinweise zur Datenerfassung aufgeführt: Der Personenkreis der unbegleiteten Minderjährigen wird in Ziffer 63 erfasst. Daher muss unter der Rubrik „Anlass/Veranlassung der Maßnahme“ unbedingt ein Kreuz bei „Unbegleitete Einreise aus dem Ausland“ gesetzt werden. Es sind alle beendeten Inobhutnahmen zu melden, auch jene, die etwa bei einer Altersschätzung wegen Volljährigkeit bereits nach kurzer Zeit wieder beendet wurden . Die „Dauer der Maßnahme“, siehe Ziffer 49-51, kann dabei u.U. auch nur einen Tag betragen. Auch eine nur stundenweise erfolgte Inobhutnahme ist als voller Tag zu melden. Bei diesen Personen wird in der Rubrik: „Die Maßnahme endete mit“ angekreuzt, dass „keine anschließende Hilfe“ erfolgte. Erfasst werden alle in einem Kalenderjahr beendeten Inobhutnahmen. Dauert die Maßnahme noch über einen Jahreswechsel an, so wird sie erst für das Folgejahr gemeldet. Der in der Anlage befindliche Fragebogen der Bundesstatistik wird von den jeweiligen Statistischen Landesämtern erhoben und ausgewertet (Anlage 8: Statistikbogen). 8. Ablauf des Clearingverfahrens Unter dem Begriff „Clearingverfahren“ sind die verwaltungs- und sorgerechtlichen sowie organisatorischen Abläufe, die unmittelbar nach dem Erst-Screening65 bzw. der Entscheidung 64 Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.12.2013, Az. XII ZB 57/13, JAmt 2014, 161-164. 33 über die Inobhutnahme eines/einer unbegleiteten Minderjährigen durchgeführt werden, zu verstehen. Ziele des Clearingverfahrens sind der Schutz, die Klärung der Situation und der Perspektiven des/der unbegleiteten Minderjährigen.66 Das Clearingverfahren kann sowohl in einer speziellen Clearingeinrichtung, als auch in einer anderen Unterbringungsform nach § 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII erfolgen. Das Clearingverfahren ist Aufgabe der Jugendämter. Diese können das Clearingverfahren selbst durchführen oder freie Träger in Anspruch nehmen. Die Letztverantwortung verbleibt jedoch im zuständigen Jugendamt. Die Bezeichnungen Clearingeinrichtung/ Clearinghaus/ Aufnahmeeinrichtung für unbegleitete Minderjährige umschreiben spezialisierte Jugendhilfeeinrichtungen, die mit der Aufgabe der Durchführung einer Inobhutnahme im Sinne von § 42 SGB VIII betraut sind. 8.1 Klärung des Gesundheitszustandes Die unbegleiteten Minderjährigen sollten zeitnah ärztlich untersucht werden, um ansteckende Krankheiten ausschließen bzw. umgehend behandeln zu können. Weiterhin sollten der allgemeine und zahnmedizinische Gesundheitszustand festgestellt und ggf. erforderliche Interventionen eingeleitet werden. Dazu gehören notwendige Impfungen und Operationen genauso wie die Anschaffung von Hilfsmitteln (beispielsweise Brillen, Gehhilfen). Empfohlen wird die Anmeldung in einer gesetzlichen Krankenversicherung nach § 264 SGB V. Alternativ erfolgt eine Gesundheitsbehandlung auf Krankenschein/Behandlungsschein, welcher vom örtlich zuständigen Jugendamt zur Verfügung gestellt wird. Unbegleitete Minderjährige können sowohl in ihrem Herkunftsland, als auch auf der Flucht Traumatisches erlebt haben und daher unter einer sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Sofern sich diese Traumatisierungen nicht in fremd- und/ oder selbstgefährdenden Verhaltensweisen niederschlagen, die eine sofortige kinder- und jugendpsychiatrische Intervention erforderlich machen, empfiehlt es sich, eine eventuell erforderliche psychotherapeutische Unterstützung erst ab dem Zeitpunkt anzubieten, ab dem für die unbegleiteten Minderjährigen der weitere Aufenthalt geklärt ist und sie sich in der Folgeeinrichtung befinden. 8.2 Erkennungsdienstliche Behandlung Unbegleitete Minderjährige müssen erkennungsdienstlich behandelt werden (Kapitel 11.1). 8.3 Sozialanamnese Auf der Grundlage der aus dem Erstgespräch (Kapitel 6.1) bereits vorliegenden Angaben über die unbegleiteten Minderjährigen werden zur Erarbeitung von Perspektiven möglichst umfassende Informationen über das bisherige Leben des/der unbegleiteten Minderjährigen erhoben (Anlage 5: Anamnesebogen). 65 Mit dem Begriff „Erst-Screening“ benennt der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung die vier Punkte, die das § 42a- Jugendamt prüfen muss (BT-Drs. 18/5921, S. 26). In einigen Bundesländern wird der Begriff „Vor-Clearing“ verwendet, ohne dass es einen inhaltlichen Unterschied gibt. 66 Vgl. Riedelsheimer, Albert, Wiesinger, Irmela (Hrsg.) (2004): Der erste Augenblick entscheidet (Bd. 1); Loeper-Literaturverlag; Karlsruhe. 34 Dazu gehören Informationen über: familiäre Hintergründe und Familienstand (dabei sollte beachtet werden, dass in dem Herkunftsland der Familienverband gegebenenfalls mehr Mitglieder als die Herkunftsfamilie umfasst) Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe, die sich beispielsweise über eine ethnische Zugehörigkeit oder aber durch die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft definiert wirtschaftliche und soziale Lebensumstände der (Herkunfts-)Familie Bildungs- und Entwicklungsstand des/der Minderjährigen bisherige Lebenserfahrungen Zwangskontexte, Ausbeutung, Missbrauch, sexuelle Gewalt und sonstige Gewalt Fluchtgründe und ggf. Aufträge der (Herkunfts-)Familie (diese Aufträge unterscheiden sich mitunter von der Darstellung der Fluchtgründe) Fluchtwege und -erfahrungen Rückkehroption bzw. Familienzusammenführung im In- und Ausland (Kapitel 6.6 und Kapitel 15) Aus diesen Informationen ergeben sich möglicherweise weitere Erkenntnisse über die Identität und das Lebensalter. Sofern es einen Auftrag gibt, ist es sinnvoll, möglichst viel über diesen Auftrag zu wissen, damit er auf seine Realisierbarkeit (z.B. Schulabschluss) oder auch auf seinen Zwangscharakter (z.B. illegaler Gelderwerb zur Abzahlung von Schulden an Schlepper, finanzielle Unterstützung der Familie im Heimatland) hin besprochen wird und Perspektiven mit dem/der Minderjährigen entwickelt werden können. 8.4 Bildung und Informationsvermittlung Hinsichtlich einer gelingenden Integration der unbegleiteten Minderjährigen kommt dem Erwerb eines Schulabschlusses und einer beruflichen Qualifizierung eine zentrale Bedeutung zu. Zwar gibt es in allen Bundesländern eine (Berufs-)Schulpflicht, die auch für die unbegleiteten Minderjährigen gilt, doch die Erfahrungsberichte von Schulen offenbaren folgende zentrale Herausforderungen: Viele unbegleitete Minderjährige haben aufgrund von Kriegs- bzw. Bürgerkriegserfahrungen oder der schwierigen sozialen Situation in den Herkunftsländern keine oder lediglich eine bruchstückhafte Schulbiografie durchlaufen. Hinzu kommen in der Regel mehrmonatige oder mehrjährige Unterbrechungen des Schulbesuchs durch die Flucht. Unbegleitete Minderjährige können in der Regel ihre bisherige schulische Biografie nicht belegen. Das erschwert die Entwicklung passender schulischer Unterstützungsangebote . Die Schulsysteme sind nicht immer vergleichbar, so dass trotz eines Schulbesuchs im Herkunftsland unter Umständen von einem anderen Bildungsstand auszugehen ist. Unbegleitete Minderjährige können aufgrund der Fluchterfahrungen und aufgrund des fehlenden familiären Rückhalts traumatisiert oder psychisch erheblich belastet sein. Der Förderbedarf geht in diesen Fällen weit über den Bereich der Sprachförderung hinaus. Viele unbegleitete Minderjährige zeigen zwar eine sehr hohe Integrations- und Lernbereitschaft, haben aber aufgrund der noch sehr eingeschränkten Deutschkenntnisse große Schwierigkeiten, einen Schulabschluss zu erlangen. 35 Es sind flächendeckend Konzepte und Angebote zur Beschulung dieser Zielgruppe notwendig . Folgende Aspekte sollten bereits während der Clearingphase in den Blick genommen werden: qualifizierte Möglichkeiten des Spracherwerbs und der Alphabetisierung samt Unterrichtsmaterialien (auch für 16-/17-Jährige) unter Beachtung des Erfahrungswissens der Zielgruppe Orientierungskurse zur Vermittlung von Alltagskompetenzen (z.B. Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, Kochen),Klärung einer geeigneten Beschulung 8.5 Beginn der Hilfeplanung Wesentlicher Bestandteil des Clearingverfahrens ist die Vorbereitung der Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII, bei der der Jugendhilfebedarf (Art der Hilfe in Bezug auf den individuellen erzieherischen Bedarf) und evtl. Anschlussmaßnahmen geprüft werden. Insbesondere bei der Überleitung aus der Clearingphase in die Anschlussmaßnahme ist sorgfältig darauf zu achten, dass alle Akteure (die Einrichtung, der Vormund und das § 42-Jugendamt) alle notwendigen Informationen erhalten. Hierzu gehören u.a.: erzieherischer Bedarf aufenthaltsrechtliche Perspektive (z.B. Familienzusammenführung, Rückführung) Schule/ Ausbildung medizinischer und/ oder therapeutischer Bedarf Vorschlag einer geeigneten Anschlussunterbringung (z.B. Einrichtungen der Kinderund Jugendhilfe einschließlich der Jugendsozialarbeit, Vollzeitpflege/ Verwandtenpflege ) 8.6 Ende des Clearingverfahrens Das Clearingverfahren endet in der Regel, wenn die für eine Entscheidung zu Anschlusshilfen notwendigen Fragestellungen hinreichend geklärt sind. Dabei kann es vorkommen, dass noch keine Vormundschaftsbestallung erfolgt ist. In diesen Fällen erfolgt die Anschlussunterbringung weiterhin im Rahmen der Inobhutnahme. Darüber hinaus kann es weiteren Klärungsbedarf zu den unter Kapitel 6.2 genannten Aspekten geben. Des Weiteren endet das Clearingverfahren mit der Beendigung der Inobhutnahme (Kapitel 7.4) 9. Anschlussmaßnahmen Nach § 42 Abs. 4 SGB VIII endet die Inobhutnahme mit der Übergabe des/der Minderjährigen an die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten oder der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch. Grundsätzlich werden unbegleitete Minderjährige Leistungen der Jugendhilfe benötigen. Diese Leistungen müssen bedarfsentsprechend und somit geeignet und angemessen sein. Die geeignete und angemessene Hilfe ist grundsätzlich zusammen mit den Minderjährigen im Rahmen eines Hilfeplanes nach § 36 SGB VIII zu klären67; in der Regel ist hierbei zumindest ein Sprachmittler hinzuzuziehen . Die gesamte Bandbreite der Jugendhilfe kommt in Frage, insbesondere die Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff, sowie die Jugendsozialarbeit nach § 13 Abs. 3 SGB VIII; bei einem jungen Volljährigen Hilfen über § 41 SGB VIII. Bei Minderjährigen erfolgt die Antragstellung 67 Siehe auch die Empfehlungen der BAG Landesjugendämter „Qualitätsmaßstäbe und Gelingensfaktoren für die Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII“. 36 auf eine Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe durch den Vormund. Die Anschlussmaßnahme endet nicht zwangsläufig mit Volljährigkeit. 10. § 42f – Behördliches Verfahren zur Altersfeststellung 10.1 Altersfeststellung Mit der Einfügung des § 42f in das SGB VIII sind erstmals verbindliche Vorgaben in Form einer Regelung zum Verfahren der Altersfeststellung gesetzlich verankert. Tatbestandliche Voraussetzung für die vorläufige Inobhutnahme und die reguläre Inobhutnahme ist, dass es sich um ein Kind oder einen Jugendlichen handelt (§ 7 Abs. 1 und 2 SGB VIII). Zur Klärung der Altersfrage der eingereisten Person für die (vorläufige) Inobhutnahme und die Verteilung nach dem SGB VIII sowie zur Vermeidung späterer Auseinandersetzungen wurde eine gesetzliche Regelung zur Altersfeststellung erforderlich. Maßstäbe hierfür sind das Kindeswohl, die Achtung der Menschenwürde und die körperliche Integrität. Der 13. Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat in seiner Begründung zur Einfügung dieser gesetzlichen Grundlage ausgeführt, dass „die Altersfeststellung auf der Grundlage von Standards zu erfolgen hat, wie sie beispielsweise in den „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ der BAGLJÄ beschlossen wurden“68. 10.2 Aufgaben des Jugendamtes Das Jugendamt hat im Rahmen der (vorläufigen) Inobhutnahme einer ausländischen Person deren Minderjährigkeit anhand von Ausweispapieren oder ähnlichen Dokumenten, aus denen das Alter der Person eindeutig hervorgeht, festzustellen bzw. hilfsweise mittels einer „qualifizierten Inaugenscheinnahme“ das Alter einzuschätzen und festzustellen. Außerdem soll sich das Jugendamt weiterer Möglichkeiten, wie der Beiziehung von eventuell vorhandenen Dokumenten oder anderer Beweismittel, Auskünften jeder Art, Anhörung von Beteiligten, Befragung von Zeugen und Sachverständigen bedienen oder die schriftliche oder elektronische Äußerung von Beteiligten, Sachverständigen und Zeugen einholen69, die nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhaltes erforderlich sind. Eine „qualifizierte Inaugenscheinnahme“ umfasst neben der Bewertung des äußeren Erscheinungsbildes auch die Würdigung und Bewertung des Gesamteindruckes durch die im Erstgespräch erhaltenen Informationen zum Entwicklungsstand. Es wird empfohlen, hierzu den Fragebogen (Anlage 3: Dokumentation während der Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII und Anlage 4: Prüfung der Voraussetzungen für eine (vorläufige) Inobhutnahme) zu verwenden. Bei Feststellung der Volljährigkeit der ausländischen Person wird diese aus der Obhut des Jugendamtes entlassen, da die Voraussetzungen für die Schutzmaßnahme (§ 42a bzw. § 42 SGB VIII), nämlich Minderjährigkeit, nicht erfüllt sind. 68 BT-Drs. 18/6392, S. 20. 69 §§ 20, 21 SGB X. 37 10.3 Klärung bei ungewissem Alter In Zweifelsfällen hat das Jugendamt auf Antrag des/der Betroffenen oder seines/ihres Vertreters oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Alterseinschätzung der mutmaßlich minderjährigen ausländischen Person zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Dieses gilt sowohl für das § 42a-Jugendamt als auch für das § 42- Jugendamt. Eine exakte Bestimmung des Lebensalters ist weder auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem noch auf anderem Wege möglich. Alle Verfahren können allenfalls Näherungswerte liefern. Es gibt einen Graubereich von ca. 1-2 Jahren. Gleichwohl muss Minderjährigen ein hohes Maß an Schutz und Förderung zukommen. Dies kann nur dann gewährleistet werden, wenn entsprechende Maßnahmen auf den Personenkreis beschränkt bleiben, der tatsächlich einen gesetzlichen Anspruch darauf hat. Die ärztliche Untersuchung ist mit den schonendsten und soweit möglich zuverlässigsten Methoden von qualifizierten medizinischen Fachkräften durchzuführen. Dies schließt eine Genitaluntersuchung aus70 (zur Altersklärung; nicht bei gesundheitlichen Erfordernissen). Geeignete Mittel können eine Altersschätzung aufgrund äußerlicher körperlicher Merkmale, eine körperliche Untersuchung und ggf. eine Röntgenaufnahme der Hand und der Schlüsselbeine sowie eine zahnärztliche Untersuchung (Zahnstatus) sein. Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII gibt es71 noch keinen gesetzlichen Vertreter. Insoweit würde die Zustimmung zur ärztlichen Untersuchung dasselbe Jugendamt im Rahmen seiner „Notvertretungsbefugnis“ gemäß § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII geben, das die ärztliche Untersuchung veranlasst. Obwohl diese Möglichkeit seitens des Gesetzes vorgesehen ist, sollte in jedem Fall bei einer Untersuchung von Amts wegen die Einwilligung der betreffenden Person nach entsprechender Aufklärung eingeholt werden. Hilfreich ist es, eine (organisatorische) Aufgabentrennung zwischen der vorläufigen Inobhutnahme und der Berechtigung und Verpflichtung des Jugendamtes, in diesem Rahmen alle Rechtshandlungen vorzunehmen, zu gewährleisten. Dies kann beispielsweise durch Beiziehung einer Person aus dem Bereich „Amtsvormundschaft“ zur Unterstützung des (vermeintlich ) Minderjährigen geschehen. Die betroffene Person ist durch das Jugendamt „über die Vornahme der Altersfeststellung, die Methode der Altersfeststellung sowie über die möglichen Folgen der Altersfeststellung und über die möglichen Folgen der Verweigerung der Mitwirkung bei der Sachverhaltsermittlung umfassend zu informieren und über ihre Rechte aufzuklären“72. Die betreffende Person muss in die ärztliche Untersuchung zur medizinischen Altersbestimmung einwilligen, d.h. eine Zustimmung/ein Auftrag nur des Jugendamtes ist nicht ausreichend . Die Einwilligungsfähigkeit nach Belehrung ist in der fraglichen Altersgruppe in der Regel zu unterstellen. 10.4 Verweigerungshaltung der betroffenen Person Sollte sich die betroffene Person weigern, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, kann die Untersuchung nicht durchgeführt werden, da die gesetzlich vorausgesetzte Einwilligung der Person und ggf. des gesetzlichen Vertreters nicht vorliegen. 70 BT Drs.18/6292, Seite 22. 72 BT-Drs. 18/6392, S. 20. 38 Hier hat der Gesetzgeber ausdrücklich deutlich gemacht, dass bei der Verweigerung einer Untersuchung eine Verletzung der Mitwirkungspflichten vorliegen kann und die §§ 60, 62 und 65 bis 67 SGB I entsprechend anzuwenden sind.73 Verweigert der junge Mensch, bei einer medizinischen Untersuchung zur Altersfeststellung mitzuwirken, entscheidet das Jugendamt über das Alter durch Abwägung seiner bisherigen Erkenntnisse. Die Weigerung des Betroffenen allein führt nicht automatisch zur Annahme der Volljährigkeit und dem Verlust aller Schutzrechte Minderjähriger.74 Kommt das Jugendamt bei der Abwägung zu dem Ergebnis, dass der junge Mensch volljährig ist, beendet es die (vorläufige) Inobhutnahme bzw. lehnt diese bis zur Nachholung der Mitwirkung ab. Gegen diese Entscheidung kann der junge Mensch Rechtsmittel einlegen. Geht das Jugendamt von Volljährigkeit aus, ist auch eine Gewährung von Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII möglich. 10.5 Vorgehen bei nicht eindeutigem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung Eine Orientierung kann hier Art. 25 Abs. 5 der EU-Asylverfahrensrichtlinie bieten. Die Vorschrift billigt den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit zu, ärztliche Untersuchungen zur Bestimmung des Alters unbegleiteter Minderjährigen durchführen zu lassen, wenn Zweifel bezüglich des Alters bestehen. In Satz 2 heißt es weiter: „… Bestehen diese Zweifel bezüglich des Alters des Antragstellers danach fort, so gehen die Mitgliedsstaaten davon aus, dass der Antragsteller minderjährig ist.“ Es wird empfohlen, den ärztlichen Gutachter im Auftrag zumindest auch nach dem Mindestalter zu fragen und nicht nur nach dem wahrscheinlichsten Alter. 10.6 Rechtsschutz – Ausschluss der aufschiebenden Wirkung Die Altersfeststellung stellt keinen rechtsmittelfähigen Akt dar, sondern ist eine Voraussetzung für die Entscheidung des Jugendamtes über den Erlass eines Verwaltungsaktes (Verfügung über die (vorläufige) Inobhutnahme bzw. deren Beendigung).75 Nach § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII haben Widerspruch und Klage (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO) keine aufschiebende Wirkung. Es ist daher erforderlich, dass die betroffene Person Widerspruch gegen eine negative Entscheidung des Jugendamtes einlegt bzw. Klage erhebt und einen Antrag auf einstweiligen bzw. vorläufigen Rechtsschutz stellt. Landesrecht kann von dem Erfordernis der Durchführung des Vorverfahrens nach § 68 VwGO vor der Klageerhebung absehen.76 10.7 Ausländerrechtliche Aspekte Unbegleitete ausländische Minderjährigen unterfallen als Minderjährige dem Jugendhilferecht , als Ausländer zugleich auch dem Aufenthaltsrecht. Daher spielt neben dem Jugendhilferecht insbesondere das Ausländerrecht eine große Rolle beim Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen. 73 § 42f Abs. 2 Satz 4 SGB VIII. 74 BT-Drs. 18/6392, S. 21. 75 So auch Kepert in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 6. Auflage 2016, § 42f Rnr. 8. 76 § 42f Abs. 3 Satz 2 SGB VIII. 39 10.8 Ausländerrechtliche Registrierung Auch unbegleitete Minderjährige sind schnellstmöglich zu registrieren. Dazu erfolgt bei der Ausländerbehörde oder bei der Polizei am Ort der vorläufigen Inobhutnahme eine Befragung zur Identität und zur illegalen Einreise. Anschließend wird bei Jugendlichen ab 14 Jahren eine erkennungsdienstliche Behandlung (Abfrage im Ausländerzentralregister, Fingerabdrücke , Lichtbild) auf der Grundlage des § 49 Abs. 8 und 9 AufenthG durchgeführt. Bei Minderjährigen unter 14 erfolgt die erkennungsdienstliche Behandlung ausschließlich durch Aufnahme eines Lichtbildes.77 Die aufgenommenen Daten werden im Ausländerzentralregister (AZR) eingetragen. Sind die Jugendlichen bereits an einem anderen Ort in Deutschland ausländerrechtlich erfasst, prüft das Jugendamt, ob dort bereits eine jugendhilferechtliche Zuständigkeit bestand (Kapitel 13). Bestand bisher keine jugendhilferechtliche Zuständigkeit, bleibt das Jugendamt am Ort des Aufgriffs zuständig. Aufgrund des Primats der Jugendhilfe sollte auch auf einen Wechsel der Zuständigkeit der Ausländerbehörden hingewirkt werden. Hat das § 42a-Jugendamt die erkennungsdienstliche Behandlung veranlasst, sollte es dies schriftlich festhalten (Anlage 2: Dokumentation während der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. 2 SGB VIII). Wird festgestellt, dass unbegleitete Minderjährige bereits in einem anderen Mitgliedsstaat der EU (sowie Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island) registriert wurden (EURODAC- Treffer) und dort einen Asylantrag gestellt haben, erfolgt eine Überstellung nur bei einer Familienzusammenführung (Kapitel 3.1.3). Diese wird durch das BAMF geprüft; das Jugendamt am Aufenthaltsort bzw. der Vormund ist einzubinden. Für die Überstellung ist die zuständige Ausländerbehörde verantwortlich. 10.9 Ankunftsnachweis Unbegleitete Minderjährige erhalten keinen Ankunftsnachweis. 10.10 Aufenthaltsstatus vor Stellung eines Asylantrags Für die Zeit bis zur Stellung eines Asylantrags haben unbegleitete Minderjährige einen Anspruch auf eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit § 58 Abs. 1a AufenthG, wenn sie im Herkunftsland keiner sorgeberechtigten Person übergeben werden können. Nach § 60a Abs. 4 AufenthG ist über die Duldung eine Bescheinigung auszustellen. 10.11 Asylantragstellung Seit Heraufsetzung der Handlungsfähigkeit im Ausländerrecht von 16 auf 18 Jahre kann ein unbegleiteter Minderjähriger einen Asylantrag nur noch durch den Vormund stellen lassen. Allerdings dauert die Bestellung des Vormunds teilweise mehrere Wochen, zumal diese in der Regel78 erst mit Beginn der Inobhutnahme, nicht schon während der vorläufigen Inobhutnahme , zu veranlassen ist. Sollte die Stellung eines Asylantrags vorher erforderlich sein, kann das Jugendamt im Rahmen seiner Notvertretungskompetenz nach § 42a Abs. 3 SGB VIII den Asylantrag für den Minderjährigen stellen.79 77 Die örtliche Zuständigkeit der jeweiligen Ausländerbehörde richtet sich während der Phase der (vorläufigen) Inobhutnahme bzw. während des Clearingverfahrens und bei Anschlussmaßnahmen nach den Empfehlungen/dem Landesrecht des jeweiligen Bundeslandes. 78 Ausnahme bis 31.12.2016: § 42d Abs. 3 Satz 2 SGB VIII. 79 DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2016, 77, 79. 40 Sobald die gesetzliche Änderung zur Asylantragsstellung durch das Jugendamt in Kraft tritt, wird die entsprechende Neuregelung hier dargestellt. 10.12 Verfahren ohne Asylantragstellung Sofern ein Asylantrag nicht gestellt werden soll, kommen andere aufenthaltsrechtliche Möglichkeiten nach dem AufenthG in Betracht. Dem Vormund kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. 10.13 Wohnsitzauflage Zur Wohnsitzauflage gibt es in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Regelungen. Die Wohnsitzauflage bestimmt, dass der/die unbegleitete Minderjährige in einer bestimmten Stadt oder in einem bestimmten Kreis wohnen muss. Sie ist in der Duldung bzw. in der Aufenthaltsgestattung vermerkt. Möchten die Minderjährigen, etwa aufgrund einer Familienzusammenführung , an einem anderen Ort als dem der jugendhilferechtlichen Zuweisung wohnen , muss die Wohnsitzauflage geändert werden. Wie die Änderung erfolgen kann, hängt davon ab, ob sie über eine Duldung oder bereits über eine Aufenthaltsgestattung verfügen. Liegt eine Duldung vor, richtet sich die Änderung der Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1d Aufenthaltsgesetz. Die unbegleiteten Minderjährigen können, vertreten durch den Vormund, einen Antrag auf Änderung der Wohnsitzauflage bei der Ausländerbehörde am Wohnsitz stellen. Die Ausländerbehörde muss bei ihrer Entscheidung eine „Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen oder sonstige humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht“ berücksichtigen, daher ist es empfehlenswert, den Antrag ausführlich zu begründen. Haben die Minderjährigen eine Aufenthaltsgestattung, kommt es weiter darauf an, ob der Ortswechsel innerhalb eines Bundeslandes oder bundeslandübergreifend erfolgen soll. Innerhalb eines Bundeslandes gilt § 50 Abs. 4 Asylgesetz. Der Antrag ist bei der Behörde zu stellen, die für die Verteilung der erwachsenen Flüchtlinge zuständig ist. Die länderübergreifende Familienzusammenführung ist in § 51 Asylgesetz geregelt. In diesem Fall ist der Antrag bei der für die Verteilung von erwachsenen Flüchtlingen zuständigen Behörde des Bundeslandes zu stellen, in das die Minderjährigen umziehen möchten. In beiden Fällen müssen die entscheidenden Behörden eine Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen oder sonstige humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht berücksichtigen . Der Antrag sollte daher entsprechend begründet werden. 10.14 Residenzpflicht Die Residenzpflicht beschreibt das Gebiet, in dem sich die unbegleiteten Minderjährigen bewegen dürfen. Sie wird von den Ausländerbehörden in der Duldung bzw. Aufenthaltsgestattung vermerkt. Sie gilt in der Regel für das Bundesland, in dem die unbegleiteten Minderjährigen untergebracht sind, und erlischt nach Ablauf von 3 Monaten. 41 10.15 Unbegleitete Minderjährige in Familienverbünden und Fluchtgemeinschaften80 - Prüfung der Erziehungsberechtigung Insbesondere aus Gemeinschaftsunterkünften und dezentralen Unterkünften erreichen Jugendämter immer wieder Meldungen über ausländische Kinder und Jugendliche in Familienverbünden und/oder Fluchtgemeinschaften. Im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für eine vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII wird in diesen Fällen besonderes Augenmerk darauf gelegt, ob es sich bei den Minderjährigen tatsächlich um Unbegleitete handelt. Liegt bei einer erwachsenen Begleitperson eine Erziehungsberechtigung für das Kind oder den Jugendlichen vor, so ist durch das zuständige Jugendamt grundsätzlich keine vorläufige Inobhutnahme durchzuführen . Das Jugendamt sollte allerdings die Einrichtung einer Pflegschaft oder Vormundschaft beim zuständigen Familiengericht anregen. Die Prüfung der Erziehungsberechtigung der erwachsenen Begleitperson erfolgt insbesondere durch das Vorlegen von Dokumenten, die den entsprechenden Willen der Personensorgeberechtigten bestätigen. Sollten derartige Dokumente nicht vorliegen, jedoch Kontakt zu den Personensorgeberechtigten bestehen, sind von ihnen entsprechende Dokumente an das zuständige Jugendamt zu übermitteln. In der Praxis liegen aufgrund der Fluchtumstände jedoch häufig weder entsprechende Dokumente vor, noch besteht ein Kontakt zu den Personensorgeberechtigten. In diesen Fällen wird empfohlen, die Nachvollziehbarkeit in den Darlegungen bezüglich der Erziehungsberechtigung in getrennten Gesprächen mit der erwachsenen Begleitperson und dem/der Minderjährigen zu prüfen. Hierbei sind insbesondere der persönliche Bezug und die Bindung zwischen dem Erwachsenen und dem/der Minderjährigen sowie die Bereitschaft und Eignung zur Verantwortungsübernahme seitens der erwachsenen Begleitperson zu hinterfragen und zu beurteilen. Im Rahmen einer kollegialen Fallberatung wird auf Grundlage der nun vorliegenden Informationen eine Bewertung im Einzelfall, auch unter kindeswohlspezifischen Aspekten (z. B. möglicher familiärer oder sonstiger Zwangskontext), vorgenommen und entschieden , ob der angegebenen Erziehungsberechtigung Glauben geschenkt wird. Der mutmaßliche Wille der Personensorgeberechtigten ist dabei angemessen zu berücksichtigen. Eine nachvollziehbare Dokumentation der Einschätzung und Entscheidung wird dringend empfohlen. 10.15.1 Inobhutnahme eines/einer unbegleiteten Minderjährigen bei einer geeigneten Person Liegt bei der erwachsenen Begleitperson keine Erziehungsberechtigung vor und besteht gleichzeitig der Wunsch des/der unbegleiteten Minderjährigen und der erwachsenen Begleitperson zum gemeinsamen Verbleib, so besteht für das zuständige Jugendamt die Möglichkeit der Prüfung der Voraussetzungen für eine vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII bzw. für eine Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII mit Unterbringung bei einer geeigneten Person. In getrennten Gesprächen mit dem jungen Menschen, der erwachsenen Begleitperson und weiteren Angehörigen der Familie bzw. Fluchtgemeinschaft eruiert das zuständige Jugendamt die notwendigen Informationen, um zu entscheiden, 80 In einigen Bundesländern wird diese Personengruppe auch „Begleitete Unbegleitete“ genannt. 42 ob die Begleitperson für die Unterbringung des unbegleiteten Minderjährigen geeignet ist und ob das Kindeswohl am derzeitigen Aufenthaltsort gewährleistet ist. Zudem können gegebenenfalls weitere Gespräche mit den Betreuern der Familie bzw. der Fluchtgemeinschaft und/oder anderen Dritten geführt werden. Auf Grundlage der nun vorliegenden Informationen wird entschieden, ob der/die unbegleitete Minderjährige am derzeitigen Aufenthaltsort bei der erwachsenen Begleitperson als geeignete Person in Obhut belassen werden kann. Eine nachvollziehbare Dokumentation der Einschätzung und Entscheidung wird dringend empfohlen. In einigen Fällen streben die erwachsenen Begleitpersonen auch die Übernahme der Vormundschaft für den jungen Menschen an. In diesem Kontext ist das Familiengericht im Rahmen einer Stellungnahme über die persönliche Eignung des Familienangehörigen als möglicher Vormund zu informieren. Hierzu führt das zuständige Jugendamt getrennte Gespräche mit der als Vormund vorgesehenen Person, mit dem jungen Menschen, den übrigen Mitgliedern der Familie bzw. Fluchtgemeinschaft und gegebenenfalls mit weiteren Dritten. Es erfolgt zudem die Prüfung der im Vormundschaftsverfahren üblichen Unterlagen, die Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen sowie der persönlichen Eignung der als Vormund vorgesehenen Person. Die endgültige Einschätzung zur Eignung der erwachsenen Begleitperson als Vormund erfolgt ggf. im Rahmen einer kollegialen Fallberatung mit einer weiteren Fachkraft. Die Übermittlung der Stellungnahme des Jugendamtes an das Familiengericht erfolgt mit dem Antrag zur Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge sowie der Bestellung eines Vormunds. Erfahrungswerte aus der Praxis zeigen, dass eine Bestellung zum Vormund eines nur unerheblich älteren Familienmitglieds, wie beispielsweise dem wenig älteren Bruder oder Cousin, aufgrund der in der Regel fehlenden Eignung zur vollständigen Verantwortungsübernahme nicht zu empfehlen ist. Eingeschränkte Sprachkenntnisse stellen bezüglich der Bestellung zum Vormund kein alleiniges Ausschlusskriterium dar. Grundsätzlich ist eine Beratung und Unterstützung des Vormunds bei der Ausübung der Personensorge gemäß § 53 Abs. 2 SGB VIII in ambulanter Form möglich. Auf Antrag des Vormunds besteht zudem die Möglichkeit der Gewährung von Hilfen zur Erziehung gemäß §§ 27 ff. SGB VIII. Vor Unterbringung bei einer geeigneten Person ist unbedingt zu prüfen, ob ein Verdacht auf Kinderhandel, sexuelle Ausbeutung und Heranführung zu Straftaten ausgeschlossen werden kann. 11. Themenkomplex entwichene unbegleitete Minderjährige Sobald bemerkt wird, dass unbegleitete Minderjährige entwichen sind, ist eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufzugeben und das Jugendamt zu informieren. Es ist von einer Entweichung auszugehen, wenn sich die unbegleiteten Minderjährigen von der Einrichtung ohne Absprache entfernt haben und sich an einem unbekannten Ort aufhalten. Grundsätzlich sollte zunächst nach den unbegleiteten Minderjährigen gesucht werden; die Dauer und Intensität der Suche ist abhängig von dem Alter der unbegleiteten Minderjährigen, vom vorherigen Verhalten und Äußerungen sowie von dem Setting. Bei einem Kind ist Abwarten/Zuwarten einer Nacht in der Regel nicht akzeptabel. Im Zuge der Vermisstenanzeige sind möglichst genaue Angaben hinsichtlich Kleidung/Handy etc. zu machen. Sobald die unbegleiteten Minderjährigen wieder auftauchen, sind Polizei und Jugendamt zu informieren. Etwaige Vorgaben der Polizei, des Jugendamtes und des Landesjugendamtes sind zu beachten. 43 Hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit hat das BMFSFJ Folgendes bestimmt (Anlage 1): „Entweicht ein UMA aus einer vorläufigen Inobhutnahme und kehrt binnen 48 Stunden nicht mehr zurück, besteht die jugendhilferechtliche Zuständigkeit nicht mehr und der UMA ist nicht mehr zu melden. Einweicht ein UMA aus einer Inobhutnahme/einer Anschlussmaßnahme und kehrt binnen 48 Stunden nicht mehr zurück, so ist dieser nicht mehr zu melden. Die Zuständigkeit indes bleibt aber bestehen.“ Daraus folgt, dass das Jugendamt, in dessen Bereich der/die unbegleitete Minderjährige nach 48 Stunden Entweichung innerhalb einer vorläufigen Inobhutnahme wieder auftaucht, nunmehr örtlich zuständig ist. Der/die unbegleitete Minderjährige ist erneut vorläufig in Obhut zu nehmen und das Erstscreening-Verfahren beginnt von vorn. Die vorläufige Inobhutnahme endet nach § 42a Abs. 6 SGB VIII. Entweicht der/die unbegleitete Minderjährige in der Phase der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII oder während einer Anschlussmaßnahme, sollte die Einrichtung den Platz ebenfalls 48 Stunden vorhalten. Die örtliche Zuständigkeit des Jugendamtes besteht fort. Bei Wiederauftauchen des/der unbegleiteten Minderjährigen hat das Jugendamt grundsätzlich die Verpflichtung, diese/n abzuholen. Es könnte den jungen Menschen aber an dem neuen Aufenthaltsort unterbringen. Auch in diesem Fall behält das Jugendamt grundsätzlich die örtliche Zuständigkeit. In der Phase der Inobhutnahme besteht außerdem die bundesgesetzlich in § 88a Abs. 2 SGB VIII normierte Möglichkeit, dass ein anderes Jugendamt und damit auch das für den Aufenthaltsort zuständige Jugendamt die Zuständigkeit aus Kindeswohlgründen oder sonstigen humanitären Gründen freiwillig übernimmt . Bei Änderung der örtlichen Zuständigkeit ist die entsprechende Ausländerbehörde unbedingt einzubeziehen. Sollte das Jugendamt die Inobhutnahme wegen der Entweichung eingestellt haben, hat dies keine Auswirkungen auf die örtliche Zuständigkeit. Abweichende landesrechtliche Regelungen sind möglich (vgl. § 88a Abs. 1 und 3 SGB VIII). 12. Verheiratete Minderjährige Dieses Kapitel wird nach einer gesetzlichen Neuregelung entsprechend angepasst. Das BMFSFJ hat hierzu ausgeführt (Anlage 1): „Verheiratete ausländische Minderjährige gelten zunächst einmal grundsätzlich als UMA, sie werden grundsätzlich in Obhut genommen. Für sie muss jeweils im Einzelfall geklärt werden, inwiefern ein jugendhilferechtlicher Bedarf besteht. Eine starre Grenze haben die deutschen Gerichte bislang nicht gezogen.“ Die (vorläufige) Inobhutnahme führt nicht zwangsläufig zu einer Trennung der Eheleute. Die Minderjährige kann, sofern das Kindeswohl nicht entgegensteht, bei ihrem Ehemann untergebracht werden. Eine sozialpädagogische Begleitung ist unabdingbar. Aus jugendhilferechtlicher Sicht sollte von der Bestellung des Ehemanns zum Vormund in der Regel abgesehen werden, auch wenn das Heimatrecht dies zulassen würde. Aufgrund der Komplexität der Thematik ist bei verheirateten Minderjährigen eine kritische Prüfung jedes Einzelfalls unter Berücksichtigung der rechtlichen, fachlichen und kindeswohlspezifischen Gesichtspunkte unabdingbar. 44 Das bayerische Landesjugendamt hat zu dieser Thematik eine Stellungnahme veröffentlicht (Anlage 10: Stellungnahme des bayerischen Landesjugendamtes zu verheirateten Minderjährigen ). Gegebenenfalls bestehen besondere Empfehlungen der Länder zum Umgang und Verfahren in diesen Fällen, die von diesen Ausführungen unberührt bleiben. 13. Die Aufgabe der Familienzusammenführung während der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII Die Frage der Familienzusammenführung wurde vom Gesetzgeber im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme wie folgt geregelt: Nach § 42a Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII hat das vorläufig in Obhut nehmende Jugendamt im Rahmen des Erstscreenings zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen einzuschätzen , ob sich eine verwandte Person im Inland oder im Ausland aufhält. Nach § 42a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII hat das vorläufig in Obhut nehmende Jugendamt im Rahmen des Erstscreenings zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen einzuschätzen , ob eine gemeinsame Inobhutnahme mit Geschwistern (oder anderen unbegleiteten ausländischen Kindern oder Jugendlichen) erforderlich ist. Nach § 42a Abs. 5 SGB VIII hat das Jugendamt auf eine Zusammenführung des Kindes oder des Jugendlichen mit einer verwandten Person im In- oder Ausland hinzuwirken, wenn dies dem Kindeswohl entspricht. Nach § 42b Abs. 4 Nr. 3 SGB VIII ist eine Verteilung ausgeschlossen, wenn eine Zusammenführung mit einer verwandten Person kurzfristig erfolgen kann und dies dem Kindeswohl entspricht. In der Praxis hat die Familienzusammenführung zu zahlreichen Fragestellungen und unklaren Situationen geführt. Die Begriffe „Familie“ und „verwandte Person“ sind im Gesetzeskontext nicht hinreichend definiert, so dass sich eine heterogene Praxis in den Jugendämtern entwickelt hat. Bei der Klärung der Begriffe ist beispielhaft (§ 42b Abs. 4 Nr. 3 SGB VIII) die EU-Verordnung Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) heranzuziehen. Danach sind Familienangehörige bei unbegleiteten Minderjährigen der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedsstaates für den Minderjährigen verantwortlich ist (Art. 2 Buchstabe j). Während die Zusammenführung mit den leiblichen Eltern eines Minderjährigen unstrittig ist, bedarf die Prüfung der Person „anderer Erwachsener, der für den Minderjährigen verantwortlich ist“ eines größeren Aufwands. Mit dieser anderen Person ist nach § 7 Abs. Nr. 6 SGB VIII die/der Erziehungsberechtigte gemeint, soweit sie/er auf Grund einer Vereinbarung mit der/dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt. Für die Vereinbarung mit der/dem Personensorgeberechtigten, durch die eine Person zum Erziehungsberechtigten wird, ist keine besondere Form – also auch keine Schriftform – vorgeschrieben . Die Erziehungsberechtigung kann auch durch stillschweigendes schlüssiges Handeln der Personensorgeberechtigten übertragen werden. Es wird insoweit eine eingehende getrennte Befragung sowohl des Minderjährigen als auch derjenigen Person empfohlen, die für sich in Anspruch nimmt, erziehungsberechtigt zu sein. Ziel der Befragung sollte die Klärung der Umstände sein, aus denen sich gegebenenfalls auf eine Übertragung der Erziehungsberechtigung durch die Personensorgeberechtigten schließen lässt. 45 13.1 Verwandte Personen Verwandte sind nach EU-VO (Art. 2 Buchstabe „h“): Der volljährige Onkel, die volljährige Tante oder ein Großelternteil. Diese Engführung des Verwandtschaftsbegriffs ist kritisch zu diskutieren. Die Heranziehung der Dublin-III-VO wird vom (deutschen) Gesetzgeber im Kontext der Zusammenführung mit verwandten Personen als eine mögliche Grundlage angeführt . Bei den im Rahmen des Erstscreenings zu prüfenden Punkten sind (minderjährige) Geschwister benannt, die gemeinsam in Obhut genommen werden sollen. Aus der derzeitigen Praxis sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen Jugendämter unbegleitete Minderjährige gemeinsam mit ihren (volljährigen) Geschwistern oder auch Cousins oder Cousinen unterbringen . Hier sollte die Zusammenführung mit verwandten Personen im Einzelfall entschieden werden. 13.2 Kurzfristigkeit Eine Familienzusammenführung innerhalb eines Bundeslandes oder über die Grenzen der Bundesländer hinweg erfordert die Kooperationsbereitschaft der beteiligten Behörden (Jugendamt , Ausländerbehörden). Allen Beteiligten sollte hierbei jedoch klar sein, dass bei einer Verweigerung der Familienzusammenführung Art. 6 Grundgesetz (GG) verletzt sein kann. Kann im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme eine Familienzusammenführung erfolgen, bleibt das Jugendamt der vorläufigen Inobhutnahme bis zur Beendigung der Inobhutnahme zuständig (§ 88a Abs. 2 Satz 2 SGB VIII). Nach § 88a Abs. 2 Satz 3 SGB VIII kann ein anderer Träger aus humanitären Gründen oder aus Gründen des Kindeswohls die Zuständigkeit freiwillig übernehmen. Ein Hinwirken auf eine freiwillige Zuständigkeitsübernahme ist immer dann sinnvoll, wenn auch nach der Familienzusammenführung in einem anderen Jugendamtsbezirk (weiterhin) Leistungen der Jugendhilfe benötigt werden. Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme kann eine Familienzusammenführung nur umgesetzt werden, wenn dies kurzfristig, d.h. innerhalb weniger Tage81, umzusetzen ist. Wie viele Tage damit gemeint sind, wird in den Bundesländern unterschiedlich gehandhabt. Es wird jedoch empfohlen, den Begriff weit auszulegen und dabei mindestens sieben Werktage noch als kurzfristig gelten zu lassen. In begründeten Einzelfällen sollten auch bis zu 3 Wochen als kurzfristig gelten. 13.3 Zusammenführung Von einer Familienzusammenführung im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme kann nur gesprochen werden, wenn die verwandte Person die/den Minderjährige/n in ihrem Haushalt aufnimmt, auch bereit ist, die Vormundschaft für die/den Minderjährige/n zu übernehmen. Liegt eine der beiden Voraussetzungen nicht vor, ist eine Familienzusammenführung im Sinne von § 42b Abs. 4 Nr. 3 SGB VIII nicht möglich, sodass die Verteilung nach dieser Vorschrift nicht ausgeschlossen ist. Gleichwohl kann die/der Minderjährige aus einem anderen Grund, etwa aufgrund einer Kindeswohlgefährdung, von der Verteilung ausgeschlossen sein. Diese enge Auslegung gilt nur für die Familienzusammenführung während der vorläufigen Inobhutnahme, da andernfalls eine Entlastung der stark betroffenen Jugendämter erschwert würde. Soll die Familienzusammenführung während oder nach der Inobhutnahme erfolgen, ist die Aufnahme in den Haushalt und die Übernahme der Vormundschaft keine Voraussetzung für die Zusammenführung. In diesem Verfahrensstadium kann auch eine Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Nähe der Verwandten erfolgen. Die Familienzusam- 81 BT-Drs. 18/5921, S. 26. 46 menführung ist in der Regel ein Prozess und sollte auch in diesen Fällen immer darauf gerichtet sein, die Minderjährigen im Lauf der Zeit bei den Verwandten unterzubringen. 13.4 Empfohlene Vorgehensweise 13.4.1 Kontakt mit dem Jugendamt vor Ort Als erstes sollte das nach § 42a SGB VIII zuständige Jugendamt Kontakt mit dem Jugendamt am Ort der Verwandten aufnehmen. Dies ist deshalb sinnvoll, damit das Jugendamt im Falle einer Unterbringung vor Ort über den Fall informiert ist. 13.4.2 Prüfung der Lebenssituation der Verwandten In einem zweiten Schritt ist zu überprüfen, ob es sich bei den Verwandten tatsächlich um Verwandte handelt und ob diese bereit und in der Lage sind, den/die Minderjährige/n bei sich aufzunehmen und die Vormundschaft zu übernehmen. Sofern das zuständige § 42a- Jugendamt dies nicht selbst überprüfen kann, kann das Jugendamt vor Ort im Wege der Amtshilfe darum gebeten werden. 13.4.3 Klärung der ausländer- und asylrechtlichen Voraussetzungen Vor der Unterbringung des/der unbegleiteten Minderjährigen am Ort der Verwandten ist in jedem Fall die ausländerrechtliche Situation zu klären (Kapitel 11). So ist gegebenenfalls die Wohnsitzauflage an den Wohnort der Verwandten anzupassen. Von einem Ortswechsel ohne vorherige Einbeziehung der Ausländerbehörde ist dringend abzuraten, um das ausländerund asylrechtliche Verfahren nicht zu gefährden. 13.4.4 Unterbringung des/der unbegleiteten Minderjährigen bei den Verwandten Stehen ausländer- und asylrechtliche Aspekte nicht entgegen, kann der/die unbegleitete Minderjährige bei seinen/ihren Verwandten untergebracht werden. Die jugendhilferechtliche Zuständigkeit verbleibt dabei, sofern die Jugendhilfemaßnahme nicht wegen Übergabe des/der Minderjährigen an die Verwandten beendet wird, in der Regel beim bisher zuständigen Jugendamt. 13.4.5 Wechsel der jugendhilferechtlichen Zuständigkeit Das Jugendamt am Ort der Verwandten kann die Zuständigkeit freiwillig übernehmen. Dies kann nach § 88a Abs. 2 Satz 3 SGB VIII oder nach landesrechtlichen Regelungen (etwa § 4 Abs. 4 des 5. AG-KJHG NRW) erfolgen. Voraussetzung dafür ist jedoch immer das Einverständnis beider Jugendämter, eine Pflicht zur Übernahme besteht nicht. Ob die jugendhilferechtliche Zuständigkeit vor oder erst mit Unterbringung des/der unbegleiteten Minderjährigen am Ort der Verwandten wechselt, ist im Einzelfall zu entscheiden. 47 Anlagen Anlage 1: Auslegungshilfe des BMFSFJ82 – FAQ – Auslegungshilfe des BMFSFJ zur Umsetzung des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher 1. Wer sind – grundsätzlich – unbegleitete ausländische Minderjährige? („UMF“/„UMA“ im Sinne des Verfahrens)? Ein „UMA“ (unbegleiteter ausländischer Minderjähriger, wird auch als „UMF“ bezeichnet) im Sinne des Gesetzes ist jede nichtdeutsche Person, die noch nicht 18 Jahre alt ist und die ohne Personensorge- oder Erziehungsberechtigten nach Deutschland einreist. 2. Wer ist „unbegleitet“ im Sinne des Verfahrens? Ein ausländischer Minderjähriger (MA) ist unbegleitet, wenn er ohne Personensorge- oder Erziehungsberechtigten nach Deutschland einreist (s. o.). - Wird/Ist zB ein Verwandter erziehungsberechtigt (zB durch Vereinbarung mit den Personensorgeberechtigten) oder „findet“ sich ein Personensorgeberechtigter, so ist der MA nicht (mehr) unbegleitet. - Die (vorläufige) Inobhutnahme endet in diesen Fällen mit der Übergabe des Kindes oder Jugendlichen an diese Personen. 3. Welches sind die Anforderungen, die an den Nachweis der Erziehungsberechtigung zu stellen sind? Erziehungsberechtigt (§ 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII) sind Personensorgeberechtigte oder auch weitere Personen, die über 18 Jahre alt sein müssen und eine ausdrückliche oder konkludente Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten abgeschlossen haben, die ihrerseits jedoch nicht an besondere Formerfordernisse gebunden ist. - Welche Anforderungen an den Nachweis zu stellen sind, hat das Jugendamt nach pflichtgemäßem Ermessen im Einzelfall einzuschätzen. - Für die Frage, ob eine (wirksame) Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten abgeschlossen wurde und wie diese nachzuweisen ist, gilt im Einzelnen Folgendes: Das Jugendamt hat diesbezüglich im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen zu ermitteln (§ 20 Abs. 1 SGB X). Hinsichtlich der Beweismittel gelten die üblichen Grundsätze (vgl § 21 Abs. 1 SGB X): Die Behörde bedient sich der Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält (insb. Auskünfte jeder Art, auch elektronisch und als elektronisches Dokument, Beteiligte anhören, Zeugen und Sachverständige vernehmen oder die schriftliche oder elektronische Äußerung von Beteiligten, Sachverständigen und Zeugen einholen, Urkunden und Akten beiziehen, den Augenschein einnehmen). 82 Die Auslegungshilfe ist auch abrufbar unter https://www.bmfsfj.de/blob/jump/90270/faq-auslegungshilfe-gesetzunterbringung -auslaendische-kinder-jugendliche-data.pdf, zuletzt abgerufen am 04.11.2016. 48 4. Wie ist jugendhilferechtlich mit verheirateten ausländischen Minderjährigen umzugehen? Verheiratete ausländische Minderjährige gelten zunächst einmal grundsätzlich als UMA, sie werden grundsätzlich in Obhut genommen. Für sie muss jeweils im Einzelfall geklärt werden, inwiefern ein jugendhilferechtlicher Bedarf besteht. Eine starre Grenze haben die deutschen Gerichte bislang nicht gezogen. (Die Ehe kann ggf im ausländerrechtlichen Verfahren anerkannt werden). 5. Welche Fristen sind im Hinblick auf die Fallkosten-Abrechnung für Altfälle zu beachten? S. anliegende Umsetzung zur Kostenerstattung nach der Übergangsregelung des § 42 d SGB VIII. 6. Gibt es aktuelle Entwicklung zu dem Verfahren der Fallkosten-Abrechnung für Altfälle? Innerhalb der JFMK/AGJF wird ggf ein vereinfachtes Kostenerstattungsverfahren abgestimmt. Eine Bestimmung des erstattungspflichtigen überörtlichen Trägers durch das BVA soll innerhalb von max. drei Tagen erfolgen. 7. Wie ist mit der Frist nach § 89 d Abs. 1 SGB VIII für Altfälle (vor dem 1.11.2015 eingereiste Personen ) umzugehen, in denen Einreiseorte gesetzeswidrig unbegleitete Minderjährige nicht in Obhut genommen haben? Ist die Frist des § 89 d Abs. 1 SGB VIII im Hinblick auf Altfälle verstrichen, weil Einreiseorte gesetzeswidrig unbegleitete Minderjährige nicht in Obhut genommen haben, so greift im Hinblick auf unbegleitete Minderjährige, die nach dem 01.6.2015 identifiziert wurden, die Frist des § 89 d Abs. 1 SGB VIII nicht. 8. Wie ist mit der Frist nach § 89 d Abs. 1 SGB VIII für Neufälle (nach dem 1.11.2015 eingereiste UMA) umzugehen? Nähere Bestimmungen hierzu obliegen den Ländern. Vor dem Hintergrund der Einführung des landesinternen und bundesweiten Verteilungsverfahrens ist der ursprüngliche Regelungszweck des § 89 d Abs. 1 SGB VIII entfallen. Somit ist nach der Ratio des Gesetzes nunmehr auf den Zeitpunkt abzustellen, an dem das zuständige Jugendamt Kenntnis über den Aufenthalt eines allein eingereisten MA erlangt hat. 9. Wie ist in Fällen von Entweichen der UMA zu verfahren? Entweicht ein UMA aus einer vorläufigen Inobhutnahme und kehrt binnen 48 Stunden nicht mehr zurück, besteht die jugendhilferechtliche Zuständigkeit nicht mehr und der UMA ist nicht mehr zu melden. Entweicht ein UMA aus einer Inobhutnahme/einer Anschlussmaßnahme und kehrt binnen 48 Stunden nicht mehr zurück, so ist dieser nicht mehr zu melden. Die Zuständigkeit indes bleibt aber bestehen. Die Grundsätze der Trägerverantwortung bleiben unberührt. Ein Entweichen sollte daher stets zum Anlass genommen werden, eine Vermisstenanzeige zu stellen. 49 10. Wie erfolgt zukünftig die statistische Erfassung junger Volljähriger, die nach dem 01.11.2015 aufgenommen und nach der Inobhutnahme volljährig wurden und in der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe weiter verbleiben? Jugendhilferechtliche Zuständigkeiten für junge Volljährige (ehemalige uM) werden künftig in den tagesaktuellen Tabellen des BVA gesondert ausgewiesen. 11. An welche Frist knüpft § 42 b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII an? Jedenfalls im Rahmen des vorläufigen Verfahrens (bis April 2016) ist Fristbeginn die Zuwendungsentscheidung des BVA. Das abgebende Land kann diese ggf nach § 42 d Abs. 3 SGB VIII verlängern. Berlin, 14.4.2016 50 Anlage 2: Dokumentation während der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. 2 SGB VIII Name, Vorname: Geb.-Dat.: Geb.-Ort: Herkunftsland: Staatsangehörigkeit: Nationalität: weibl. männl. Personenstandsdokumente vorhanden / nicht vorhanden von anderer Behörde bereits einbehalten ed-Behandlung erfolgt: ja/nein (wenn ja: Datum und Behörde mit angeben) weitere Fragen siehe Anlage 3 --------------------------------------------------------------------------------------------------- 1. Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung durch die Durchführung des Verteilungs -verfahrens: 2. Verwandte Person(en) im Inland: im Ausland: Name: Name: Adresse: Adresse: Tel.-Nr. Tel.-Nr. Familienzusammenführung kurzfristig möglich: ja nein, weil: 3. Gemeinsame Inobhutnahme mit Geschwistern und/oder mit anderen Kindern /Jugendlichen einer Fluchtgemeinschaft: Name, Vorname: Geb.-Dat.: Geb.-Ort: Herkunftsland: Staatsangehörigkeit: Nationalität: weibl. männl. Dokumente vorhanden: ja/nein 51 4. Gesundheitszustand des Kindes/Jugendlichen: Ärztliche Stellungnahme wurde eingeholt am: liegt vor seit: ansteckende Krankheiten: ja/nein Ausschluss der Verteilung: ja/nein 5. Entscheidung des Jugendamtes: Selbsteintrittsrecht: ja/nein zur Verteilung angemeldet am: Zuweisungsverfügung der Landesstelle vom: Zuweisungsjugendamt: Zuweisungsort: geeignete Person zur Übergabe: Herr/Frau _____________________________ _____________________________ _____________________________ _____________________________ Polizeiliches Führungszeugnis liegt vor: Übergabedatum und Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme am: 52 Anlage 3: Dokumentation während der Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII Name: Vorname: Geburtsdatum: Geburtsort: Herkunftsland: weibl. männl. Familienstand: ledig verh. verw. Personenstandsdokumente Ja Nein ggf. Verbleib: Nationalität/ Volksgruppe : Muttersprache: Staatsangehörigkeit : Angaben zu den Eltern Mutter: Vater: Name Vorname Geburtsdatum Gegenwärtiger Aufenthalt: Straße Ort/Stadt Land Kontakt zu den Eltern Telefon Nr.: E-Mail / Internet: Ja Nein Ja Nein Wie ist das Personensorgerecht geregelt? Gibt es eine Vollmacht? Gibt es Verwandte in Deutschland? Ja Grad: Nein Name: Adresse: Telefon Nr.: Herkunft Wohnort (Stadt/Land) Herkunftsfamilie (Eltern, Geschwister- konstellation , evtl. Groß-eltern) Lebensbedingungen im Herkunftsland 53 Schulbesuch Einschulungs- und Schulbeendigungsjahr Erreichter Schulabschluss (ggf. Nachweis) Sprachkenntnisse Arbeit/ weitere Tätigkeiten Gesundheitszustand: Allgemein: Besonderheiten: Motivation für die Ausreise Politische wirtschaftliche geschlechtsspezifische andere Gründe Einverständnis der Eltern? Fluchtweg/ Reiseweg Reiseweg / Verkehrsmittel Nähere Umstände der Flucht/Reise Aufenthalt in anderen Ländern / Registrierung Fluchtziel: unbekannt: Deutschland: 54 Datum des letzten Aufenthalts im Herkunftsland Datum und Ort der Ankunft in der Deutschland Behördenkontakt (Bundes-/Landespolizei, etc.) Einreise erfolgte alleine Ja Nein Erwartungen an das Aufnahmeland – Eigene Perspektive Wird um Asyl nachgesucht? Ja Nein Weiß nicht Vermögen bei Aufnahme in der Inobhutnahmeeinrichtung Die Richtigkeit der Angaben wird wie folgt bestätigt: Die der Dokumentation zugrundeliegende Befragung wurde über eine/n Sprachmittler/in vorgenommen . Der vorstehende Text wurde mir in meiner Muttersprache/Landessprache, nämlich in ..................................................... vorgelesen. Ich habe alles verstanden und ich versichere, dass meine vorstehenden Angaben vollständig sind und der Wahrheit entsprechen. Datum________________ Unterschrift: ____________________________________ Für die Richtigkeit der Übersetzung: Name: _____________________________________________ Anschrift: ______________________________________________ Datum ________________ Unterschrift :______________________________________ 55 Nach dem äußeren Erscheinungsbild, dem Verhalten und den Angaben der Person ist davon auszugehen, dass Minderjährigkeit vorliegt Aus den vorstehend skizzierten Wahrnehmungen , Angaben und Verhaltensweisen wird geschlossen, dass Volljährigkeit vorliegt Anlage 4: Prüfung der Voraussetzungen für eine (vorläufige) Inobhutnahme Name:...................................................... Prüfung der Voraussetzungen für eine (vorläufige) Inobhutnahme Äußere Merkmale der befragten Person Stimmlage Haare Stirnfalten Halsfalten Körperbehaarung Bartwuchs Gesichtszüge Hände Körperbau Hinweise, Widersprüche, Umstände, die bei der Befragung offenbar wurden: eigene Altersangabe Alter der Eltern/ Geschwister Daten der Beschulung Berufstätigkeit Fluchtwege und -zeiten Verhalten im Gespräch Gesamteindruck: Bewertung/ Entscheidung: 56 Name:...................................................... Der/ die oben genannte wird: gemäß § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut genommen, da die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen; gemäß § 42 SGB VIII in Obhut genommen, da die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen ; gemäß § 42a SGB VIII oder gemäß § 42 SGB VIII in Obhut genommen, da es sich um einen Zweifelsfall handelt; nicht gemäß § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut genommen bzw. eine bereits de facto erfolgte vorläufige Inobhutnahme wird umgehend beendet; nicht gemäß § 42 SGB VIII in Obhut genommen bzw. eine bereits de facto erfolgte Inobhutnahme wird umgehend beendet. Weiterleitung an: Einrichtung, Clearing Verwandte: Name .......................................................................................................... Adresse: ...................................................................................................... GUK / Erstaufnahmeeinrichtung / Ausländerbehörde Die o.g. Angaben beruhen auf den Aussagen der o.g. Person, sie wurden von einer/m Sprachmittler übersetzt und von zwei beauftragten Mitarbeiter/innen des Jugendamtes ........................................... oder von einem beauftragten Mitarbeiter/innen des Jugendamtes und einer unabhängigen psychologischen Fachkraft aufgenommen. Name der/des die Befragung durchführenden und Name der/des an der Befragung teilnehmenden Sozialpädagogen/in / Sozialarbeiter/in / psychologischen Fachkraft oder Verwaltungsangestellten : Datum:__________ Unterschriften: 57 Verfahren der Alterseinschätzung Bei Fehlen geeigneter Personaldokumente werden im Regelfall die mündlichen Angaben des unbegleiteten Minderjährigen zur Grundlage des weiteren Handelns, wenn diese plausibel sind. In den Fällen, bei denen offenkundig Zweifel an der Altersangabe bestehen, lehnt das Jugendamt ........................................... die vorläufige Inobhutnahme bzw. die Inobhutnahme ab, wenn es aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes, des Entwicklungsstandes und des Gesamteindrucks, der in einem Gespräch mit Hilfe eines Sprachmittlers gewonnen wird, ausgeschlossen scheint, dass die Person Kind oder Jugendlicher ist (vgl. § 21 SGB X). Die Alterseinschätzung wird im Vieraugenprinzip immer von zwei Personen durchgeführt. Neben einem Sozialpädagogen / einer Sozialpädagogin bzw. einem Sozialarbeiter/einer Sozialarbeiterin des Jugendamtes ............................................. kann dies auch eine psychologische Fachkraft oder eine erfahrene Verwaltungskraft des Jugendamtes ............................................. sein. Diese Mitarbeiter besitzen eine langjährige Berufserfahrung im Umgang mit jungen Menschen und sind in die Wahrnehmung dieser speziellen Aufgabe von erfahrenen Vorgängern eingearbeitet. Das Anforderungsprofil für den/die Sozialpädagogen /in / Sozialarbeiter/in / psychologische Fachkraft enthält folgende Merkmale: Fundierte Berufserfahrung in der Kriseninterventionsarbeit Staatliche Anerkennung für Sozialpädagogen / Sozialarbeiter Erfahrungswissen in der sozialpädagogischen/psychotherapeutischen Arbeit mit Migrantinnen und Migranten aus unterschiedlichen Kulturen Kenntnisse über die kulturellen und ethnischen Hintergründe von Flüchtlingen Die beauftragten Verwaltungsangestellten sind durch ihre langjährige Mitarbeit und Einarbeitung in dieses Spezialgebiet qualifiziert, eigene Wahrnehmungen in den Prozess der Altersschätzung mit einzubringen. Während des strukturierten und dokumentierten Gesprächs zur (vorläufigen) Inobhutnahme werden Merkmale in Bezug auf das äußere Erscheinungsbild, Widersprüche und ungeklärte Fragen sowie Wahrnehmungen in Bezug auf das Verhalten erfasst, die nur dann vervollständigt und abschließend bewertet werden, wenn sich beide Personen, die die Einschätzung vornehmen, zweifelsfrei sicher sind, dass keine Minderjährigkeit vorliegt. Sofern es in der Einschätzung keine Übereinstimmung gibt bzw. beide Personen das Vorliegen von Minderjährigkeit für möglich erachten, wird in der Regel nicht die Altersangabe, sondern lediglich die Minderjährigkeit bestätigt. In den Fällen, in denen die mit der Prüfung der Voraussetzung für eine (vorläufige) Inobhutnahme befassten Personen im Verlauf des Erstgesprächs nicht zu einer gemeinsamen Einschätzung gelangen, wird ein Termin für eine zweite qualifizierte Inaugenscheinnahme festgelegt und möglichst eine weitere Fachkraft des Jugendamtes .................................................. hinzugezogen. Eine vorläufige Inobhutnahme bzw. eine Inobhutnahme wird nur dann aufgrund von angenommener Volljährigkeit beendet, wenn sich mindestens zwei Personen mit Sicherheit davon überzeugt haben, dass Minderjährigkeit ausgeschlossen werden kann. 58 Anlage 5: Anamnesebogen Datum: ....................... Anamnesebogen Bei der nachfolgenden Person handelt es sich um eine/n unbegleitete/n Minderjährige/n, der/die am ............................ in der Inobhutnahmeeinrichtung aufgenommen wurde und sich derzeit im Clearingverfahren befindet. Er/Sie gibt Folgendes an: Personalien des/der Minderjährigen: Name: Vorname: geboren am: männlich weiblich Geb. Ort: Staatsang.: Muttersprache: Religion: Fremdsprache: zuletzt gelebt in: .................................................. bei: Einreise nach Deutschland: Einreise nach (Ort): .......................................... Die o. g. Personenstandsdaten wurden mit folgendem Dokument belegt: Personalausweis / Identitätskarte Pass Geburtsurkunde sonstiges: ohne Papiere Kindeseltern: Name des Vaters: Name der Mutter Vorname: Vorname: geb.: Alter: verstorben: geb.: Alter: verstorben: Str.: Str. Ort: Ort: Tel.: Tel.: Beruf: Beruf: ggf. Namen der Großeltern (väterlicherseits): Großvater: Großmutter: ggf. Namen der Großeltern (mütterlicherseits ): Großvater: Großmutter: 59 Geschwister: Name Alter m/w Name Alter m/w Kontakt zu den Eltern: keinen telefonisch täglich wöchentlich brieflich unregelmäßig möchte keinen Kontakt anderer Beziehungen zu Verwandten oder zu bevollmächtigten Personen in Deutschland oder einem EU-Land: Bruder Schwester Großvater Großmutter Onkel Tante keine sonstige…………………………… Nachname: Vorname: Land: Geburtsdatum / Alter: Wohnort: Tel.: Straße: Kann er /sie diese Verwandten besuchen? (z.B. am Wochenende) ja nein Besteht zwischen Verwandten oder Bekannten und der Clearingstelle/ Inobhutnahmeeinrichtung Kontakt? ja nein Wenn ja, wie gestaltet er sich? 60 Familien- und Wohnsituation im Herkunftsland: Schul- und Ausbildung: Schulbildung von ........................ bis ........................ (....... Jahre) oder wie viele Klassen: kann lesen: ja nein beherrscht lateinische Schrift (“englisch”): ja nein Zeugnisse vorhanden? ja nein Ausbildung / Arbeit: besondere Fähigkeiten: musisch sportlich Sprache sonstiges Lieblingsfächer: Problemfächer/ Schwierigkeiten: Gesundheitszustand: Allgemeiner Gesundheitszustand: Psychische Auffälligkeiten: chronische Erkrankungen Behinderungen OP oder Sonstiges Einnahme/ Medikation Gründe des Verlassens des Heimatlandes: (Ziele und Hoffnungen der Eltern und des Minderjährigen) Der/ die Minderjährige hat sein/ ihr Zuhause ohne Einverständnis des/ der Verwandten verlassen , da: 61 Reiseweg Einreise nach Deutschland am: Was wurde auf der Reise erlebt, über das er/sie heute immer nachdenken muss? Ankunft in................................................ (Örtlich zuständige/r Stadt/Landkreis/Bezirk) am: Wer hat die Reise wie veranlasst? Vater Mutter Großeltern weitere Verwandte andere Reiseweg: 62 Frage nach Rückkehrmöglichkeiten: Was befürchtet er/ sie, wenn er/ sie in sein/ ihr Heimatland zurückkehren würde? Sollen die Einrichtung bzw. die Behörden eine Rückkehr zu den Eltern oder eine Familienzusammenführung , falls diese sich in einem Drittstaat befinden, organisieren? ja nein Wenn ja, wohin? Sonstiges: Dieser Fragebogen wurde gemeinsam mit dem/der unbegleiteten Minderjährigen und einem/ einer (sozial-)pädagogischen Mitarbeiter/in und einem/einer Sprachmittler/in erstellt. Der/ die Unterzeichnende ist mit der Weitergabe dieser Unterlagen an das zuständige Jugendamt, an das Familiengericht, an einen evtl. schon bestellten Vormund/ Pfleger sowie an die Nachfolgeeinrichtung der Jugendhilfe einverstanden. Des Weiteren erklärt der/ die Unterzeichnende, dass er/ sie über ein Vermögen von € verfügt bzw. über kein Vermögen verfügt. (sozial-)päd. Mitarbeiter/in Sprachmittler/in unbegl. Minderjährige/r 63 Anlage 6: Sozialpädagogische Einschätzung Datum: ..................... Sozialpädagogische Einschätzung Name: Vorname: w m geboren am: Staatsangehörigkeit: Verhaltensbeschreibung und Einschätzung (als Fließtext) in Bezug auf Sozialverhalten (und Wahrnehmung von Freizeitangeboten), Besuchskontakte, Vormundschaft, Gesundheit, Aufenthalt/Asyl, polizeiliche Auffälligkeiten/ Inkassoforderungen, erzieherischer Bedarf, Fähigkeiten , Ressourcen und Unterbringungswunsch im Hinblick auf eine Anschlusshilfe: Schule: Besteht die Motivation, eine Schule, einen Kurs o.ä. zu besuchen? ja nein Schuleignungsuntersuchung am: ....................................................... Schulanmeldung am: ......................................................................... 64 besucht die Schule: ............................................................................ regelmäßig sporadisch nie besucht den Sprachkurs: regelmäßig sporadisch nie benötigt einen Alphabetisierungskurs: ja nein Name des Mitarbeiters/der Mitarbeiterin: (sozialpädagogische/pädagogische Fachkraft) 65 Anlage 7: Musterschreiben für die Anregung einer Vormundbestellung Amtsgericht Musterstadt – Familiengericht – Musterstraße 1 54321 Musterstadt Veranlassung zur Bestellung eines Vormunds/eines Pflegers im Sinne von § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII Name des/der Minderjährigen: Vorname des/der Minderjährigen: Geschlecht: Geboren am: in: Staatsangehörigkeit: Sehr geehrte Damen und Herren, für die oben genannte Person rege ich an, 1. das Ruhen der elterlichen Sorge gemäß § 1674 BGB festzustellen, 2. einen Vormund zu bestellen, hilfsweise einen Pfleger mit dem Wirkungskreis Personensorge , insbesondere mit dem Aufgabenkreis Antragstellung auf Hilfen nach dem SGB VIII zu bestellen, 3. einen Ergänzungspfleger für den Aufgabenkreis Vertretung in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten zu bestellen. Frau/ Herr ......................................... (Name und Anschrift der benannten Person) ist bereit, die Vormundschaft bzw. Pflegschaft für die oben genannte Person zu übernehmen. [Soweit eine solche Person vorhanden ist.] Frau/ Herr ...........................................(Name und Anschrift der benannten Person) ist bereit, die Ergänzungspflegschaft für die oben genannte Person zu übernehmen. [Soweit eine solche Person vorhanden ist.] Die oben genannte Person ist am TT.MM.JJJJ in …….. (Ort des Erscheinens, bspw. Jugendamt oder Clearingeinrichtung) erschienen und wurde am TT.MM.JJJJ durch Mitarbeiter des Jugendamtes .................................... gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut genommen. Nach ihren eigenen Angaben ist sie am TT.MM.JJJJ in ...............................................… geboren und ohne Personensorge- und Erziehungsberechtigte nach Deutschland eingereist. 66 Identitätspapiere und Reisedokumente konnte sie nicht vorlegen. Es liegen jedoch derzeit keine Erkenntnisse vor, an diesen Angaben zu zweifeln. Bezüglich ihrer Eltern gab die Person folgende Daten an: Name, Vorname der Mutter: Aufenthaltsort: Name, Vorname des Vaters: Aufenthaltsort: Es besteht kein Kontakt zu den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten, dieser kann auch nicht hergestellt werden. Die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten sind somit derzeit nicht in der Lage, für das Wohl der oben genannten Person zu sorgen. Die oben genannte Person gibt an, um Asyl nachsuchen zu wollen. [Soweit dies tatsächlich zutrifft.] Bis zur Klärung, ob ein Asylantrag gestellt wird und inwieweit ein jugendhilferechtlicher Bedarf besteht, wird die Person in …............................................................ (Name und Adresse der Jugendhilfeeinrichtung) untergebracht. Ich bitte um eine zeitnahe Beschlussfassung, da ich zur rechtmäßigen Jugendhilfeerbringung verpflichtet bin. Eine Hilfe nach dem SGB VIII kann jedoch nur der/die Personensorgeberechtigte beantragen. Für Rückfragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Mit freundlichen Grüßen Im Auftrag 67 Anlage 8: Statistikbogen 68 Anlage 9: Liste aller Landesverteilstellen Bundesland Adresse Landesverteilstelle Baden-Württemberg Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg Dezernat Jugend – Landesjugendamt Lindenspürstr. 39 70176 Stuttgart www.kvjs.de Bayern Beauftragter des Freistaates Bayern für die Aufnahme und Verteilung ausländischer Flüchtlinge und unerlaubt eingereister Ausländer Rothenburger Straße 31 90513 Zirndorf www.stmas.bayern.de Berlin Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft III F 217/III F 21 Lü Bernhard-Weiß-Straße 6 10178 Berlin www.berlin.de Brandenburg Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg Abteilung Kinder, Jugend und Sport Heinrich-Mann-Allee 107 14473 Potsdam www.mbjs.brandenburg.de Bremen Die Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport Abteilung Junge Menschen und Familie Referat Junge Menschen in besonderen Lebenslagen/ Landesjugendamt , 400-20 Bahnhofsplatz 29 28195 Bremen www.soziales.bremen.de Hamburg Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration Überregionale Förderung und Beratung/ Landesjugendamt – FS 4 Adolph-Schönfelder-Str. 5 22083 Hamburg www.hamburg.de Hessen Hessisches Ministerium für Soziales und Integration Dostojewskistraße 4 65187 Wiesbaden www.hsm.hessen.de Mecklenburg-Vorpommern Kommunaler Sozialverband Mecklenburg-Vorpommern Der Verbandsdirektor Am Grünen Tal 19 19063 Schwerin 69 Niedersachsen Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie , Landesjugendamt Schiffgraben 30-32 30175 Hannover www.jugendhilfe.niedersachsen.de Nordrhein-Westfalen Landschaftsverband Rheinland Landesstelle für die Verteilung unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Nordrhein-Westfalen (Landesstelle NRW) Kennedy-Ufer 2 50679 Köln www.landesstelle-nrw.lvr.de Rheinland-Pfalz Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Landesjugendamt Rheinallee 97-101 55118 Mainz www.lsjv.rlp.de Saarland Ministerium für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie C 2 Kinder- und Jugendhilfe, Landesjugendamt Franz-Josef-Röder-Straße 23 66119 Saarbrücken www.soziales.saarland.de Sachsen Sächsisches Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz Landesjugendamt Carolastraße 7a 09111 Chemnitz www.ljs.sms.sachsen.de Sachsen-Anhalt Landesverwaltungsamt - Landesjugendamt – Referat 602 Ernst-Kamieth-Str. 2 06112 Halle (Saale) www.lvwa.sachsen-anhalt.de Schleswig-Holstein Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein Landesjugendamt Adolf-Westphal-Str. 4 24143 Kiel www.schleswig-holstein.de Thüringen Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Referat 43 -Heimaufsicht, erzieherische Hilfen Werner-Seelenbinder-Straße 7 99096 Erfurt www.tmbjs.thueringen.de 70 Anlage 10: Stellungnahme des bayerischen Landesjugendamtes zu verheirateten Minderjährigen Die Stellungnahme finden Sie unter: http://www.blja.bayern.de/imperia/md/images/blvf/bayerlandesjugendamt/mitteilungsblatt/201 60711_minderj__hige_verheiratete_fl__chtlinge.pdf 71 Literaturverzeichnis BAG Landesjugendämter Das Fachkräftegebot des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (Februar 2005), www.bagljae.de BAG Landesjugendämter Qualitätsmaßstäbe und Gelingensfaktoren für die Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII (Mai 2015), www.bagljae.de BAG Landesjugendämter Das Fachkräftegebot in erlaubnispflichtigen teilstationären und stationären Einrichtungen (Mai 2014), www.bagljae.de Bergmann, Alexander/Ferid, Murad/Henrich, Dieter Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Loseblattausgabe Brandhuber, Rupert/Zeyringer, Walter/Heussler, Willi Standesamt und Ausländer, Loseblattausgabe Kunkel, Peter- Christian/Kepert, Jan/Pattar, Andreas Kurt Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar, 6. Auflage 2016 Riedelsheimer, Albert, Wiesinger , Irmela (Hrsg.) Der erste Augenblick entscheidet (Bd. 1), 1. Auflage 2004 Trenczek, Thomas/Tammen, Britta/Behlert, Wolfgang Grundzüge des Rechts, Studienbuch für soziale Berufe, 4. Auflage 2014 Wiesner, Reinhard SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 5. Auflage 2015 72 Liste der Mitglieder der Arbeitsgruppe zur Überarbeitung der Handlungsempfehlungen Behling, Karina Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg , Abteilung Kinder, Jugend und Sport Caspar, Udo Die Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen, Landesjugendamt Glaum, Joachim Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie , Fachgruppe Kinder, Jugend und Familie Hetkamp, Ursula Landschaftsverband Westfalen-Lippe, LWL-Landesjugendamt Westfalen Hinz, Dana Sächsisches Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz , Landesjugendamt Liß, Barbara Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Rheinland- Pfalz, Landesjugendamt Meusel, Hubert Ministerium für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Landesjugendamt Rudloff, Corinna Landesverwaltungsamt, Landesjugendamt Schoch, Peter Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein, Landesjugendamt Steinbüchel, Antje Landschaftsverband Rheinland, LVR-Landesjugendamt Sturmfels, Eva Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Landesjugendamt Sudheimer, Britta Hessisches Ministerium für Soziales und Integration Weeber, Vera-Maria Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden- Württemberg, Dezernat Jugend, Landesjugendamt Wolz, Ulrike Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Zeh-Hauswald, Stefanie Zentrum Bayern Familie und Soziales, Bayerisches Landesjugendamt Alterseinschätzung Verfahrensgarantien für eine kindeswohlorientierte Praxis Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. Kolbinger Schreibmaschinentext Anlage 3 Kolbinger Schreibmaschinentext Kolbinger Schreibmaschinentext Kolbinger Schreibmaschinentext Impressum Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. Paulsenstr. 55/56 12163 Berlin Tel.: 030 / 82 09 7 - 430 E-mail: info@b-umf.de Mehr Informationen unter: www.b-umf.de Berlin, Juni 2015 Gefördert mit Mitteln des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) und terre des hommes Inhaltsverzeichnis I. Einleitung 2 II. Die Bedeutung von Alterseinschätzung 4 III. Das Entscheidungsverfahren 6 IV. Verfahrensgarantien bei der Alterseinschätzung 10 1. Wohl des Kindes 10 2. Vertreter 12 3. Im Zweifel für die Minderjährigkeit 13 4. Dokumentation 14 5. Informierte Zustimmung 15 6. Datenschutz 16 7. Qualifiziertes Fachpersonal 17 8. Möglichkeiten der Beschwerde 18 9. Übergang in die Volljährigkeit 19 V. Literatur 20 Alterseinschätzung Verfahrensgarantien für eine kindeswohlorientierte Praxis 2 BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE E.V. I. Einleitung „Es ist allgemein anerkannt, dass zurzeit keine Methode zur Verfügung steht, mit der das genaue Alter einer Person bestimmt werden kann“1 Personen unter 18 Jahren sind minderjährig.2 Wenn diese ohne Sorgeberechtigte nach Deutschland einreisen oder dort zurückgelassen werden, müssen sie durch das Jugendamt in Obhut genommen werden.3 Das Jugendamt muss im Rahmen dieses Verfahrens klären, ob eine mögliche Minderjährigkeit und damit eine Schutzbedürftigkeit vorliegt.4 Da viele Minderjährige keine gültigen Papiere besitzen und kein Geburtsdatum angeben können, ist eine Einschätzung des Alters in vielen Fällen notwendig. Dies ist für alle Beteiligten mit Belastungen versehen – natürlich zuerst für den betroffenen Jugendlichen, aber auch für die Personen, die den Jugendlichen vertreten und auch für diejenigen, die die Alterseinschätzung durchführen. Um diese Belastungen zu reduzieren und den Prozess der Alterseinschätzung fair, transparent und kindgerecht zu gestalten, sollen die im folgenden aufgeführten Kriterien und Maßnahmen eine Orientierung bieten. Diese Broschüre vermittelt notwendige Verfahrensgarantien und -maßnahmen für die Alterseinschätzung5 bei unbegleiteten Minderjährigen. Ausgehend von sozialpädagogischen und rechtlichen Anforderungen an den Umgang mit Minderjährigen werden notwendige Maßnahmen des Kinderschutzes im Rahmen der Alterseinschätzung 1 European Asylum Support Office 2013: Praxis der Altersbestimmung in Europa, S. 24, im Weiteren zitiert: EASO 2013. 2 Statt aller: Artikel 2 lit. d) Richtlinie 2013/33/EU vom 26.Juni 2013 „Aufnahmerichtlinie“ und Artikel 2 lit. i) EU Verordnung 604/2013 vom 26. Juni 2013 „Dublin III“. 3 § 42 Abs.1 Nr. 3 SGB VIII unter Berücksichtigung von Artikel 2 lit. e) Richtlinie 2013/33/EU „Aufnahmerichtlinie“. 4 DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2010, 547, 548. 5 Die deutsche Fassung des Handbuches der EASO spricht von „Altersbestimmung“ im englischen Original heißt es „age assessement“ – aufgrund der Unmöglichkeit der exakten Altersfestsetzung benutzt der Bundesfachverband UMF den Begriff Alterseinschätzung. 3ALTERSEINSCHÄTZUNG - VERFAHRENSGARANTIEN FÜR EINE KINDESWOHLGERECHTE PRAXIS vorgestellt. Die Prüfung einer möglichen Minderjährigkeit und daraus resultierenden Schutzbedarfs sollte verständlich, strukturiert, intersubjektiv nachvollziehbar und dokumentiert sein. Das Vorgehen sollte geschlechts- und migrationssensibel sowie kindgerecht sein. Die in dieser Broschüre aufgeführten Verfahrensgarantien orientieren sich an den von dem European Asylum Support Office (EASO) entwickelten Verfahrenskriterien. EASO ist eine Agentur der Europäischen Union, die unter „Einbeziehung aller EU-Mitgliedstaaten , […] der Europäischen Kommission, der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), Menschenrechts- und Vormundschaftsorganisationen, Kinderrechtsgruppen , Mitgliedern von Gerichten, Unicef, UNHCR und unabhängigen Experten einschließlich denen der medizinischen Berufe“ Verfahrenskriterien zur Alterseinschätzung entwickelt hat.6 Wir greifen mit dieser Arbeitshilfe in Teilen die Ergebnisse von EASO kritisch auf, ergänzen diese und setzen sie in den deutschen Kontext. Die Erfahrung zeigt, dass formalisierte Handlungsleitfäden Transparenz schaffen und Handlungssicherheit für alle Beteiligten geben: Nicht nur für die betroffenen Minderjährigen , sondern auch für die Beteiligten, die das Alter einschätzen müssen. Sie können mithilfe der aufgeführten Prüflisten konkrete Probleme bei der Alterseinschätzung im Sinne des Kinder- und Jugendschutzes identifizieren und klären. Allerdings kann die Anwendung entsprechender Listen nicht eine Berücksichtigung der persönlichen Umstände in jedem Fall ersetzen. Die hohe Bedeutung der Alterseinschätzung und deren weitreichenden Konsequenzen verlangen, dass dieses Verfahren klaren Standards genügt. Die im folgenden dargestellten Verfahrenskriterien sollten deswegen bei jeder Alterseinschätzung berücksichtigt werden. Berlin, Juni 2015 6 EASO 2013: S. 10, Fn. 1. 4 BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE E.V. II. Die Bedeutung von Alterseinschätzung in Deutschland Ein zentraler Baustein bei der Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen ist die Alterseinschätzung . Viele der Jugendlichen kommen ohne gültige Papiere nach Europa und haben auch sonst kaum Möglichkeiten, ihr Alter zu dokumentieren. Wenn eine Person angibt minderjährig zu sein, oder es anderweitige Hinweise gibt, dass eine Person minderjährig sein kann, dann muss dies mit Sorgfalt geprüft werden. Da es keine Methode gibt, mit der das genaue Alter einer Person bestimmt werden kann, ist es umso notwendiger, dass dieser Unsicherheit in der Einschätzung des Alters durch transparente Verfahrensstandards, die kindgerecht auszugestalten sind, begegnet wird. Die Alterseinschätzung ist dabei Mittel zum Zweck, um eine Schutzlosigkeit von möglichen Minderjährigen zu verhindern und ein Alter festzulegen. Dass Fehlen einer exakten Methode führt notwendigerweise dazu, dass wir im Rahmen dieser Broschüre keine bevorzugte Methode zur Alterseinschätzung angeben können. Selbst die aktuelle EASO Studie empfiehlt keine spezifische Methode der Alterseinschätzung . Im Gegensatz zu EASO lehnen wir jedoch medizinische Verfahren zur Alterseinschätzung grundsätzlich ab, weil in Deutschland, anders als in anderen europäischen Staaten, die primäre Zuständigkeit für die Alterseinschätzung beim Jugendamt liegt und es nicht vornehmlich um die Einschätzung von Knochenaltern geht, sondern um die Berücksichtigung einer individuellen Lebenssituation und spezifischer Bedürfnisse. Sollten trotzdem medizinische Verfahren angewendet werden, müssen die aufgeführten Standards auch in diesem Verfahren erfüllt werden. Es ist unbestritten, dass die Fachkräfte der nationalen Kinderschutzbehörden im Rahmen ihres Schutzauftrags für die Wahrung des Kindeswohls zuständig sind, denn dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe obliegt gem. § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII allein die Verantwortung , Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Die dortigen Fachkräfte haben somit den Auftrag und die Kompetenz, eine pädagogisch und psychologisch qualifizierte Alterseinschätzung vorzunehmen. Dafür bedarf es regelmäßiger Schulung des Personals. Alterseinschätzungen dürfen aus anderen europäischen Staaten oder von anderen nationalen Behörden nicht ungeprüft übernommen werden, da in den wenigsten Fällen die Einhaltung des Kinderschutzes überprüft werden kann, z.B. wegen nicht eingehaltener Standards oder fehlender Dokumentation. Das Jugendamt ist nicht nur für die Inobhutnahme zuständig, sondern auch zuständige Behörde für alle jungen Menschen und deren Persönlichkeitsentwicklung. Zur Vermeidung von Interessenkonflikten ist es sinnvoll, zwischen denen zu unterscheiden , die das Alter einschätzen, und die ein fiktives Geburtsdatum für den behördlichen Gebrauch festlegen. Da ein möglicherweise Minderjähriger vom Jugendamt in Obhut zu nehmen ist, bis seine Minderjährigkeit ausgeschlossen werden kann, liegt die Alterseinschätzung beim Jugendamt. Das Jugendamt richtet sich bei der Bewei sermittlung nach §§ 20, 21 SGB X. Die Beweisermittlung gemäß § 21 SGB X findet im Rahmen des „pflichtgemäßen Ermessens“ statt. Dies bedeutet auch eine Berücksichti- 5ALTERSEINSCHÄTZUNG - VERFAHRENSGARANTIEN FÜR EINE KINDESWOHLGERECHTE PRAXIS Im Sinne des Kindeswohls: Alter ganzheitlich betrachten Wird vom Alter einer Person gesprochen, so assoziiert man damit typischerweise das chronologische Alter, also jenen Zeitabschnitt, der seit der Geburt der Person vergangen ist. Zudem wird in der Biologie von Alter gesprochen, wenn anhand bestimmter körperlicher Zustände die irreversiblen morphologischen , biochemischen und funktionalen Veränderungen beschrieben werden, weswegen auch von Knochenalter die Rede ist. Der somatisch-biologische Alterungsprozess verläuft äußerst individuell , weswegen zwischen biologischem Alter und chronologischem Alter enorme Abweichungen liegen können – dies wird jedoch bei medizinischen Verfahren vielfach nicht berücksichtigt. Des Weiteren existiert ein soziales Alter, das sich auf sämtliche Einstellungen und Zuschreibungen bezieht, die mit einer bestimmten Altersgruppe aufgrund gesellschaftlicher Wertvorstellungen und Normen in Verbindung gebracht werden. Das psychologische Alter definiert sich über bestimmte Fähigkeiten von Personen, die ihnen die Möglichkeit vermitteln, sich an sich verändernde Ansprüche anzupassen. Kriterien sind dabei die kognitiven, intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten. Daneben werden Begrifflichkeiten wie subjektives Alter gebraucht, wenn es darum geht, das individuell -empfundene Alter zu beschreiben. Bei der Einschätzung des Alters ist also zunächst wichtig, welche Alterskonstruktion zugrunde gelegt wird.7 In diesem Kontext legt deswegen nicht nur die EASO-Studie, sondern auch UNHCR und UNICEF besonderen Wert darauf, die kognitive und emotionale Entwicklung und nicht nur das chronologische Alter der betroffenen Person zu berücksichtigen. gung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, so dass das Beweismittel geeignet, erforderlich und angemessen sein muss. Dies bedeutet auch, dass eine Alterseinschätzung nicht der Regelfall sein darf, sondern nur in Zweifelsfällen angewendet werden soll. Voraussetzung ist, dass sich nach Vorbringen der Beteiligten Zweifel an der Richtigkeit bestimmter Tatsachen ergeben. So ist die bloße Einreise mit gefälschten Papieren kein hinreichender Grund für Zweifel an den Altersangaben, da dies für eine Fluchtsituation typisch ist. Auch sind zweifelhafte Angaben zur Fluchtgeschichte kein Anhaltspunkt für Zweifel am angegebenen Alter. Das Familiengericht legt nach eigener Prüfung im Rahmen seines Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 26 FamFG bei der Vormundschaftsbestellung ein fiktives Geburtsdatum fest, welches einen höchstmöglichen Minderjährigenschutz gewährleistet, d h. es muss von einer Minderjährigkeit bis zum letzten Tag des möglichen Geburtsjahres ausgegangen werden.8 Je detaillierter und nachvollziehbarer die Dokumentation der Alterseinschätzung des Jugendamtes im Einzelfall ist, desto einfacher ist die Prüfung durch das Familiengericht. Denn Gerichte haben ein eigenes Beweiserhebungsrecht, bspw. das Familiengericht nach § 26 iVm § 29 FamFG. Allerdings muss auch diese Beweiserhebung den Regeln der Verhältnismäßigkeit entsprechen und erforderlich sein. Sollten die durch andere Personen und Behörden angebrachten Zweifel auf Befragungen basieren, hat sich das Familiengericht zu fragen, ob diese Befragungen auf einem kindgerechten und kultursensiblen Umgang beruhen. Auch das Verwaltungsgericht kann ein Alter festlegen, wenn es berechtigte Zweifel an dem Alter hat, etwa bei der Klage bezüglich Inobhutnahme oder Hilfen zur Erziehung. 7 Vgl. Prahl/Schroeter, 1996. 8 BVerwG, NJW 1985, 576 f. Auch weitere Gerichte haben sich dem angeschlossen: OVG NRW, Beschluss vom 29.08.2005, Az: 12 B 1312/05, NVwZ-RR 2006, 574 ff. 6 BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE E.V. III. Das Entscheidungsverfahren Die Alterseinschätzung setzt voraus, dass die betreffende Person nicht in der Lage ist, ihr Alter glaubhaft zu machen. Insofern müssen zunächst alle Möglichkeiten geprüft werden, wie der Jugendliche selber über sein Alter Auskunft geben kann. Dies erfolgt in den Schritten: 1. Der Jugendliche besitzt Identitätspapiere, die sein Alter glaubhaft belegen. 2. Der Jugendliche besitzt andere Dokumente, die Rückschlüsse auf sein Alter zulassen. 3. Der Jugendliche kann ein Geburtsdatum oder Alter angeben, und es gibt keine substantielle Gründe, die dies unglaubhaft erscheinen lassen. Wenn unbegleitete Minderjährige ohne gültige Ausweispapiere einreisen, ist in erster Linie die Selbstauskunft des jungen Menschen entscheidend.9 In diesen Fällen ist das Geburtsdatum zu übernehmen, bzw. auf den 31.12. des entsprechenden Jahres festzulegen (wenn beispielsweise ein Jugendlicher im Jahr 2015 in Obhut genommen wird und er sein Alter mit 15 angibt, aber seinen Geburtstag nicht weiß, dann wird der 31.12.2000 als Geburtstag eingetragen). Im Zuge der Beweiswürdigung sollte folgendes berücksichtigt werden:10 Prüfliste Beweiswürdigung ! Wurde die betreffende Person in einer Sprache, die sie versteht, und in einer ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihrer Reife angemessenen Art und Weise über das Verfahren und die damit verbundenen Folgen informiert? ! Wurden alle verfügbaren Nachweise, einschließlich mündlicher Aussagen der betreffenden Person, berücksichtigt, eingeschätzt und dokumentiert? ! Wurden maßgebliche Informationen über das Herkunftsland und die dortige Gesellschaft recherchiert und berücksichtigt, z. B. die Verwendung anderer Kalender? ! Wurden individuelle Faktoren angemessen berücksichtigt, z. B. Geschlecht, Herkunft, Religion, soziokultureller Hintergrund, Bildung, Familiengeschichte, 9 DIJuF-Rechtsgutachten 2010: JAmt, 547f. 10 Die Liste beruht im Wesentlichen auf den Erkenntnissen der EASO, siehe Fn. 1. 7ALTERSEINSCHÄTZUNG - VERFAHRENSGARANTIEN FÜR EINE KINDESWOHLGERECHTE PRAXIS mögliche Traumata, Ermüdung und Älterwirken durch Strapazen? ! Im Fall offensichtlicher Widersprüche oder Inkonsistenzen innerhalb der Informationen: Wurden diese mit der betreffenden Person und den Verfahrensbeteiligten erörtert, und wurde allen die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt? ! Wurden alle Aspekte angemessen berücksichtigt, die u. U. darauf hindeuten, dass eine Minderjährigkeit/Volljährigkeit entgegen der Nachweise vorliegt? ! Wurden Berichte der pädagogischen Fachkräfte oder der in Obhut nehmenden Einrichtung berücksichtigt? ! Haben die Fachkräfte, welche die Beweiswürdigung durchführen, den Stand ihrer Qualifikationen, Erfahrung und Fachkenntnisse angegeben? ! Wurden mögliche Interessenkonflikte der Verfahrensbeteiligten umfassend berücksichtigt? Erst wenn sich die Zweifel an der Minderjährigkeit hierdurch nicht ausräumen lassen, ist das Alter einzuschätzen. Die Zweifel müssen begründet und dokumentiert sein und sind auf Ausnahmefälle zu beschränken.11 Die vorzunehmende Alterseinschätzung sollte mindestens das Verhalten und die persönlichen Angaben umfassen. Das äußere Erscheinungsbild kann auch zur Einschätzung herangezogen werden, es muss allerdings berücksichtigt werden, dass es keine objektiven Kriterien zur Einschätzung des Alters aufgrund der äußeren Erscheinung gibt. So können etwa graue Haare, Haarausfall und Bartwuchs durch hormonelle Störungen oder durch Fluchterfahrungen auftreten. Das äußere Erscheinungsbild sollte keinesfalls als alleiniges Kriterium für die Alterseinschätzung dienen. Zu berücksichtigen ist insbesondere, dass sich das Erscheinungsbild dieser jungen Menschen mit der Zeit deutlich verändern kann, nach einer Erholungsphase können sie wesentlich jünger wirken als unmittelbar bei der Inobhutnahme. Deshalb ist ihnen eine gewisse Zeit zum Ankommen und zum Verarbeiten der durchlebten Ereignisse einzuräumen.12 An der Alterseinschätzung sollten mindestens zwei geschulte Personen teilnehmen, und das Verfahren sollte z.B. durch einen Fragebogen strukturiert sein, wie es auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAGLJÄ) empfiehlt.13 Wie bereits erwähnt, ist keine Methode der Alterseinschätzung genau. Deswegen ist es notwendig, im Einzelfall zu erörtern, welches Verfahren jeweils geeignet und verhältnismäßig ist. Eine Alterseinschätzung, welche die Umstände des Einzelfalls nicht angemessen berücksichtigt oder von sachfremden Erwägungen wie Unterbringungskapazitäten geleitet ist, ist rechtswidrig. Um eine angemessene Methode zu identifizieren , sollten alle Punkte der Prüfliste bejaht werden können. 11 Münder/Trenczek 2013, § 42 SGB VIII Rn 21. 12 DIJuF-Rechtsgutachten 2010: JAmt, 547f. 13 BAGLJÄ 2014, Anhang 1b. 8 BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE E.V. Prüfliste Methodenwahl14 ! War bei der Wahl der Methoden das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung? ! Sind unter Berücksichtigung aller verfügbaren Nachweise weitere Untersuchungen erforderlich? ! Wurde bei der Wahl der Methode die psychische Verfasstheit der betreffenden Person berücksichtigt? ! Achten die Methoden die Würde der betreffenden Person und tragen sie geschlechtsspezifischen Anforderungen Rechnung? ! Wird bei der Alterseinschätzung neben der physischen Erscheinung auch die psychische Reife berücksichtigt? ! Sind die an der Alterseinschätzung beteiligten Personen angemessen qualifiziert und zusätzlich im Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen geschult? ! Wurden die betreffende Person sowie ihr rechtlicher Vertreter über die gewählten Methoden und die damit verbundenen Folgen aufgeklärt? ! Wurde die betreffende Person in den Prozess einbezogen, und hatte sie vor allem die Gelegenheit, ihre Meinung zu äußern? ! Wurden bei Bedarf andere Personen konsultiert, z. B. Personen, die zu der betreffenden Person ein Vertrauensverhältnis haben (Angehörige, Lehrer, Bezugsbetreuer, usw.)? ! Wurde vor etwaigen Datenübermittlungen an andere Stellen die Einwilligung des Betroffenen eingeholt? Da es nicht möglich ist, ein Alter exakt festzustellen, muss jede Alterseinschätzung die möglichen Fehlerspielräume berücksichtigen und entsprechend dokumentieren. Das ist unabhängig davon, ob die Person als minderjährig oder als volljährig eingeschätzt wird. Die folgende Prüfliste gibt eine Orientierung, was in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen ist. 14 Angelehnt an EASO 2013: 24. 9ALTERSEINSCHÄTZUNG - VERFAHRENSGARANTIEN FÜR EINE KINDESWOHLGERECHTE PRAXIS Prüfliste Fehlerspielraum15 ! Wurde der Fehlerspielraum der jeweiligen Methode zur Alterseinschätzung festgelegt und erläutert? ! Wurden der Fehlerspielraum sowie die Tatsache berücksichtigt, dass keine der Methoden eine eindeutige Alterseinschätzung gestattet? ! Wurde dies anhand von Nachweisen im Entscheidungsverfahren dokumentiert und begründet? ! Enthalten das Ergebnis der Alterseinschätzung sowie die Entscheidung sämtliche Angaben zu den Gründen für die Durchführung der Alterseinschätzung, den verwendeten Methoden, den Evaluierungskriterien und dem Fehlerspielraum? ! Wurden Alterszweifel zugunsten des Betroffenen ausgelegt? ! Wurde in Fällen, in denen der Fehlerspielraum das von der Person selbst angegebene Alter einschließt, dieses Alter im Rahmen des Entscheidungsverfahrens anerkannt? 15 In Anlehnung an EASO 2013: 43. 10 BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE E.V. IV. Verfahrensgarantien bei der Alterseinschätzung 1. Wohl des Kindes „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, unabhängig davon, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt , der vorrangig berücksichtigt werden muss“,16 dies gilt auch für die Alterseinschätzung . Für die Einschätzung des Wohles des Kindes ist die Berücksichtigung der Umstände für das Kind erforderlich und ist zu berücksichtigen, wie sich die betreffende Maßnahme auf andere Rechte auswirkt, die dem Kind gewährt werden. Für Deutschland bedeutet dies vor allem, dass das Jugendamt im Rahmen der Inobhutnahme für das Wohl des Kindes zu sorgen hat und alle geeigneten Maßnahmen treffen muss.17 Solange Sorgeberechtigte nicht erreichbar sind und noch kein gesetzlicher Vertreter bestellt ist, übt das Jugendamt im Rahmen einer Notfallvertretung das Sorgerecht aus und garantiert das Kindeswohl, bis das angerufene Familiengericht einen Pfleger oder Vormund bestellt hat. Da es sich bei der Vertretung durch das Jugendamt um eine reine Notfallvertretung handelt und weil Interessenskonflikte möglich sind, wenn das Jugendamt gleichzeitig für die Wahrung des Kindeswohls als auch für die Alterseinschätzung zuständig ist, sollte die Bestellung eines Vertreters umgehend erfolgen – gegebenenfalls auch im einstweiligen Verfahren. 16 Art. 24 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 3 UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes. 17 Vgl. § 42 Abs. 2 SGB VIII. 11ALTERSEINSCHÄTZUNG - VERFAHRENSGARANTIEN FÜR EINE KINDESWOHLGERECHTE PRAXIS Prüfliste Kindeswohl ! Wurde vor der Einleitung von Maßnahmen der Grundsatz des Kindeswohls vorrangig berücksichtigt? ! Wurde dies begründet und dokumentiert? ! Wurden bei der Einschätzung des Wohles folgende Faktoren berücksichtigt: a) Notwendigkeit der Einschätzung b) Wahrung der Würde der Person c) Zudringlichkeit der Methode d) Zuverlässigkeit des Resultats e) Nutzen der Einschätzung ! Wurde die betreffende Person an der Entscheidung beteiligt und nach ihrer Ansicht und/oder der ihres Vormunds oder Vertreters entsprechend ihres Alter und ihrer Reife befragt? ! Gibt es Nachweise dafür, dass die mit dem Minderjährigen beschäftigten Personen (Dolmetscher, Vertreter, mit der Vornahme der Alterseinschätzung betraute Personen) die erforderliche Fachkenntnis zum Durchführen Ihrer Aufgaben in Übereinstimmung mit dem Grundsatz des Kindeswohls haben? 12 BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE E.V. 2. Vertreter Der Vertreter ist eine Person oder Organisation zur Unterstützung und Vertretung des unbegleiteten Minderjährigen. Seine Aufgabe besteht darin, das Wohl des Kindes zu wahren und für das Kind, soweit erforderlich, Rechtshandlungen vorzunehmen. Der Vertreter sollte zum frühestmöglichen Zeitpunkt und vor allem vor dem Beginn einer Alterseinschätzung bestellt werden und darf keine Person sein, deren Interessen mit denjenigen des Kindes kollidieren könnten. Dies deckt sich mit den Aufgaben des Jugendamtes im Rahmen der Inobhutnahme gemäß § 42 Abs. 3 SGB VIII, da in diesem Fall die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers beim zuständigen Familiengericht unverzüglich, d.h. innerhalb von drei Werktagen zu beantragen ist.18 Für die Alterseinschätzung bedarf es aus Perspektive des Kinderschutzes eines rechtlichen Vertreters. Deswegen sollte durch das Familiengericht in einem einstweiligen Verfahren vor der Alterseinschätzung ein Vormund oder Pfleger bestellt werden. Der Vertreter im Rahmen der Alterseinschätzung vertritt die Kindesinteresse in dem Verfahren und sollte daher folgende Maßgaben erfüllen: Prüfliste Vertreter ! Wurden Nachweise für Fachwissen und Qualifikationen des rechtlichen Vertreters erbracht? ! Ist ein Vertreter während der Einschätzung anwesend? ! Ist die Rolle des Vertreters der betreffenden Person transparent erklärt worden? ! Kann der Vertreter die Alterseinschätzung stoppen, wenn er meint, dass sie unangemessen oder nicht zum Wohl des Kindes ist? ! Wird die betreffende Person durch das Verfahren hindurch von einem Vertreter unterstützt, der von der Behörde, die das Verfahren durchführt, oder von einer anderen Behörde mit eigenem Interesse am Ergebnis des Verfahrens unabhängig ist? ! Hat die betreffende Person bei der Vorbereitung auf die Einschätzung Rechtsbeistand erhalten? ! Wird die betreffende Person Rechtsbeistand für die Reaktion auf das Ergebnis der Einschätzung haben? 18 BVerwG, Urteil v. 24.02.1994, 5 C 17/91. 13ALTERSEINSCHÄTZUNG - VERFAHRENSGARANTIEN FÜR EINE KINDESWOHLGERECHTE PRAXIS 3. Grundsatz im Zweifel für die Minderjährigkeit Die entsprechende Anwendung des strafrechtlichen Grundsatzes „in dubio pro reo“, mit dem Ergebnis „im Zweifel für die Minderjährigkeit“, ist eine wichtige Garantie des Minderjährigenschutzes im Bereich der Alterseinschätzung. Nur so kann verhindert werden, dass Minderjährige keinen angemessenen Schutz erhalten. Dies deckt sich mit europarechtlichen Normen: Gemäß dieser Vorgaben ist im Falle von Restzweifeln nach einer Alterseinschätzung von der Minderjährigkeit auszugehen. 19 Gestützt werden die europarechtlichen Vorgaben durch den UN - Ausschuss für die Rechte des Kindes.20 Die aufgreifende Stelle ist demnach verpflichtet, eine unbegleitete Person, die möglicherweise minderjährig ist, bis zur abschließenden Klärung wie eine minderjährige Person zu behandeln, also auch in Obhut zu nehmen. Dasselbe gilt bei der Bestellung einer Vormundschaft durch das Familiengericht, ggf. im einstweiligen Verfahren, solange die Minderjährigkeit nicht ausgeschlossen werden kann, muss ein Vormund bestellt werden. Liegen unterschiedliche Altersabgaben vor, sollte zugunsten der Minderjährigkeit entschieden werden. Damit sollte sich die Alterseinschätzung nach folgenden Maßstäben richten: Prüfliste im Zweifel für die Minderjährigkeit ! Wenn das Alter nicht bekannt ist und Anlass zu der Annahme besteht, dass es sich bei der betreffenden Person um einen Minderjährigen handelt, wird sie dann bis zur Feststellung ihres Alters als Minderjähriger betrachtet? ! Wird die betreffende Person als Minderjähriger betrachtet, wenn nach den Alterseinschätzungsuntersuchungen immer noch Zweifel bestehen? ! Falls Zweifel an der Minderjährigkeit/Volljährigkeit bestehen, wurde dies zusammen mit den Gründen der betroffenen Person und seinem Vertreter mitgeteilt? ! Sind bei Beteiligung von mehreren Akteuren alle mit dem Ergebnis einverstanden? ! Wird es dokumentiert, wenn es Meinungsverschiedenheiten zwischen den Akteuren gibt? 19 Statt aller: EASO 2013, S. 16, Fn. 1. 20 Art. 25.5 Asylverfahrensrichtlinie RL 2013/33/EG v.16.06.2013 und Artikel 13 Richtlinie 2011/36/ EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer, sowie Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes. 14 BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE E.V. 4. Dokumentation der Alterseinschätzung Da Alter nicht festgestellt werden kann, ist es umso wichtiger, den Prozess und das Verfahren der Alterseinschätzung detailliert zu dokumentieren. Nur so kann Transparenz und Nachvollziehbarkeit für andere Behörden oder Gerichte sichergestellt werden . Da Behörden und Gerichte grundsätzlich zu einer eigenen Amtsermittlung verpflichtet sind,21 muss die Dokumentation dabei auf den jeweiligen Einzelfall bezogen erfolgen und dabei sowohl Methodik als auch das Ergebnis nachvollziehbar dargelegt werden. Dabei können Formulare helfen, diese müssen aber für den Einzelfall entsprechend konkretisiert werden. Das pauschale Ankreuzen von vorgegebenen Listen ist nicht ausreichend.22 Dies gilt insbesondere bei Alterseinschätzungen, die von einer Minderjährigkeit ausgehen. Prüfliste Dokumentation ! Zeigen die Entscheidungen nachvollziehbar, wie in dem konkreten Fall das Kindeswohl berücksichtigt und mit anderen möglichen Interessen in Einklang gebracht wurde? ! Wurde das Verfahren und das daraus resultierende Ergebnis der Alterseinschätzung begründet, aufgezeichnet und dokumentiert? ! Wurde der betroffenen Person und ihrem Vertreter das Ergebnis zusammen mit den Gründen in einer verständlichen Sprache mitgeteilt? ! Werden die sozialdatenschutzrechtlichen Vorgaben bei der Dokumentation und der Zugänglichkeit der Dokumentation eingehalten? 21 Bpsw. § 20 SGB X und § 26 FamFG. 22 BGH Beschluss vom 12. Februar 2015, Rn. 8. 15ALTERSEINSCHÄTZUNG - VERFAHRENSGARANTIEN FÜR EINE KINDESWOHLGERECHTE PRAXIS 5. Informierte Zustimmung Unter einer informierten Zustimmung versteht man, dass der Alterseinschätzung durch den Betroffenen sowie durch seinen Vertreter zugestimmt werden muss. Dabei muss vorab umfassend über das Verfahren und die Methoden aufgeklärt werden und auch über die Konsequenzen der Ablehnung einer bestimmten Methode durch den Betroffenen. Des Weiteren sollte vorab darüber informiert werden, was mit den ermittelten Einschätzungen geschieht und ggf. welche Behörden in welchem Umfang Zugriff auf diese Daten haben. Solche Informationen sind kostenfrei und in einer Sprache mitzuteilen, die die betreffenden Personen verstehen. In Deutschland müssen die Aufklärung und die Einholung der Zustimmung im Rahmen der Inobhutnahme erfolgen . Für diesen Fall sollte im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ein Pfleger oder Vormund bestellt werden. Prüfliste Informierte Zustimmung ! Wurden die betreffende Person und ihr Vertreter darüber informiert, wie ihr Alter eingeschätzt werden soll? ! Wurden die betreffende Person und ihr Vertreter über die möglichen Ergebnisse und Konsequenzen informiert? ! Wurden die betreffende Person und ihr Vertreter darüber informiert, wer die Einschätzung durchführt, sowie über dessen Kenntnisse und Erfahrungen? ! Haben die betreffende Person und ihr Vertreter Informationen über Beschwerdemöglichkeiten gegen die Ergebnisse der Alterseinschätzung? ! Ist die betreffende Person unter Berücksichtigung von Gesundheit/Bildung/ Reife in der Lage, eine informierte Zustimmung abzugeben? ! Wurden Informationen in einer Sprache gegeben, die verstanden wird, sind die Informationen verständlich? ! Wurde dem Vertreter genug Zeit zur Stellungnahme eingeräumt? 16 BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE E.V. 6. Datenschutz Alle Beteiligten an der Alterseinschätzung müssen die Vorschriften des Datenschutzes berücksichtigen und sind daran gebunden. Die Informationen sollten nur zum Zwecke der Alterseinschätzung gesammelt und verwendet werden. Bei der Datensammlung und Weitergabe ist die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen zu berücksichtigen. Insbesondere muss sichergestellt sein, dass keine Daten durch, bei oder gegenüber dem möglichen Verfolgerstaat erhoben werden und damit den Betroffenen gefährden. Darüber hinaus muss die Person eine informierte Zustimmung abgeben, bevor ihre Daten weitergegeben werden. Die Zustimmung zur Datenweitergabe sollte dabei schriftlich dokumentiert sein. Des Weiteren sollte der Betroffene über die Weitergabe der Daten informiert werden. Nach den deutschen Datenschutzregelungen ist eine Weitergabe von Daten im Rahmen der Jugendhilfe nur unter Wahrung des Vertrauensverhältnisses zwischen Jugendamt und Betroffenen möglich und bedarf im Regelfall einer Schweigepflichtentbindung. Prüfliste Datenschutz ! Handelt es sich bei den von dem Betroffenen mitgeteilten Daten um Sozialdaten? ! Werden die Daten zu dem Zweck verwendet, zu dem sie erhoben wurden? ! Falls eine Zweckänderung stattfindet, hat dann der Betroffene in die Datenübermittlung eingewilligt? ! Falls nicht, liegt im Falle, dass eine andere Stelle um Übermittlung von Daten bittet/ersucht, die (gesetzlich vorgegebene) Übermittlungsbefugnis vor? ! Werden durch eine Datenverwendung das Vertrauensverhältnis zu dem Betroffenen und/oder die eigene Aufgabenwahrnehmung gefährdet? ! Handelt es sich bei den mitgeteilten Daten um besonders schützenswerte („anvertraute“) Daten? 17ALTERSEINSCHÄTZUNG - VERFAHRENSGARANTIEN FÜR EINE KINDESWOHLGERECHTE PRAXIS 7. Qualifiziertes Fachpersonal Alle an der Alterseinschätzung beteiligten Personen sollten eine entsprechende Qualifizierung im Umgang mit Kindern haben. Dies umfasst neben dem Fachpersonal in der Jugendhilfe auch Beteiligte außerhalb der Jugendhilfe, z.B. Sprachmittler. Darüber hinaus sollten sie in der Lage sein, nachzuweisen, dass sie über die für Ihre Tätigkeit erforderlichen einschlägigen Kenntnisse und Fachkompetenzen verfügen. Prüfliste Qualifizierung ! Sind die an dem Prozess Beteiligten angemessen in Bezug auf die Rechte und Bedürfnisse von Minderjährigen geschult? ! Wurde überprüft, dass die Beteiligten, einschließlich der Personen, die die Alterseinschätzung durchführen, und des Vormunds/Vertreters, keine potenziellen Interessenkonflikte mit dem Kind haben? ! Werden Einzelheiten zu beruflichen Qualifikationen, Geschlecht, Kenntnissen, Erfahrung und Fachwissen des Experten als Teil des Berichts über die Alterseinschätzung mitgeteilt? 18 BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE E.V. 8. Möglichkeiten der Beschwerde Um Rechtssicherheit für den Betroffenen und seinen Vertreter zu gewährleisten, sollte das Ergebnis einer Alterseinschätzung durch eine gerichtliche Beschwerdeinstanz überprüfbar sein. Da es sich bei der Alterseinschätzung um eine Tätigkeit einer Behörde handelt, sollte eine Beschwerde möglich sein und eine aufschiebende Wirkung haben. Die Person sollte Zugang zu einem Vertreter haben, der ihr im Beschwerdeverfahren hilft. Eine Beschwerde sollte auch möglich sein, wenn zwar eine Minderjährigkeit vorliegt, die betroffene Person aber dennoch die Alterseinschätzung für fehlerhaft hält. Die Entscheidung über die Alterseinschätzung sollte die betroffene Person schriftlich erhalten, zusammen mit einer Information über das Beschwerderecht, in einer Sprache , die sie versteht. Prüfliste Beschwerde ! Hat die betreffende Person ein schriftliches Exemplar des Ergebnisses/ der Entscheidung sowie ggf. andere Unterlagen, die zur Anfechtung der Entscheidung erforderlich sein könnten, erhalten? ! Haben die betreffende Person und ihr Vertreter kostenlos Rechts-und Verfahrensinformationen erhalten? ! Ist diese Information ihrem Alter, Verständnis und Reifestadium angemessen? ! Ist eine Beschwerde über die Alterseinschätzungsentscheidung für die betroffene Person zugänglich? ! Werden der Person und ihrem Vertreter im Falle einer Entscheidung die Gründe mitgeteilt? ! Wird der betreffenden Person und ihrem Vertreter im Falle einer negativen Entscheidung erklärt, wie sie angefochten werden kann? ! Erhält die Person in Fällen der Anfechtung oder Einlegung von Rechtsmitteln die Möglichkeit, sich zu äußern und wurde ihre Ansicht berücksichtigt? ! Wird die betreffende Person im Anfechtungsprozess von einem Vertreter unterstützt? ! Wird die betreffende Person bis zur endgültigen Entscheidung als Minderjähriger angesehen? 19ALTERSEINSCHÄTZUNG - VERFAHRENSGARANTIEN FÜR EINE KINDESWOHLGERECHTE PRAXIS 9. Übergang in die Volljährigkeit Eine Person, die infolge der Alterseinschätzung volljährig wird, muss über die Möglichkeiten der Unterstützung durch die Jugendhilfe und andere Hilfesysteme aufgeklärt werden. Junge Volljährige müssen insbesondere darüber aufgeklärt werden, dass sie die Möglichkeit haben, sich in allen Fragen an das Jugendamt zu wenden und Hilfen nach § 41 SGB VIII zu beantragen. Über diese Hilfen muss fachgerecht entschieden und beschieden werden. Prüfliste Übergangsstatus ! Ist die betreffende Person beim Erreichen des Übergangsstatus mit der Hilfe ihres Vertreters und entsprechend ihrer Reife ausreichend auf das vorbereitet, was geschehen wird, wenn sie das 18. Lebensjahr vollendet? ! Wurde die betreffende Person über ihre Rechte informiert, und wie sie die Entscheidung über das Alter anfechten kann, wenn sie den Übergangsstatus erreicht hat, aber die Ergebnisse über das Alter immer noch strittig sind? ! Wurde die betreffende Person darüber in Kenntnis gesetzt, dass und wie sie neue Informationen vorlegen kann? ! Haben die betreffende Person und ihr Vertreter rechts- und verfahrensbezogene Informationen kostenlos erhalten, in einer Sprache, die sie versteht? ! Wurde die betreffende Person in einer Art und Weise, die sie verstehen kann und die ihrem Alter und ihrer Reife angemessen ist, über weitere Formen der Beratung, Unterstützung und Hilfe informiert, insbesondere über die Möglichkeit, Hilfen für junge Volljährige zu beantragen? 20 BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE E.V. V. Literatur Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter (2014): Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Inobhutnahme, Clearingverfahren und Einleitung von Anschlussmaßnahmen. Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge/Separated Children in Europe Programme (2012): Statement of Good Practice: Standards für den Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, Karlsruhe, deutsche Übersetzung EASO (2013): Praxis der Altersbestimmung in Europa. DIJuF-Rechtsgutachten 09.11.2010, J 4.300 Sch, veröffentlicht in: JAmt 2010, S. 547-552. Münder, J./Meysen, T./Trenczek, T. (Hrsg) (2013). Frankfurter Kommentar SGB VIII. Kinder - und Jugendhilfe, 7. Aufl., Nomos, Baden-Baden. Prahl, Hans-Werner/Schroeter, Klaus (1996): Soziologie des Alters, Stuttgart. UNHCR (1997): „Richtlinien über allgemeine Grundsätze und Verfahren zur Behandlung asylsuchender unbegleiteter Minderjähriger“. UNHCR (2009): „Richtlinien zum Internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern im Zusammenhang mit Artikel 1 (A) 2 und 1 (F) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge,“ 22.12.2009, HCR/GIP/09/08. UNICEF (2011): Age assessment practices: a literature review & annotated bibliography. UN Ausschuss für die Rechte des Kindes (2005): General Comment No. 6. Treatment of Unaccompanied and Separated Children outside their Country of Origin, CRC/ GC/2005/6. Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. Paulsenstr. 55/56 12163 Berlin Tel.: 030 / 82 09 7 - 430 E-mail: info@b-umf.de Web: www.b-umf.de Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Freistaat Thüringen Ich frage die Landesregierung: Zu 1.: Zu 2.: Zu 3.: Zu 4.: Zu 5.: Zu 6.: Zu 7.: Zu 8.: Zu 9.: Zu 10.: Zu 11.: Zu 12.: Zu 13.: Alle Anlagen.pdf KA-3202- Anlage 1 KA-3202- Anlage 2 KA-3202- Anlage 3